Die Ewige Herrin herrschte in Güte und Milde und Gerechtigkeit über das Land. Sie kannte keine Rassenunterschiede und Landesgrenzen und zeigte, je nach Ort, ein anderes ihrer vielen Gesichter. Sie war und ist immer noch die Souveränität und Herrschaft des Landes. Wer sie schändet, schändet das Land. Wer sie beleidigt, beleidigt das Land. Wer sie verletzt, verletzt das Land. Priesterinnen dienten ihr und waren ihre Repräsentantinnen auf Erden. Eine jede hatte einen goldenen Kelch und bot den Wanderern Speis und Trank in Hülle und Fülle. Sie waren die Stimme der Göttin des Landes und taten ihren Willen kund. Doch König Amangons, der die Priesterinnen beschützen sollte nahm sich mit Gewalt eine der ihren, vergewaltigte sie und nahm ihren goldenen Kelch als Trophäe mit in sein Schloss. Viele seiner Ritter und auch andere Wanderer taten es dem König nach. Die Priesterinnen schöpften nie wieder Wasser aus ihren Quellen und verweigerten ihren Dienst. So wurde das einst blühende Königreich zu einer Wüste, dem Ödland, in dem kein Baum mehr Blätter trug und die Wasser nicht mehr flossen. In dieser freien Nacherzählung des Textes „Elucidation“, eines der inhaltlich frühesten aus dem keltischen Gralszyklus, begegnet uns eine Priesterschaft an Gralsträgerinnen die dem Wanderern von ihren Quellen zu trinken geben. Wasser wird als Symbol für das Leben selbst gesehen. Unser Planet besteht größten Teils aus Wasser, das Leben entstand im Wasser und auch wir Menschen wachsen im Wasser der Gebärmutter von einer Zelle zu einem Kind heran. Wasser ist nicht nur das Symbol der äußeren Fruchtbarkeit, sondern auch der spirituellen. In der Verweigerung des Dienstes der Quellpriesterinnen, zieht sich der Gral, das Füllhorn des spirituellen Wassers zurück und das innere Land vertrocknet. Die Vergewaltigung war kein einzelner Vorfall, denn viele Männer taten es dem König gleich und ahmten ihn nach. Sein Akt der Schmach an das Land war der Stein des Anstoßes.

Die Quellpriesterinnen sind die späteren Gralsträgerinnen, von denen es mehrere gibt. Die Gralsträgerin ist jene, die dem Mysterium des Grals am nächsten steht. Sie trägt es in ihren Händen, ist seine Bewahrerin. Keiner ist dem Gral näher als Sie, nicht einmal die wenigen Gralssieger, die es geschafft haben, die Gralskapelle zu erreichen und die entsprechende Frage zu stellen. Sie wird oft übersehen und ist doch der Schlüssel zu einem tieferen Verständnis des Grals, denn nur durch sie wird der Gral an uns herangetragen. Sie ist es der ihn darbietet. Manche Texte nennen den Namen der Gralsträgerin nicht. In anderen heißt sie Elaine oder Repanse de Schoye. Einige Texte sprechen von mehreren „Gralsjungfrauen“; so wird Repanse de Schoye, von 24 weiteren Frauen begleitet. Die Gralsträgerin könnte also auch ein Amt innerhalb einer Priesterschaft sein, vielleicht sogar die jeweilige Hohepriesterin selbst.

