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Nadine lag in ihrem Bett und weinte.

Sie hörte, wie ihr Vater im Wohnzimmer den Fernseher lauter stellte.

Gleich wird er wieder zu mir kommen, dachte sie. Er wird seine schmierigen Hände benutzen, um mich zu berühren. Und ich werde wieder seinem nach billigem Fusel riechenden Atem ertragen müssen, wenn er mich küsst. Wie ich das hasse!!!

Die Tür ihres Kinderzimmers öffnete sich, und die mächtige Gestalt eines bärtigen; und schlampig in Jeans und T-Shirt gekleideten breitschultrigen Mannes erschien im Türrahmen.

„Na, mein kleiner Liebling“, sagte er anzüglich mit einer breiten Baritonstimme. „Hast du auch so eine große Lust auf mich, wie ich auf dich?“

Nein, aber wenn ich das sage, schlägst du mich und Mama wieder, also sage ich das, was du hören willst.

„Ja, Papa“, sagte sie.

Grinsend ging die Gestalt auf das kleine Mädchen zu.

„Ich finde, dass du mit deinen acht Jahren schon sehr reif für dein Alter bist, Nadine “, sagte der Mann, und begann, seine Tochter zu küssen.

Nadine blickte durch die geöffnete Tür.

Sie sah ihre Mutter.

Die saß auf der Couch, trank ihren Schnaps und blickte auf den Fernseher.

Sie konnte nicht sehen, wie ihre Mutter weinte, als ihr Vater sie wieder einmal vergewaltigte.

Ein Blick in ihren Kühlschrank zeigte Nora, dass sie sich anziehen, und in den Supermarkt um die Ecke gehen musste. Außer zwei einsamen Jogurtbechern, deren Verfallsdatum leicht überschritten waren, lag nur noch eine einsame Karotte und ein kleines Stück Edamer im

Kühlschrank.

Sie ging zu ihrem Schuhschrank, und wählte ein Paar alte Slipper aus, die sie wegen ihrer Bequemlichkeit so liebte. Außerdem passten sie gut zu ihrem schwarzen Rock und ihrer weißen Spitzenbluse die sie sich angezogen hatte. Sie gaben ihr so etwas feminines, etwas, was sie, wie sie spürte, im Moment am meisten brauchen würde.

Seit der Affäre mit Anna spürte sie, das sie nicht wusste, ob sie Fisch oder Fleisch war!

Sie wusste, das sie Anna liebte, auch ihre Seele liebte, aber sie wusste nicht, ob sie diese Liebe zu Anna auch leben wollte, überhaupt leben konnte.

Besonders, seit sie durch ihr letztes überlebtes Abenteuer mit den Dienern Hanims, etwas über sich und ihre Mutter erfahren hatte, von dem sie noch nicht wusste, wie sich das auf ihr Leben auswirken würde.

Sie nahm ihre Geldbörse aus dem Küchenschrank, sah nach, ob sie noch genügend Geld bei sich hatte, und steckte die Börse in ihren langen roten Trenchcoat, den sie anzog. Dann verließ sie ihre Wohnung, nachdem sie sich ängstlich umgesehen hatte.

Sie fühlte sich nicht mehr in ihrer Wohngegend sicher, seit Anna und Gerlinde ihr erzählt hatten, wie sie von den Dienern des Dämonen gefangen und verschleppt wurden. Bei Anna war es ein vermeintlicher Nachbar, der seit Monaten in ihrer Nähe wohnte, und den sie vom Sehen her kannte.

Was wäre, wenn plötzlich einer meiner Nachbarn sich als Diener eines Dämons entpuppen würde, überlegte sie, und eine innere Furcht umgab sie, die sie etwas lähmte? Was, wenn mein eigener Vater ein Dämon war, wie Nick mir sagte?

Sie wusste nicht, ob es die Wahrheit oder eine Lüge war, die dazu diente, sie zu verunsichern?

Aber etwas, was tief in ihrem Herzen vergraben war, sagte ihr, das Nick, der sie so oft belogen und betrogen hatte,  diesmal die Wahrheit gesagt hatte.

Ich bin also die Tochter eines Dämons, dachte sie. Eines der Wesen, die uns vernichten wollen, und die wir mit all unserem Wissen und all unserem Können versuchen, zu besiegen.

Ich finde, dass entbehrt nicht einer gewissen Ironie! Ich, die gegen Dämonen zu Felde zieht, und sie wie die Pest hasst, weil sie meine Mutter umbrachten, ist selbst zur Hälfte dämonisch!

Sie überquerte die breite Straße, und ging in ihr Lebensmittelgeschäft, um einzukaufen.

Der Laden war brechend voll, selten zu dieser Uhrzeit. Schnell fand sie das, was sie brauchte, um ein schmackhaftes Frühstück, ein leckeres Mittagessen, ihr selbstgemachtes Eis, und einen leichten Snack zum Abendbrot herrichten zu können. Sie warf alles in ihren Einkaufswagen, dessen Räder sanft im Takt ihrer Bewegungen quietschten. Mit raschen Schritten fuhr sie zur Kasse, wo bereits eine riesige Schlange darauf wartete, endlich ihren Einkaufswagen zu lehren, und nach Hause zu gelangen.

Sie beobachtete die Menschen, die vor ihr in Kassenrichtung standen.

