Drucken
Als sie zwölf Jahre alt war, fing sie an, einer alten Frau im Dorf zu helfen. Sie war eine reiche Witwe und im ganzen Dorf als Hexe verschrien. Ihr Name war Olinga, doch alle nannten sie nur die Hexe. Olinga war vor vielen Jahren von den Inseln gekommen. Sie hatte einen wohlhabenden Fürsten geheiratet und als er starb zog sie ins Dorf. Sie hatte auch Ardonias Mutter bei der Geburt ihrer Tochter geholfen. Man munkelte, dass sie eine Priesterin der Göttin gewesen sei. Ardonia arbeitete gerne bei Olinga, denn sie erzählte ihr immer von den Hügeln ihrer Heimat.

 

Eines Tages erzählte sie Ardonia auch von ihrem früheren Leben. Das Mädchen erfuhr einiges über die Schwesternschaft, in der die Alte früher gelebt hatte, und je mehr sie hörte, desto neugieriger wurde sie. Das Ganze faszinierte Ardonia so sehr, dass sie an den folgenden Tagen immer wieder fragte, ob es die Schwesternschaft noch gab. Sie träumte jede Nacht davon, selbst eine Priesterin der Göttin zu sein. Ihre Eltern hatten davon noch nichts mitbekommen, denn Olinga hatte ihr verboten, irgendjemandem etwas von der Schwesternschaft auf den Inseln zu erzählen. Das Verbot weckte Ardonias Interesse nur noch mehr. Irgendwann sagte Olinga zu ihr: „Wenn es wirklich dein Wunsch ist, die Mysterien der Göttin zu lernen, so wird Sie dir alles beibringen. Ich bin zu alt dazu. Wer weiß, wie lange ich noch lebe, Gehe beim nächsten Vollmond auf einen Hügel und sei einfach still. Hör in dich, denn sie ist in dir, seit Anbeginn der Zeit. Sie wird zu dir sprechen, wenn du es willst.“

Am folgenden Abend ging Ardonia auf den Hügel, an dessen Fuße das Haus ihrer Eltern lag. Sie setzte sich und atmete tief durch. Es war gar nicht leicht, still da zu sitzen. Es war windig, sie fror und hatte den Kopf voller Bedenken. Sie versuchte ruhig zu atmen und wartete ab. Irgendwann spürte sie, dass da noch etwas anderes auf diesem Hügel war. Es war, als würde ihr jemand gegenüber sitzen und sie anstarren. Sie konzentrierte sich auf dieses Gefühl und tatsächlich verstärkte es sich immer mehr. Obwohl ihr das ganze nicht geheuer war, stand sie nicht auf und rannte weg. Sie blieb still sitzen und hörte zu. Auf einmal spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter. Eine Stimme sagte: „Schön, dich hier zu sehen, meine Tochter. Ich weiß, weswegen du hier bist. Du wolltest mich und meine Mysterien kennen lernen und hier bin ich. Und das ist auch schon das Erste, was du nie vergessen darfst: Wenn du dir etwas wirklich wünschst und es dich glücklich macht, wird es in Erfüllung gehen. Manchmal wirst du vielleicht Zweifel haben, warum etwas so geschieht, wie es geschieht, doch glaube mir, es hat alles seinen Grund und seinen festen Zeitpunkt. Und am Ende wendet sich alle zum Guten. Das Einzige was du musst, ist lieben und vertrauen. Merk dir das.“ Und das war das erste Mal, dass die Göttin sich Ardonia zeigte.

Sie erzählte Olinga von dieser Begegnung und die Alte lächelte nur. Ardonia ging von nun an immer zu Vollmond auf den Hügel und suchte nach der Göttin. Nicht jedes Mal erschien sie, doch jedes Mal wenn sie kam, war Ardonia von Glück und Liebe erfasst. Diese Liebe war es, die sie weiterleben ließ, nachdem ihre Eltern gestorben waren. Als ihre Mutter sehr krank wurde, weinte Ardonia fast jede Woche, Sie liebte ihre Mutter und wollte nicht, dass sie stirbt. Doch sie konnte es nicht verhindern. Als dann wenige Tage später auch ihr Vater starb, dachte sie, sie würde vor Kummer und Schmerz vergehen. Sie fühlte, wie das Leid sie auffraß und an ihrem Herzen nagte. Sie weinte bittere Tränen und Olinga versuchte sie zu trösten, doch sie hatte nicht die genügende Kraft, Als es immer schlimmer wurde, bat sie die Göttin, Ardonia zu trösten. Von dieser Bitte an, erschien die Göttin in Ardonias Träumen, sprach mit ihr, nahm sie in den Arm und gab ihr Kraft und neuen Lebensmut. Nach ein paar Wochen ging es Ardonia wieder besser und sie konnte wieder arbeiten. Die ganze Zeit der Trauer lang hatte Olinga sie versorgt. Sie behandelte Ardonia wie ihre Tochter.