Eine ähnliche Parallele zum oberen Text zeigt sich auch in einer der Parzival-Geschichten: Der Hof König Artus’ ist wie gelähmt als Parzival auf Camelot erscheint. Ein roter Ritter hat soeben den Inhalt eines goldenen Bechers über die Königin geschüttet und ist mit dem Becher davon geritten. Parzival – der archetypische Narr und späterer Gralssieger -  macht es sich sogleich zur Aufgabe den Becher zurückzuholen. Die Königin ist niemand anderes als die Repräsentantin der Göttin des Landes am Hofe des Königs. Indirekt hat der rote Ritter die Herrin des Landes beleidigt. Eine Parallele zu Parzivals eigenem Verhalten, der vor seiner Ankunft am Hofe sich einer Frau gegenüber aufgedrängt hatte. Die Ähnlichkeit der beiden Gestalten zeigt sich auch darin, dass Parzival, nachdem er den roten Ritter besiegt hat, seine Rüstung anzieht und selbst zum Roten Ritter wird. Da er seine Herkunft nicht kennt, wird er auch am Hofe als „Roter Ritter“ bekannt. Den goldenen Becher lässt er durch einen Knappen zum Hof bringen. (Noch hat er die Bedeutung des goldenen Bechers nicht begriffen).
Rote Ritter erscheinen häufiger in den Artuslegenden und stehen meist für die Kraft der Elemente, die zuerst gemeistert (besiegt) werden muss.

Auf dem Gral erscheint jeweils eine Inschrift mit dem Namen des nächsten Gralssiegers. Die Gralsträgerin ist somit auch diejenige, die diese Inschrift als erstes Lesen kann. So ist sie die  Stimme des Grals und seine Botin. Das Reich der Gralsträgerin ist das Innere. Sie befindet sich in der Gralsburg. In ihrem außerweltlichen Aspekt taucht sie als Gralsbotin auf. Die Gralsbotinnen sind jene Frauen, die die Helden auf ihrem Weg begleiten, eine Queste anstacheln, oder wichtige Informationen liefern. Sie sind der aktive Teil der Priesterinnen des Grals und locken und führen die Helden in das abenteuerliche Land hinaus.

Die Polaren Aspekte der Gralspriesterinnen werden mythologisch und literarisch häufig in ihrem Äußeren widerspiegelt: Die Gralsträgerin ist rein, ohne Falsch und von makelloser und unübertroffener Schönheit. Die Gralsbotin hingegen zeigt uns ein hässliches Gesicht. Wir treffen sie unter anderem an als Cundrie, deren prachtvolle Kleidung ihre Hässlichkeit nicht zu verbergen vermag. Cundrie hat eine dunkle Haut und in manchen Texten trägt sie einen schwarzen Mantel. Andere Texte wiederum sprechen von einer Schwarzen Jungfrau, einer Hexe oder Zauberin, eines „Wilden Fräuleins“ oder von der Demoiselle Maldisant, einer Frau die Schlecht über andere spricht. Tatsächlich tut dies auch Cundrie und macht als erstes auf König Artus Versagen aufmerksam. Später ist sie aber auch jene die Parzivals Ahnenlinie nennt und ihn mit seinem Stamm verbindet. Dieser Aspekt bringt sie in Verbindung mit einer Initiation in der häufiger eine Verbindung zu den Ahnen des Stammes hergestellt wird. Parzival verliebt und verbindet sich später mit Blanchefleur, deren Name weiße Blume bedeutet, und einen Antipol zur „schwarzen“ Botin Cundrie bildet. Später werden es tatsächlich 3 Tropfen roten Blutes sein, welche Parzival an Blanchefleur erinnern. Bei Wolfram heißt Parzivals Herrin Kondwiramur, was ebenfalls ein Hinweis darauf ist, dass es sich um die gleiche Frau handelt.