Den dickbäuchigen kahlköpfigen Mann in einem blauen Anzug, der lose an seinem Körper herunterhing. Er tänzelte von einem Fuß auf dem anderen, und murmelte etwas vor sich hin.

Die alte Frau in einem geblümten Kleid, das aus den 70iger Jahren zu kommen schien, und das ihr so stand, wie Miss Piggy in einem engen Kleid von Chanel.

Das die Leute nicht Kleidung in ihrer eigenen Größe kaufen können, dachte sie.

Ihr Blick fiel auf einen jungen Mann, der in einem sehr eleganten Smoking steckte, und deren Hände, wie sie aus der Entfernung sehen konnte, sehr gepflegt waren. Seine halblangen blonden Haare umschmeichelten sein markantes eckiges Gesicht, und die randlose Brille, die seine blauen Augen hervorhoben, gab ihm das Aussehen eines Gelehrten. Eine goldene Rolex umschloss das Handgelenk seines linken Armes. An seiner manikürten linken Hand trug er einen Siegelring, und einen Ehering.

Schade, dachte sie enttäuscht. All die guten und gutaussehenden Männer sind entweder schwul oder schon vergeben.

Plötzlich stutzte sie!

Ich denke ja an Männer, dachte sie! Bin ich bi? Oder doch heterosexuell?

Der Mann im Smoking drehte sich um, und ihre Augen trafen sich für einen kurzen

Augenblick.

Erschreckt wandte sie ihren Blick ab, und spürte, wie die Hitze der Errötung in ihr hoch stieg.

Göttin, er sieht mich an! Und ich hab ihn so angestarrt, wie ein Affe im Zoo, dachte sie! Wie peinlich!

Sie drehte sich um, weil sie hoffte, das der Mann sich ebenfalls abgewandt hatte.

Plötzlich stand er vor ihr.

„Entschuldigen sie bitte“, sagte er mit einer Stimme, die sie sofort wie Butter in der Sonne schmelzen ließ. „Können sie mir bitte sagen, wo ich in diesem Geschäft Lachs finde. Ich bin nämlich gerade hier her gezogen, und kenn mich noch nicht so aus hier!“

„Beim Kühlregal“, sagte sie stotternd. „In der rechten Seite, da wo die Fischsachen sind!“

„Vielen Dank, meine Dame“, sagte er, und entfernte sich von ihr.

Ihr Herz begann, wie wild zu pochen.

Ich muss seine Telefonnummer haben, dachte sie!

Der Smokingträger kam zurück, in seiner rechten Hand ein eingeschweißtes Paket besten norwegischen Räucherlachs, sowie einer Tube Sardellenpaste.

„Vielen Dank auch, Mylady“, sagte er, und lächelte sie an.

„Wenn sie sich hier nicht auskennen, würde ich sie und ihre Frau gerne einladen, gemeinsam mit mir die Gegend zu erkunden“, erwiderte Nora.

Hoffentlich merkt er nicht, das ich ihn ausfragen will, dachte sie!

Der Smokingträger lächelte.

„Ich bin nicht verheiratet“, sagte er.

„Ich dachte, das sie das wären, weil sie einen Ehering tragen“.

„Ich bin geschieden“, erwiderte er. „Und ich trage den Ring nur zur Erinnerung, das ich nie wieder auf eine Frau hereinfallen werde, die geldgierig und besitzergreifend ist, und mich kontrollieren und manipulieren wollte!“

O Göttin, ein Mann, der eine schlechte Erfahrung gemacht hatte, dachte sie, und plötzlich fühlte sie, wie Mitleid für ihn in ihr hochstieg.

„Na, dann können wir ja zusammen die schönen Orte hier entdecken“, meinte sie. „Ich könnte auch noch einige Freundinnen dazu einladen!“

„Verzeihen sie, aber mir steht nicht der Sinn nach näheren Kontakten“, meinte er.

„Mir auch nicht“, sagte sie, obwohl sie etwas anderes fühlte. „Aber ich gehe gerne weg, und ich war schon lange nicht mehr spazieren gegangen. Warum machen wir das nicht gemeinsam?“

„Okay“, sagte er nach einigem Zögern. „Aber dann erst in einer Woche, wenn meine Wohnung eingerichtet ist, und ich alles ausgepackt habe!“

Gut“, sagte Nora. „Abgemacht!“

Der Smokingträger griff in eine Seitentasche seines Smokings, und gab ihr eine Visitenkarte, auf der ein medizinisches Zeichen zu sehen war. Der Smokingträger war ein Arzt, wie die Visitenkarte auswies.

„Also, dann, bis später, Herr Doktor Novak“, sagte sie.

„Bis später,...?“

„Nora“.

„Bis später also, Nora. Ich freue mich darauf!“

Elegant deutete er einen Handkuss an, und ging dann zu seinem Einkaufswagen.

Was für ein Mann, dachte sie!

Anna hatte sie vergessen.

Ihr Spiegelbild im schwarzen Schlafzimmerschrank gefiel ihr nicht!

Ihre Haare gefielen ihr nicht!

Anna gefiel sich nicht!

Die kurz geschnittenen Haare, die sie rötlich gefärbt hatte, hingen strohig und unordentlich

auf ihrem Kopf herunter. Nichts saß so, wie sie es mochte! Auch ihr liebstes T- Shirt, das mit

dem weißem Delfin auf einem schwarzen Hintergrund hing lose an ihrem Körper herunter. Und ihre schwarze Jeans war mindestens zwei Nummern zu groß geworden.

