Donnerstag 20:00 Uhr
Kennt sie nicht jeder von uns? Verabscheuen wir sie nicht sogar manchmal? Sie begegnen uns mit einem freudigen: „Gott wird dir vergeben, halleluja!“ Nein, die sind meist okay … die von heute morgen jedenfalls …
„Hallo, Grüß Dich. Schau mal ich komme gerade aus der Tantra-Yoga-Fitness Oase. Dort habe ich Gabriel kennen gelernt, der ist ja so spirituell. Der hat mir erklärt, dass mein Wurzelchakra,“ derjenige zeigt auf seine Füße, „blockiert ist und ich deswegen beim Naseputzen husten muss!“
Oh, nein der Kerl vom Haus nebenan. Ich dachte schon er sei schwul. Nicht das ich was gegen Schwule hätte ... aber es kommt schlimmer. Letzte Woche als ich in Robe zum Auto bin hat er mir aus dem Fenster zugewunken. Böser Fehler übrigens, hätte mich erst im Wald umziehen sollen.
Außer einem Eichhörnchen hätte mich da zumindest keiner gesehen.
„Du bist doch auch auf dem Alten Weg!“: spricht er, „Ich wollte mich schon immer mal mit Gleichgesinnten austauschen. Ich hab gehört hier im Ort gibt es eine Gruppe mit offenen Treffen. Wollen wir da mal hingehen?“
Umgehauen nicht von dem schweren Parfüm, was um ihn schwebt, sondern von dem Redeschwall, bleibe ich stehen. Schwups, hab ich was in der Hand.
„Du bist mir schon immer sympathisch gewesen, lass uns da zusammen hingehen, ich hol dich ab. Samstag um 15 Uhr. CU“
Ich folge dem freudig wackelnden Entengang meines Nachbarn hinterher bis er hinter der Tür verschwunden ist. Dann entdecke in meinen Händen das Grauen. Ein Schütteln ergreift mich: „Chakra – Pur, die Energy in dir Selbst“ von Calshutra Kondolensa Vivaldi Brown und „Karmische Bänder Bd.1 Reinkarnation und die Fähigkeit anhand der Aura frühere Leben zu identifizieren“ von Martina Uranus Fortis.
In Gedanken: "EIN ESOOOOOOO! Aaaahhh!"
Schwankend in meiner Wohnung angekommen, mache ich eine Erdmeditation um mich wieder zu fangen. Leider kommt immer wieder der Gedanke an das Wurzelchakra hoch. Mist … dabei steh ich doch.
Nach einem Schnaps geht’s dann. Was soll ich tun? Vielleicht vergisst er es ja.
Donnerstag 23:00 Uhr
Mist wieder bei der Abendmeditation weggepennt. Ich sollte Merlin nicht in einer Herde Schafe visualisieren. (Ergo: Ersetze Schafe durch Ziegen)
Freitag 11:00 Uhr
Nachdem ich ausgepennt habe und mich nach meiner Morgenmeditation gestärkt fühle, denke ich darüber nach was passiert, wenn Nachbar Paule wirklich vorbeikommt. Eigentlich sind Eso’s ganz nett. Sieht man mal von ihrer oberflächlichen Art mit Magie rumzupfuschen ab. Ich könnte mir die Gruppe ja mal ansehen, neue Erfahrungen, Horizont erweitern und so. Also greife ich, nachdem ich einen Schutzzauber um meine Hände gelegt habe, zu den Büchern.
Das Chakra Buch erscheint nach kurzer Zeit als brauchbar, doch mangels Erfahrung wurde wohl das ein oder andere falsch verstanden. Lag vielleicht auch am Yogatrainer ... ist er vielleicht doch schwul? Hat wohl mehr auf Hintern als auf Worte geachtet … verträumte Pause
Ist mir bei dem Ritual mit der süßen Blonden auch passiert! Leider hat sie kein Wort mehr mit mir geredet nachdem ich versuchte, die Gott und Göttinnen Vereinigung real durchzuführen. Die Finger sah man noch 3 Tage später auf meinem Gesicht (Ergo: nur noch Online-Initationen).
Freitag 21:00 Uhr
Selbst das WM Finale könnte mich nicht davon abhalten dieses Reinkarnationsbuch aus der Hand zu legen. Wenn man glaubt, dass Bulli oder der Mittermeier ein Hit sind, dann sollte jeder das Buch von Frau Fortis lesen. Die hat echt in die Trickkiste gegriffen. Meine Augen, schon rot vom Heulen (Lachtränen), erlauben es mir nur mit Mühe weiter zu lesen.