Der Polare Aspekt der hässlichen (Alten) und hübschen Frau zeigt sich in vielen Mythologien. Die keltische Mythologie strotzt nur so von diesem Göttinnenarchetypus. Eriu, die Göttin der Hoheitsherrschaft Irlands konnte sowohl wunderschön, als auch hässlich erscheinen. Ebenso kann sich Isis als wunderschön zeigen oder in ihrem dunklen Aspekt als Schwarze Isis, manchmal mit Nephtys gleichgesetzt. Auch die schwarze Madonna ist ein Nachklan jenes dunklen Aspektes der Göttin. Während Ginevra als die Frühlingsbraut hell erscheint, zeigt sich auch Morgane in vielen Artuslegenden als eine dunkle Göttin. Die Göttin und Urmutter an sich ist ein Symbol mit zwei Gesichtern. Denn sie ist das Tor zum Leben, das allerdings in zwei Richtungen betreten werden kann. Der Tod des vorherigen Lebens ist immer eine Geburt in das nächste. Tod und Geburt sind aufs intimste miteinander verknüpft wie auch die nährende und die verschlinge Mutter, der Hathor- Sekhmet Aspekt der Göttin. Dieser Aspekt der Göttin wird exemplarisch in Lady Ragnell gezeigt, die sich tagsüber als hässlich zeigt und nachts wunderschön. Indem Gawain ihr die Entscheidung überlässt zu welcher Tageszeit sie schön und zu welcher hässlich sein möchte, übergibt er ihr in Liebe die Hoheitsherrschaft über sich selbst und nimmt es sich nicht einfach mit Gewalt. So ist der Fluch gebrochen und Lady Ragnell bleibt in ihrem Frühlingsbrautaspekt. Auch sie ist ein Aspekt der Göttin des Landes und in einigen frühen Gralslegenden war auch Gawain ein Gralssieger und Ritter der Göttin. Der Vergleich mit Lady Ragnell und der Göttin des Landes kann uns viel über den Umgang mit dieser Göttin lehren. Es ist häufiger der dunkle Aspekt der Göttin der als Initiator wirkt. Peredur, Parzivals Pendant im Mabinogion, wird von neun „Hexen“ ausgebildet. Seine letzte Aufgabe ist es seine Lehrerin zu schlagen. Auf diese Weise wird das „Handwerk“ mehr als alles andere geehrt: Das Ziel eines Meisters seiner Art ist es einen Schüler so auszubilden, dass dieser in der Lage ist den Meister selbst zu übertreffen um die Vervollkommnung des Werkes voranzutreiben. Wie die Morrighan, die große, dunkle Königin des Landes, den Sieg der Tuatha de Danaan dem Land verkündet, verkündet Cundrie die Aufgabe Parzivals nach dem Gral zu suchen und fungiert wiederum als die Stimme der Göttin des Landes. Das Ödland regiert und entsprechend zeigt die Herrin des Landes kein freundliches Gesicht.  Erst wenn die Aufgabe erfüllt wurde, kann die Herrin des Landes, wie Lady Ragnell, vollständig zu ihrem Lichten selbst werden. 

Parzival begegnet später noch einem anderen Aspekt der Herrin des Landes, der roten Sternenfrau. Sie trägt ein rotes Gewand mit funkelnden Sternen verziert und steigt aus dem Wasser (der Anderswelt) empor, als er ihr Schachbrett ins Wasser werfen will. Rot symbolisch für Blut, und ausgerechnet drei Blutstropfen auf weißem Schnee waren es, welche Parzival an Blanchefleur erinnerten und in eine „Liebestrance“ verfallen ließen. Auf die Aufgabe der Sternenfrau einzugehen würde hier den Rahmen sprengen. Wichtig ist, dass sie im Auftrag der Gralsträgerin handelt und ihre Aufgabe einen weiteren initiatorischen Aspekt darstellt und auch hier eine „Pucelle Malaire“, ein Schattenaspekt die Aufgabe erschwert und den Helden auf die Probe stellt. 

Die helle Blanchefleuer, die dunkle Cundrie und die rote Sternenfrau vereinen symbolisch die drei Farben der Göttin in sich und zeigen so auf einer anderen Ebene, dass sie alle die Herrin des Landes verkörpern. Die Farben begegnen uns auch in Didot’s Perceval, worin die hässliche Frau von dunkler Erscheinung Rosete li Bloie, die Blonde-Rote genannt wird. 

Die Frage nach dem Gral muss in den meisten Texten gestellt werden um die fruchtbaren und heilenden Wasser zu befreien und das (innere) Land wieder zum erblühen zu bringen. Wie die Heldengeschichten allerdings zeigen ist dies kein einfacher Weg und von den vielen Helden die ihn gegangen sind, haben nur wenige den Weg zur Gralsburg gefunden, wurden in sie eingelassen und haben durch das Stellen der Frage die Verbindung zur Quelle des Lebens wieder geöffnet und das Wasser fließen lassen. Spirituell ist der Gral das Gefäß in dem das Göttliche einfließt. Wir müssen zum Gral werden und die Gralsträgerin ist jene, die uns dahin tragen wird, jene mit der sich der Heros in der heiligen Hochzeit vereinigen muss. Im weltlichen bringt sie den Kelch der Fruchtbarkeit des Landes den Bewohnern des Landes dar. War es eine gewaltsame Vereinigung, die den Gral entrückte, so kann es nur eine in Liebe sein, die ihn wieder in die Welt zurück bringt. 