Habe ich so viel abgenommen, fragte sie sich?

Na ja, kein Wunder nach all der Hölle, der wir vor kurzem entkommen sind!

Ihre Gedanken wanderten in die letzte Woche zurück, wo Nora, Gerlinde und sie von Dienern Hanims gefangen und gefoltert wurden. Erinnerungen, die sie glaubte, längst vergessen zu haben.

Mein eigener Vater hat mich jahrelang als Kind vergewaltigt, erinnerte sie sich. Und wenn meine Mutter nicht zufälligerweise früher nach Hause gekommen wäre, weil sie eher frei hatte, hätte er das noch jahrelang weitermachen können.

Bei dem Gedanken daran schüttelte sie sich voller Abscheu.

Sie bekam Hunger.

Ein Blick in den gefüllten Kühlschrank voller Karotten und Salat, Dressings und Mineralwasser, sagten ihr, das sie ihr Abspeckprogramm heute ausfallen lassen wollte.

Sie ging zum Küchenschrank, den sie öffnete und griff zu dem Stapel der Prospekte von Bringdiensten.

Aber weder Pizza noch chinesisches Essen schien ihr zuzusagen, und so legte sie alles wieder zurück.

„Dann geh ich halt in ein Restaurant zum Essen“, sagte sie, griff sich ihre rote Umhängetasche, indem sich ihre Geldbörse und diverse Kleinigkeiten befanden, ohne die sie selten ausging, und verließ ihre Wohnung.

„Was wolltest du den wissen, Carola“, fragte Gerlinde ihre Schülerin, mit der sie am Ufer der Havel spazieren ging?

Sie blickte in den Himmel.

Vereinzelte weiße Wolken, ein milder Wind und ein strahlend blauer Himmel zeigten ihr, das es heute einen wundervollen Tag geben würde.

Sie trug eine braune Wildlederjacke, dazu passend blaue Jeans und Cowgirlstiefeln, die sie heute zum erstenmal trug, und schmerzten.

Ihre Augen wanderten zu Carola, die sie anblickte.

Etwas Rätselhaftes schien in Carolas Augen zu liegen, etwas, was ihr seltsam vertraut vorkam. Etwas, was sie im Innersten ihres Herzens berührte, ohne es je erklären zu können. Zwischen ihr und ihrer Schülerin hatte sich eine Nähe entwickelt, die enger war, als sie üblicherweise zwischen Schülerin und Lehrerin vorhanden war. Enger, als sie es jemals in ihrem Leben erlebt hatte.

„Also, ich hab ja jetzt schon kapiert, das du und deine Freundinnen so was wie die Kavallerie der Göttin für Frauen in Not seid. Aber was ich mich frage, besonders nach dem Erlebnis in Mecklenburg- Vorpommern, wo diese fiesen Dämonen uns alle umbringen wollten, warum ihr alle diese Aufgabe trotzdem macht? Warum ihr euer Leben aufs Spiel setzt, für fremde Frauen, die ihr nicht kennt?“

„Weil die Göttin und berufen hat, Carola“, erwiderte Gerlinde. „Weil unser Wissen dazu dient anderen zu helfen, die unsere Hilfe benötigen. Und weil wir es sind, die den Begriff „Frauensolidarität“ noch sehr ernst nehmen.“

„Aber warum so unterschiedliche Frauen“, fragte Carola?

Ein älteres Ehepaar mit einem Dackel, der frei neben ihnen herlief, kam ihnen entgegen. Sie hatten sich eng umschlungen, und die Frau blickte ihren Mann zärtlich an, und strich über seine Wange.

Gerlinde lächelte.

Ach, ist es doch immer wieder schön, zu sehen, wenn sich Menschen lieben, dachte sie!

„Also, warum so unterschiedliche Frauen, Gerlinde“, hakte Carola nach?

Ihre Stimme wurde ungeduldig, wie Gerlinde bemerkte.

„Weil wir drei auf verschiedene Arten die Göttin repräsentieren. Nora, repräsentiert die junge Göttin, die Jägerin und sie liebt Männer. Anna ist die Göttin in mittleren Jahren, und repräsentiert die Göttin in der Zeit vor der Mens. Sie ist lesbisch. Und ich bin die weise Alte, die Ratgeberin junger Frauen, und ich liebe Frauen und Männer, wobei in den letzten Jahren sich herausgestellt hatte, das es doch mehr Frauen waren!“

Sie blickte Carola an. „Beantwortet das deine Fragen?“

„Nicht so ganz“, erwiderte Carola. „Ich versteh immer noch nicht, warum ihr alle euer Leben für andere Frauen einsetzt?“

„Weil niemand es sonst tun würde, Carola“ erwiderte Gerlinde.

Ob ich ihr sagen soll, wer ich mal früher war, dachte sie?

Wie würde sie reagieren?

Würde sie mich genauso ablehnen, wie es Nora und Anna zu Beginn taten?

Warum sollte ich es ihr überhaupt sagen? Sie wird nie meine Partnerin sein, und außerdem geht es niemand etwas an!

Ein Fußball kam auf Carola zu, die blitzschnell ihren Kopf zur Seite drehte, und sich in eine Position begab, die in der chinesischen Kampfkunst „Ma Pu“, heißt, was übersetzt, „Reiten ohne Pferd“ bedeutete.