Abschnitt 2 Seite 14 Überschrift „Auren und die Wiedergeburt - oder was du sein könntest.“
Der Reinkarnierte Engel hat blonde Haare, ein ausgeprägtes Helfersyndrom und ist daher ehe-selbstzerstörerisch, mindestens 2 Mal geschieden und gerne untergewichtig. Juchhei, meine Schwester ist ein Engel. Ja zugegeben nur ein wiedergeborener, aber ihre Haare sind ja auch nur gefärbt. Vielleicht hält’s daher auch kein Kerl länger als 3 Jahre mit ihr aus, vor allem wenn man bedenkt das schon Dogma präsent gemacht hat das Engel keine Fortpflanzungsorgane besitzen.
Um die Ecke wohnt eine ruhige nette, recht füllige Mittdreissigerin, Frau McFerson, mit roten Locken und grün-braunen Klamotten Look. Eindeutige Beschreibung! Die muss eine Waldelfe sein, die erkennt man nämlich an der irisch-keltischen Abstammung oder den authentisch roten Haaren. Leider wurde nicht beschrieben, ob das Überwicht die Spektralfarben der Aura bricht und sie doch nicht eher ein reinkarnierter Kobold ist.
S. 19 Hier kommt der entscheidende Punkt an dem ich sage, auf dieses Treffen musst du gehen:
Edding! Gelb gemarkert. Er, Eso Paul, ist zierlich gebaut, 167cm groß und hat leichte Mandelaugen. Im Buch liegt bei der Seite auch ein Foto von ihm, ja eins der tollen Auren- Schnappschuss Foto’s vom Eso-Jahrmarkt. Seine Aura ist gestreift, zumindest wurden die Linien nachgezogen, kann auch sein das die Digicam zu pixelig war.
Der Typ ist also ein reinkarnierter Außerirdischer! Zumindest laut Buch.
Diese Beschreibung könnte aber auch auf seine japanische Mutter passen, oder auf den Rest seiner Verwandtschaft im Fernen Osten. Doch das Paradoxon erste Klasse ist: „Wie kann ein Mensch oder ein Außerirdischer nach der Wiedergeburt außerirdisch sein, wenn er doch irdisch geboren wurde?“ Mein Lehrer, Ethik Stufe 12, meinte immer wenn ich quatschte „Alea iacta est“, oder so. Dann wusste ich wie Hohecker in 7 Tage sieben Köpfe, dass ich raus war … mpf … Klassenbucheintrag.
Freitag 23:00 Uhr
Die Abendmeditation ging voll in die Hose. Als Merlin durch die Pforte hinab ging in die Gärten waren da schon die Ziegen und ich nicht eingepennt. Allerdings fingen die Biester jedes Mal an Merlins Klamotten anzufressen. Ich muss dringend mit meinem Lehrer der OBOD telefonieren.
Samstag 14:00 Uhr
Eso Paul steht vor der Tür. Nachdem ich versucht habe mit ihm die Vorzüge und Möglichkeiten der neuen Ideen der Farrar’s für Wicca zu diskutieren, sind wir dann schnell zum Thema „Lichtkreis“ Treffen gekommen.
„Lichtkreis?“ Als ich das hörte blieb mir fast die Luft weg. Der Bauch tat vom lachen gestern immer noch weh. „Lichtkreis?“ - hört sich fast an wie Lichtschwert. Ich versuchte die Grunzer als Schluckauf zu tarnen. Also auf geht’s.
Eigentlich waren wir zu früh los, dachte ich, aber Urlanda, die „Gruppenleiterin“ war auch schon vor Ort und knöpfte mir 3 fuffzig ab, da sie ja soviel vorbereitet hätte. Mmh, für 4 Euro hätte ich ins Kino gehen können, doch ihr Lila Haarband, das violette Top aus Batikbaumwollgewebe und der Faltenrock in .. na? Lila!! waren Ausblick genug um auf einen amüsanten Nachmittag zu hoffen. Es kamen noch Gundelmann und Isolde dazu, nebst Rüdiger, dem Rohkoster, der nen halben Korb Werbeflyer für seine neue Wunderdiät verteilte. „Iss Karotten roh und du kannst wieder sehen!“ Seh ich dann schärfer, dass dein „Kochbuch“ in dem man nix wirklich Kochen muss 59 Mäuse kostet? Ne danke, dann ess ich lieber Schokolade!