Mehrere Gralslegenden haben sich eine Erinnerung an eine Heilige Hochzeit bewahrt und die Gralsträgerin wird manchmal die Gemahlin des Gralssiegers wie Cundrie-Kondwiramur-Blanchefleur oder von ihm verheiratet wie Repanse. Die Hinweise auf eine wahrscheinlich Ursprüngliche Heilige Hochzeit zwischen Gralsträgerin und Gralssieger sind viele: So ist der Mantel der Gralsbotin mit Tauben geschmückt, ein Symbol was den Rittern sofort ihre Verbindung zum Gral zeigt. Tauben sind seit ältester Zeit das Symbol von Liebesgöttinnen wie Aphrodite oder Astarte, deren weiteres Totemtier ein Fisch ist. Nicht nur unzählige Tauben befinden sich in ihrem Tempeln, sondern auch heilige Fische. Rituell gegessen nahmen die Priester so am Fleisch ihrer Göttin teil. R. Eisler geht davon aus, dass das traditionelle Fischmahl der Juden am Freitag, dem Tag der Venus, auf diesen Brauch zurückzuführen ist. Wieder ist aber die Verbindung zu Liebesgöttinnen hergestellt, deren Kult erwiesenermaßen eine Heilige Hochzeit beinhaltet. Einen weiteren Hinweis bietet der Fischerkönig selbst, der in manchen Quellen Tod, in anderen verwundet ist. Er ist sowohl mit dem Helden der Geschichte, als auch mit der Gralsträgerin Verwandt. Jessie Weston zeigt schlüssig auf, dass der Gralskönig in der ursprünglichen Form Tod ist und wie viele Vegetationsgötter (Attis, Adonis, Tammuz) für die Vegetation und das Ödland steht. Der Gralssieger, der beste der Ritter, nimmt später seinen Platz ein. Der Held muss sich mit der Göttin des Landes verbinden und ersetzt den momentanen Herrscher des Landes. Vegetationsgötter wie Adonis oder Tammuz beide mit Liebesgöttinnen vom Aphrodite – Ishtar Typ liiert waren. Auf der physischen Ebene deutet die Gralslegende auf einen Fruchtbarkeitsritus hin. Auf der spirituellen Ebene wird die Gralsträgerin zur Schechinah, mit deren Vereinigung es überhaupt möglich wird zum Gefäß zu werden, der das spirituelle Wasser der Quelle überhaupt erst fassen kann. Die Gralsträgerin selbst verschmilzt mit dem Gral. Sie, die Göttin des Landes war der erste Kelch, das erste aufnehmende Prinzip. Um vom Göttlichen gefüllt zu werden und es in uns zu spüren, müssen wir zum Kelch werden können. Diese Aufgabe kann allerdings nur bewältigt werden, wenn wir den Roten Ritter der Elementarkräfte in uns balancieren können, die Aufgaben der schattenhaft dunklen Prüferin  bestehen und uns mit der Gralsträgerin vereinen um schließlich zum göttlichen Selbst zu erwachen. So lautet die Frage in den frühesten Gralstexten auch nicht „Wem dient der Gral?“, sondern „Was ist der Gral?“.

 

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Quellenauswahl in alphabetischer Reihenfolge:

Jung, Emma und Franz, Marie-Louise von: Die Graalslegende in psychologischer Sicht

Knight, Gareth: The Secret Tradition in Arthurain Legend

Matthews, John : Der Gral

Matthews, John and Caitlin: Hallowquest. The Arthurian Tarot Course

Matthews, John and Caitlin: Ladies of the Lake

Weston, Jessie L.: From Ritual to romance

 

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