„Du hast aber gute Reflexe, Carola“, sagte Gerlinde. „Wo hast du denn Kung Fu gelernt?“

„Bei meinem Stiefvater, der war nämlich Lehrer an einer Sportschule. Und er brachte mir verschiedene Richtungen in der Kampfkunst bei, wie Karate, Kempo und Kung Fu. Meine Mutter mochte das nicht so sehr, weil sie meinte, das sich so etwas für ein mormonisches Mädchen nicht geziemen würde!“

Gerlindes Herz blieb für einen Augenblick still.

Ihre Gedanken überschlugen sich.

Sie war eine Mormonin, genauso wie ich? Ob sie meine Ex und meine Kinder kennt?

Sie wagte nicht zu fragen. Zu groß war ihre Angst, sich zu verraten, mehr von sich preis zu geben, als sie wollte.

Sie schwieg, und Carola redete weiter.

„Nun, aber mein Stiefvater konnte sich durchsetzen, vor allem, weil er sagte, das sie seine Entscheidung, die er als Priestertumsträger getroffen hätte, nicht in Frage stellen dürfe. Du musst nämlich wissen, das bei den Mormonen nur Männer alle Macht haben, während wir Frauen ihnen dienen müssen. Diese Ungleichbehandlung der Geschlechter war auch der Grund, weswegen ich diese Kirche verließ; vor allem, weil mein Stiefvater mich mit seinem Cousin verheiraten wollte, und versuchte, mich durch Manipulation dazu zu bringen, in diese Heirat zuzustimmen“.

„Und, hast du, nachdem du von den Mormonen weggegangen bist, gewusst, was du machen wolltest?“

„Eigentlich nicht“, erwiderte Carola. „Ich wusste nur, das ich da raus musste, sonst wäre ich erstickt an dieser Heuchelei und Ungleichbehandlung!“

Eine verstohlene Träne kam aus ihrem linken Auge, das sie schnell wegwischte.

Gerlinde spürte ihren Schmerz, hatte sie doch das selbe erlebt!

Wie sich die Geschichte doch wiederholt, dachte sie. Zwei Frauen, die eine von Geburt an, die andere durch Operation, fliehen aus einer Kirche, die ihnen so viel Leid zugefügt hatte!

Plötzlich fing Gerlinde an zu weinen.

„Was ist mit dir“, fragte Carola mitfühlend?

„Ich finde deine Geschichte nur so traurig“, erwiderte Gerlinde, und wusste in diesem Augenblick, das sie nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte.

„Du bist so mitfühlend“, sagte Carola, und legte ihre Hand auf Gerlindes Schulter. „Und dafür liebe ich dich!“

Gerlinde lächelte bei diesen Worten.

Nora hatte den Weg zu ihrer Wohnanlage betreten.

Die zwei Plastiktüten in ihren Händen, vollgestopft mit diversen Leckereien des Supermarkts, schmerzten in ihren Händen. Sie sah, wie einige Kinder auf dem Rasen und dem nahegelegenen Spielplatz spielten. Zwei Mädchen, etwa 10 Jahre alt, übten sich im Seilspringen, und eine Gruppe kleiner Kinder beiderlei Geschlechts rutschte die alte Rutschbahn herunter; während zwei andere Mädchen auf einer Schaukel saßen, und von zwei weiteren Mädchen angestoßen wurden.

Eine alte Frau kam ihr entgegen.

Sie erkannte sie sofort.

Es war ihre Nachbarin, Frau Schiffer, die Frau eines pensionierten Lehrers, der im letzten Jahr verstorben war.

Sie hatte ihre grauweißen kurzen Haare streng nach hinten gekämmt, und ihr rundes Gesicht voller Make- up geschmiert, das ihr Gesicht etwas Maskenhaftes hatte. Ihre blauen Augen blickten leblos zum Boden des Gehwegs, und sie schlurfte mit langsamen Schritten an Nora vorbei, ohne sie zu sehen.

Arme Frau Schiffer, dachte Nora!

Seit ihr Mann tot ist, hat sie jeder Lebensmut verlassen! Vielleicht sollte ich sie heute abend zu mir zum Essen einladen, und sie mit einigen meiner älteren Freundinnen bekannt machen?

Am besten, ich koche was aus ihrer Heimat Ostpreußen. Gut, das ich noch das alte Rezeptbuch meiner Tante Auguste habe! Mal sehen, was ich da finde. Und wenn mir eine Zutat fehlen sollte, kann ich ja noch mal zum Supermarkt gehen.

Sie hatte die Tür ihres Wohnblocks erreicht.

Eine Frau, die sie entfernt an ihre Mithexe Gerlinde erinnerte, kam ihr im stark angetrunkenem Zustand und mit verweinten Augen entgegen. Ihre strohig blonden Haare hatten schon lange kein Wasser mehr gesehen. Ihre rote Rüschenbluse und ihre verwaschenen Jeans rochen nach Rauch und billigem Fusel. Sie öffnete die Wohnungstür, und schrie: „ Nadiiiiiiiiiiine. Wo steckst du?“

Sie lief an ihr vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen, und blickte sich suchend um, während sie ihren Satz mehrmals wiederholte.

Die Tür bewegte sich langsam auf sie zu.