 

Eines Tages kam ein junger Mann ins Dorf, der Ardonia sofort gefiel. Er war ungefähr in ihrem Alter und wohnte von nun an bei Olinga, denn er war ihr Neffe. Ardonia sah ihn jeden Tag und verliebte sich in ihn. Er behandelte sie zwar höflich, schenkte ihr aber ansonsten kein bisschen Beachtung.  Sie liebte es, in seiner Nähe zu sein und verfolgte ihn so den ganzen Tag. Irgendwann machte er sich einen Spaß daraus, sie mit ihrem Verhalten zu necken. Das verletzte Ardonia sehr, denn er bedeutete ihr sehr viel. Wie er gab es noch viele, die sie liebte, die ihr aber kein bisschen Beachtung schenkten. So zog sie sich immer mehr zurück und ließ nur noch die Göttin und Olinga an sich. Die Alte merkte das und erzählte ihr vom Gefährten der Göttin. Er würde ihr die Liebe geben, die sie bräuchte.

 

Also begann Ardonia den Gehörnten zu suchen. Die Begegnungen mit ihm offenbarten ihr eine neue Welt und ihr wurde immer bewusster, was Liebe wirklich bedeutet. Liebe ist nicht selbstsüchtig. Liebe will geben, nicht nehmen. Wenn man liebt, ist man vollkommen. Als sie diese bedingungslose Liebe zu allen Dingen und Wesen erkannt hatte, fühlte sie auch keine Abneigung gegen die, die sie enttäuscht hatten. Sie konnte wieder mit dem Neffen der Alten zusammen sitzen ohne ihm nach zu trauern. Sie war glücklich, auch wenn vieles nicht vollkommen war. Sie arbeitete mit Liebe und alles gelang ihr. Der Neffe hatte diese Veränderung bemerkt und sah Ardonia in einem völlig neuen Licht. Er verliebte sich in Ardonia. Die beiden wurden ein Paar und trafen sich immer öfter bei den alten Eichen. Der Junge verstand jedoch nicht, warum Ardonia immer nur in seinen Armen liegen wollte. Er wollte sie küssen, liebkosen, doch Ardonia entwandte sich jedesmal seinen Liebkosungen. Eines Tages stellte er sie zur Rede. Auf seine Frage hin lächelte sie und sagte: „Du musst verstehen, ich brauche nur deine Nähe um Kraft zu schöpfen, um in diese kalten Welt zu leben. Ich genieße deine Wärme. Deine Umarmungen geben mir mehr, als es tausend Küsse könnten. Versteh mich nicht falsch, ich mag deine Küsse und Liebkosungen, doch im Moment bin ich nicht bereit dafür. Warte, mein Schatz, Warte.“ Und er wartete, wie sie ihm sagte und eines Tages küsste sie ihn voller Leidenschaft und er wusste, dass sich das Warten gelohnt hatte.

 

So lebten die beide lange in dem kleinen Dorf, bis sie eines Tages schwer krank wurde. Niemand konnte ihr helfen und sie starb. Doch bevor sie starb, sagte sie zu ihm: „Auch wenn ich jetzt nicht mehr da bin, so lebe ich doch in dir weiter und in jeder Pflanze und jedem Wesen auf dieser Welt. Weine nicht um mich. Ich bin immer für dich da. Und wenn du einsam und allein bist, so denk an mich und ich werde da sein. Ich liebe dich.“ Er antwortete: „Du bist meine Göttin, wenn ich dich brauche, wirst du da sein, das weiß ich. Du bist das größte Wunder, dass mir je begegnet ist. Du hast mir die Liebe gezeigt, die alles umfassende und bedingungslose Liebe.  Du hast mich zu einem Menschen gemacht. Wenn du nicht die Göttin bist, wer dann? Ich liebe dich.“ Das waren die letzten Worte, die sie miteinander wechselten. Dann schlief sie ruhig ein. Es waren schwere Zeiten für ihn. Doch er lebte weiter. Jedesmal, wenn er einsam und allein war, besuchte sie ihn in seinen Träumen und gab ihm Kraft durch eine Umarmung.

Es war ein kalter Winter, in dem er gestorben ist. Er war nicht sehr hübsch, doch auch nicht hässlich. Er war nicht überaus klug doch auch nicht dumm. Er konnte nichts außerordentlich gut, doch beherrschte alles so, dass er leben konnte. Er war äußerlich nichts Besonderes, doch er konnte lieben, bedingungslos lieben, und das machte ihn zu etwas besonderem.

 

Kurzbiographie von Imgaerwen:
"Imgaerwen (Jahrgang 1987) kommt aus der Nähe von Dresden und ist seit 2000 auf dem alten Pfad unterwegs. In ihrer Freizeit widmet sie sich der Natur und den schönen Künsten"

Alle Rechte bleiben der Autorin Imgaerwen Nraca ÄT  We b  Punkt d  e vorbehalten.
Weiterverbreitung nur mit Nennung und Einverständnis der Autorin.

Anmelden