Echt aufdringlich! Dann legte Urlanda los. Sie hatte einen dieser tollen uralt Aufnahme -Kassettenrekorder dabei, auf den sie ein Kapitel von „Kassandra, die Tochter des weissen Zaren“ gesprochen hatte. Wenn sie’s vorlese, könne sie es nicht selber genießen.
Kein Wunder, da kein Satz fehlerfrei und ohne zu stottern aus dem Gerät dröhnte. Dann wurden Zettel verteilt. „Ah, außer den Energiekosten für die Aufnahme hab ich also ihren Papierverbrauch der nächsten 12 Jahre gedeckt.“
15:30 Uhr
Einfache magische Arbeit: was loswerden. Eso Paule war ganz aufgeregt und erzählte gerade von seiner schweren Kindheit und dem Darmproblem, das er ständig mit sich rum trägt. Flattulenzia monstrosis oder so. Bettdeckenheber halt.
Das schlechte auf die eine Zettelseite - und das was er stattdessen möchte auf die andere Seite, und schwups ins Licht geschickt. Schulden weg / Millionengewinnen. Und anschließend abgefackelt. Auf gut magisch: Vorschulkurs für die Kinder des traditionellen Wicca Coven um die Ecke.
Doch dann wurde Isolde ruhig und lehnte sich zurück. „Licht,“ brach es aus ihr heraus, „ich sehe Licht in dieser Runde … lasst die Engelskarten fragen, wer es in sich trägt.“ Kartenlegen halte ich manchmal schon für Kaffeesatz lesen, aber Ein Bild von nem Blonden Typen soll meine spirituellen Fragen beantworten?
Da der frische Kaffee heiß war, verbrannte ich mir die Zunge. Es folgte eine meiner Grunzattacken. Paule erzählte den anderen, dass ich sicher ne chronische Erkältung hätte und war von dem Zeitpunkt in der Runde als „Sehend“ erkannt. Dass er die richtige Engelskarte zog, besorgte den Rest.
Ich, vertieft ins Linksrumrühren meines Kaffees …“Stopp!“ rief Urlanda, „Rühr doch mal andersrum!“ - „Nein, nein das ist schon okay so.“ Ihre weitere Bemerkung folgte prompt: „Oh, hihi, du willst was los werden, du kennst dich aus“ tangierte mich nur noch minimal. Die Zunge schmerzte noch zu sehr. Ich war hochkonzentriert am Rühren: „weg mit den Vorurteilen, weg mit den Vorurteilen ……“
Paule hingegen zeigte allen sein Aurafoto. Damit war er der Hit des Tages und Gewinner des Ausrichtens der Earthday Party 2004 wo sich alle zum Licht-Senden treffen. Ich konnte mich mit einem: „Nein, wir gehen durch den Wald und sammeln Müll“ aus der Affaire ziehen.
Freitag 16:30 Uhr
Nach soviel Licht wankte ich ziemlich verstrahlt nach Hause. Ins Solarium muss ich die nächsten Wochen nicht mehr gehen.
Samstag 23:00 Uhr
Abendmeditation weggelassen. Nach dem Augenschließen tauchte nur ne 100 Watt Glühbirne und gleißendes Licht auf. (Ergo: Muss telefonieren! Ob die Oak-Gards mich schützen können?)
Sonntag 10:00 Uhr
Einen neuen Freund fürs Leben gefunden, steht Paule vor der Tür mit Karotten und ner Tüte Aufbackbrötchen in der Hand. Es wird Zeit ihn beim Frühstück aufzuklären. Sichtlich locker und immer noch keinen blassen Dunst was ich von einer Naturreligion erwarte und wie ich sie lebe, verabschiedet er sich nach einer Stunde: „So unter uns Erleuchteten … schon toll das wir uns getroffen haben.
In Gedanken: „AAaaahhhh, ich bin nicht Erleuchtet!“
„Ja ja, ganz nett, bis demnächst ich fahr morgen in Urlaub.“ – für recht lange und danach mache ich zum abnehmenden Mond das Eso-Abwehr-sehr-große-bannende-Pentagramm-Ritual.
Cu all and greetz to the Blessed Bee
SeaLoo
Artikel erschienen in der Hex & Co. Lughnasadh 2004