Noras Arm schnellte nach vorne, und hielt die Tür so lange auf, bis sie mit ihren beiden Tüten durchgeschlüpft war. Sie ging zum Fahrstuhl, und drückte den Knopf.

Die Tür des Fahrstuhls öffnete sich nach wenigen Augenblicken.

Ein etwa achtjähriges Mädchen in einem rosa Kleid und weißen Schuhen ohne Strümpfe stand vor ihr. Ihr Gesicht war verweint und blickte ins Leere.

„Kann ich bei dir sein, Tante“, fragte sie Nora unvermittelt?

„Wer bist denn du“, fragte Nora?“

„Nadine“, erwiderte das Mädchen.

„Deine Mutter sucht dich schon die ganze Zeit!“

Ängstlich blickte sie Nadine an.

„Ich will nicht zu meiner Mutter und meinem Vater“, sagte sie emotionslos.

Nora stutzte.

Wen sie nicht zu ihren Eltern will, folgerte sie, dann muss da etwas faul sein! Ich glaube, es wäre wohl das Beste, sie erst einmal mit nach oben zu nehmen!

„Na, dann komm mal nach oben, Nadine“, sagte sie, und beide stiegen in den Fahrstuhl ein. „Ich hoffe, du magst Schokolade und Eis“, sagte sie. Nadine nickte.

Die Tür des Fahrstuhls schloss sich. Keine der beiden im Fahrstuhl hörte die Rufe von

Nadines Mutter, die hysterisch nach ihrer Tochter rief.

Das kroatische Lokal sah rustikal und gemütlich aus. Zwei Kellner wirbelten mit ihren Tabletts kunstvoll um die Tische in diesem engen Raum herum, und verloren doch nicht die Balance.

Anna saß am Fenster, und blickte auf die Straße, wo gerade eine ältere Frau mit einem Hund aus einem Taxi stieg, und der Bus der Linie 181 vorbeifuhr.

Sie hatte einen kroatischen Grillteller mit einem Schweinesteak, einigen Rollen Cevapcici und einem Stück Schweinerippchen vor sich, dem als Beilage Pommes frites, Dvurcic- Reis und Krautsalat beigelegt wurde.

Das Essen schmeckte ihr.

Sie blickte sich in dem Lokal um.

An den blaugetünchten Wänden hingen Bilder mit bäuerlichen Motiven, alte Werkzeuge und einige Garderobenhaken aus Messing, an denen mehrere Kleidungsstücke hingen. Am Nebentisch saß ein junges Paar, das sich verliebt ansah, und nur Augen füreinander zu haben schien. Die anderen Plätze waren mit einer Herrenrunde, einem Damenkränzchen und einer Gruppe junger Studenten, die gerade ihr bestandenes Examen feierten, besetzt.

Die Tür des Lokals ging auf, und eine Frau mit flammend roten Haaren erschien, deren Erscheinung sie sofort fesselte.

Ihr ovales Gesicht war dezent geschminkt, und der süßliche Duft von Chanel Nummer fünf umhüllte ihren großen und wohlproportionierten Körper. Sie trug einen dunkelroten Wollmantel mit einem Pelzkragen, dem Anna sofort ansah, das er nicht echt war. Die Frau zog ihren Mantel aus, und ein eng anliegendes schwarzes Kostüm mit Strasssteinen, die das Muster einer Rose bildeten, wurde sichtbar. Dazu trug sie flache schwarze Schuhe und dunkle Seidenstrümpfe. Sie legte den Mantel über ihren linken Arm.

In ihrer rechten Hand hielt sie eine teuer aussehende Handtasche, die sie hin und her schlenkerte.

Sie kam auf Anna zu.

„Ist hier noch frei“, fragte sie?

Anna nickte.

Die Frau setzte sich, und legte den Mantel auf den Platz, der noch frei war.

Anna sah, das die Fingernägel der Frau dunkelrot lackiert und spitz zulaufend waren, und das die Hand dieser Frau sehr groß war.

Oh Göttin, ich steh so auf lange, lackierte Fingernägel, dachte sie!

„Können sie mir in diesem Lokal etwas empfehlen“, fragte die Frau, und Anna wurde es plötzlich siedend heiß unter ihrem Busen.

Und dann auch noch so eine erotische Stimme, dachte sie! Wenn sie jetzt auch noch sagt, das sie eine Femme ist, und dazu noch solo, dann garantiere ich für nichts mehr!

„Die Schlachterplatte ist hier ganz lecker“, sagte Anna, und versuchte, souverän zu klingen.

Der Kellner, ein junger, schwarzhaariger Kroate mit einem Schnurrbart, der sehr an den Schauspieler Kevin Costner in dem Film „Der mit dem Wolf tanzt“ erinnerte, kam zu ihrem Tisch.

„Was kann ich ihnen bringen, gnädige Frau?“

„Eine Schlachterplatte, und einen guten Rotwein“, erwiderte die Frau. „Was können sie mir da empfehlen?“

„Einen leichten, trockenen Rotwein aus der Region rund um Lubjana“, sagte der Kellner. „Er ist wie geschaffen zu Schweinefleisch!“

„Gut, dann nehme ich ein Glas dazu!“

Der Kellner ging.

„Es sieht sehr gemütlich hier aus“, sagte die Frau zu Anna.

„Ja, ich liebe das Lokal, weil es genau das ist: urgemütlich!“

Nora hatte die Tür zu ihrer Wohnung aufgeschlossen, und war hineingegangen. Nadine stand unschlüssig vor der Tür, und blickte in die geöffnete Wohnung.

„Na, komm schon rein, ich beiße nicht“, sagte Nora, und lächelte Nadine an!

Zögernd, sich vorsichtig nach allen Seiten absichernd, kam Nadine näher.

„Könntest du bitte die Türe schließen, Nadine, während ich in der Küche alles auspacke?“

Nora ging in die Küche, und räumte den Einkauf in den Kühlschrank und den Vorratsschrank, und sah, wie Nadine ihr gefolgt war.

Nadine blickte sich vorsichtig in Noras Küche um.

Sie hat Angst, dachte Nora!

Angst vor einer möglichen Gefahr! Aber sie hat auch Vertrauen! Vertrauen zu mir, weil sie spürt, das ich ihr helfen kann!

„Magst du etwas essen“, fragte sie Nadine, die sich ängstlich an einem weißen Küchenstuhl aus Hartplastik festhielt, und sie mit ihren großen Augen anblickte. Wortlos nickte sie.

„ Und was möchtest du?“

Nadine zuckte ihre Schultern.

Nora ging an ihren Kühlschrank, und holte die frisch gekaufte Butter, Wurst, Käse und eine Flasche Limonade heraus. Sie ging zu ihrem Küchenschrank, einem Erbe ihrer Mutter, wo sie aus einem Brotkasten aus Metall ein Brot hervorholte. Sie entfernte die Verpackung, und schnitt mit einem großen Messer zwei Scheiben Vollkornbrot ab, und schmierte auf das Brot Butter. Dann legte sie auf eine Scheibe Brot zwei Scheiben Käse, und auf die andere Brotscheibe, zwei Scheiben Wurst. Sie schnitt die Scheiben in mundgerechte Stücke, und legte das belegte Brot auf einen roten Porzellanteller. Dann goss sie die Limonade in ein oval geformtes Glas aus Bleikristall, und stellte beides auf den Küchentisch.

„Guten Appetit“, sagte Nora, und lächelte Nadine aufmunternd zu.

Nadine setzte sich an den Küchentisch, und griff vorsichtig sich ein kleines Stückchen Brot mit Käse. Ihre Finger umklammerten das Brot wie eine Ertrinkende den rettenden Ring. Ich Gesicht war ausdruckslos und leer.

Wie ein Körper ohne Seele, dachte Nora, und spürte, wie eine Träne aus ihrem Auge floss.

Plötzlich kam ihr ein Ausspruch William Blakes ins Gedächtnis, der einmal sagte, dass es zwischen den bekannten und den unbekannten Dingen im Leben Türen gibt.

Und ich werde die Türe zu deiner Seele öffnen, um dir zu helfen, Nadine, versprach sie sich in ihrem Herzen!

Nadine hatte zu Ende gegessen, und ließ zwei kleine Stücke belegten Brotes liegen. Zwei kleine Flecken, entstanden durch das Limonadenglas, lagen einsam neben dem Teller. Nadine stand auf, ohne ein Wort zu sagen.

„Wollen wir ins Wohnzimmer gehen“, fragte Nora?

Nadine nickte.

„Und, möchtest du noch was trinken?“

Nadine blickte sie an. Plötzlich lief sie auf Nora zu, und umklammerte sie.

„Kann ich bei dir bleiben, Tante“, fragte sie flehend?

„Im Moment schon, Nadine“, erwiderte Nora. „Aber auf lange Sicht ist das keine Lösung! Irgendwann musst du wieder nach Hause gehen!“

Nadine weinte!

„Ich will nicht! Ich will nicht wieder zurück zu meinem Vater und meine Mutter!“

„Warum nicht?“

„Weil mein Vater so viele schreckliche Sachen mit mir macht!“

„Sachen?“

Nora sah, wie Nadine mit sich kämpfte.

Etwas will sie mir sagen, aber sie hat Angst davor, überlegte Nora blitzschnell?

Plötzlich überkam sie ein schrecklicher Gedanke!

Ob der Vater seine Tochter vergewaltigt hat, fragte sie sich?

Das würde so einiges erklären! Und die Mutter? Wenn sie nicht ganz blöd ist, und das dürfte sie wohl kaum sein, dann muss sie doch was mitbekommen haben! Und dann frage ich mich, warum sie ihre Tochter nicht vor diesem Monster beschützt?

Nadines Hand griff nach ihrer Hand, und drückte sie so fest, wie eine Kinderhand nur fest zudrücken konnte. Nora blickte in ihre kleinen blauen Kinderaugen, die sie flehend anblickten. Und plötzlich wusste sie es! Ohne, das Nadine auch nur ein Wort sagen brauchte, wusste Nora plötzlich, das Nadine von ihrem Vater vergewaltigt wurde!

Langsam ging sie mit Nadine zum lederbezogenem Sofa ihres Wohnzimmers, und setzte sich mit ihr darauf hin. Langsam nahm sie Nadine in ihre Arme, und drückte sie sanft an ihren Busen.

„Du bleibst erst einmal hier, Nadine“, sagte sie bestimmt. „Und was deine Eltern angeht, werde ich mich darum kümmern!“

Ihre Stimme wurde plötzlich grimmig, als sie das sagte.

Anna hatte sich gut mit der fremden Frau während des Essens unterhalten.

Sie hatte erfahren, das sie Vivien hieß, ihre Mutter aus Deutschland, und ihr Vater aus Irland kam, und seit vier Jahren in Deutschland lebte. Sie war freudig überrascht, als sie erfuhr, das Vivien ebenfalls Frauen liebte, und besonders auf eine Butch wie sie stehen würde, wie Anna an den Komplimenten Viviens für sie sehen konnte. Und, sie war solo!

Als sie sich über Irland unterhielten, das Anna vor zwei Jahren einmal besucht hatte; sagte Vivien ihr, das sie seit einigen Jahren Magie betreiben würde, und eine Wicca aus einem Brandenburger Coven wäre, wo sie mit ihrer Schwester leben würde.

Der Kellner mit dem Schnurrbart brachte den Nachtisch, einen gemischten Obstsalat mit Schlagsahne. Mit der Grandezza, die jedem spanischen Grande zur Ehre gereicht hätte, legte er die Schalen auf den Tisch, nahm das benutzte Geschirr in seine Hände, und entfernte sich lautlos.

„Und“, fragte Anna neugierig, „wann warst du das letzte Mal in Irland?“

„Vor zwei Monaten“, erwiderte Vivien“. „Ich hatte dort ein Trennungsritual ausgeführt, um mich von meiner Ex innerlich zu verabschieden!“

„Warum habt ihr euch getrennt?“

„Sie kam mit einem Punkt aus meinem Leben nicht klar“.

Die pure Sinnlichkeit, diese Stimme, dachte Anna!

Wenn Nora nicht wäre, würde ich mir Vivien schnappen!

„Und was war das?“

Plötzlich schienen sich Viviens Hände zu verkrampfen. „Das, meine Liebe, ist rein privat!“

Ein betrunkener Mann kam auf Anna zu.

„Na, Mädels, so allein hier?“

„Nee, und du störst“, sagte Vivien mit einem solch bestimmten Tonfall, der keinen Wiederspruch duldete.

Göttin, du hast eine Art, Vivien, die jede Frau schwach machen würde, dachte Anna, und sagte zu dem Betrunkenen: „Es wäre besser, wenn sie gehen würden!“

„Dann eben nicht, verdammte Lesbenfotzen“, erwiderte der Betrunkene und ging!

„Wenn du die Alternative bist, dann bleibe ich lieber lesbisch“, sagte Vivien, und grinste Anna verschwörerisch an.

Der Betrunkene brummte etwas vor sich hin, und ging zu seinen Saufkumpanen, die ihn johlend begrüßten.

„Manchmal bin ich echt froh, das ich Frauen liebe“ sagte Vivien! „Besonders, wenn ich in so

einer reizenden Begleitung wie jetzt bin!“

„Wo waren wir stehen geblieben“, fragte Anna, und lächelte Vivien an.

Ich weiß genau, wo wir stehen geblieben waren, dachte sie,

Was kann so eine tolle Frau wie du schon für ein Problem haben, mit der eine andere Frau nicht zurande kommen könnte? Warst du im Knast oder in der Psychostation? Wenn deine Ex damit nicht umgehen kann, dann verdient sie dich nicht, Vivien!

„Bei einem Thema, das ich nicht weiter führen will“, sagte Vivien, und nahm Annas Hand in die ihre!

„Anna“, begann Vivien, und blickte Anna tief in ihre Augen. „Ich fühle mich wohl in deiner Nähe, aber es darf nicht mehr geschehen!“

Vivien ließ Annas Hand los, sprang auf, griff nach ihrem Mantel, warf etwas Geld auf den Tisch, und verließ fluchtartig das Lokal.

Anna blieb ratlos auf ihrem Platz sitzen.

„Gerlinde“, fragte Carola, „ wo ist die Dose mit den Yackwurzeln?“

„Im Küchenschrank, linke Tür, erste Reihe, die zweite Dose von rechts. Da ist ein altes Motiv von einer Keksfirma drauf“, sagte Gerlinde, und lächelt ihrer Schülerin zu.

Du bist sehr gelehrig, Carola, dachte sie. Und ich hoffe, ich kann dir eine gute Lehrerin sein!

Carola hatte die Dose gefunden.

Sie holte, wie das Rezept es vor sah, ein Stück der Wurzel heraus, und zerrieb es in einem Mörser. Dann gab sie Tigergrün, Feenauge, und den Saft einer kleinen Karotte dazu, zerkleinerte und vermischte alles noch einmal. Gerlindes Augen folgten jede ihrer Bewegungen.

„Jetzt ist es genug“, sagte sie. „Und jetzt musst du die Masse auf deine Stirn einmassieren, und zehn Minuten einwirken lassen.“

Carola tat, wie ihr Gerlinde es gezeigt hatte.

„Und jetzt legst du dich auf das Sofa im Wohnzimmer hin, und dann achte darauf, was du siehst. Jede Vision, jeder Traum, den du sehen wirst, ist wichtig für dich.“

„Und warum?“

„Weil dieses Rezept dir eine Art Zukunftsvision von Dingen gibt, die geschehen werden. Und dieses Rezept darf nur von erfahrenen Hexen benutzt werden, bzw, von Hexen, die von einer erfahrenen Hexe die Magie lernen!“

„Und deshalb soll ich also es ausprobieren“, fragte Carola? „Carola, das Versuchskaninchen“

Carola stand vorsichtig auf. Sie spürte, wie ihr Körper langsam heißer wurde, und ihre Bewegungen immer langsamer. Gerlinde stützte sie, und führte sie langsam in ihr Wohnzimmer, vorbei an dem Sekretär, dem Ledersessel und dem großen Eichentisch. Dann gelangten beide zum ledernen Sofa, auf dem eine Patchworkdecke in roten und grünen Farbtönen weit ausgebreitet lag. Carola ließ sich darauf fallen, und schloss die Augen, nachdem Gerlinde ihre Beine hochgelegt, und ihre Schülerin mit einer Baumwolldecke zugedeckt hatte.

Carola fiel in einen tiefen Schlaf.

Eine Stunde später erwachte sie, und klagte über Kopfschmerzen und Übelkeit.

„Das geht schnell wieder vorbei“, sagte Gerlinde, und reichte Carola ein Glas mit kohlensäurearmem Wasser, das Carola gierig austrank. Carola gab Gerlinde das Glas, das diese auf den Tisch legte.

„Und, was hast du gesehen“, fragte Gerlinde?“

„Zuerst nur verschiedene Formen und Farben“, sagte Carola, und Gerlinde merkte, wie ihr das Sprechen schwer fiel. „Aber dann sah ich eine große Tür, durch die ich eingetreten bin. Eine Frau in einem braunen Fellkostüm stand dort, wunderschön und jung. An ihrer Seite war ein

Bär und ein Wolf, die mich beide neugierig ansahen“.

Sie hat die Göttin Artemis gesehen, bemerkte Gerlinde messerscharf! Die Göttin des Waldes,

der Frauen, und der Tiere.

„Und dann?“

Dann hat sie zu mir gesprochen. Die Frau in dem Fellkostüm erzählte, das wir Nora anrufen sollten, und das sie deine Hilfe brauchen könnte!“

Also ist wieder was geschehen, und die Göttin bat mich durch Carola, Nora zu helfen.

„Und, hat die Frau noch etwas gesagt?“

„Ja, aber das versteh ich nicht!“

„Was verstehst du nicht?“

„Diese Frau sagte, das bald das Alte mit dem Neuen, und das Geheime mit dem Offenen wieder verbunden sein würde, und das ich sowohl deine Schülerin, als auch deine Lehrerin wäre!“

Gerlinde überlegte.

Was könnte das bedeuten, überlegte sie?

Das Alte mit dem Neuen verbunden? Das Geheime mit dem Offenen wieder verbinden? Was soll das wohl bedeuten? Das die Begriffe Schülerin und Lehrerin in der Magie austauschbar sind, das weiß ich ja schon lange! Aber was bedeutet das Andere?

„Und sonst war nichts?“

„Nein, nichts von Bedeutung! Außer, das ich andauernd etwas gesehen habe, was ich auch nicht verstehe!“

„Und was“, fragte Gerlinde, und merkte, wie sie begann, etwas ungeduldig zu werden?

„Ich sah ein kleines Mädchen, das weinte. Und dann einen Mann, der sehr wütend auf sie war. Danach sah ich wieder eine Frau, die mir irgendwie bekannt vorkam, weil sie so ähnlich wie du aussah“.

Gerlinde spürte, wie es in ihr plötzlich heiß wurde.

Ob sie da wohl mich gesehen hat? Mich und meine Tochter Rebecca? Und wenn es nicht ich bin, wer ist es dann, überlegte sie.

„Kannst du mir sagen, Gerlinde, was das alles zu bedeuten hat“, fragte Carola, und hielt sich ihren Kopf fest?

„Nein, außer, das ich Nora anrufen muss, und zu ihr fahren muss“, sagte Gerlinde. „Du bleibst am besten erst einmal hier, und ruhst dich aus!“

„Ja Mama“, sagte Carola, und schmiss sich wieder auf die Couch.

Gerlindes Finger wählten mit flinken Bewegungen die Telefonnummer Noras.

„Hoffentlich bist du gleich da“, sagte sie?

Schweigend saßen Nora und Nadine auf dem Sofa.

Beiden aßen einen riesigen Becher Schokoladeneis, das Nora aus geraspelter Schokolade, Sahne, Milch und Zucker in ihrem Eisautomat zubereitet hatte. Darüber hatte Nora Sahne aus einer Sprühflasche und kleine Krokantstücke gestreut, die sie mit einem kleinen Schirmchen aus Papier und einem langen Löffel aus Plastik garnierte.

Nora hatte den Videorecorder angemacht, und beide sahen einen Tierfilm an, den Nora aufgenommen hatte. Als gerade eine Affenmutter ihrem Kind die Haare nach Läusen durchsuchte, und ein anderes Affenkind von ihrer Mutter gesäugt wurde, legte Nadine ihren Becher auf den Tisch, und kuschelte sich an Nora. Plötzlich begann sie zu weinen.

„Was ist“, fragte Nora, und streichelte ihr sanft über ihre langen blonden Haare?

Nadine blickte sie schweigend an.

„Dein Vater hat dir was Schlimmes angetan“, sagte sie. „Etwas so Schlimmes, das du es nicht sagen willst! Stimmt es?“

Nadine nickte.

„Und deshalb willst du nicht zu deinen Eltern?“

Wieder nickte Nadine.

„Und deine Mutter? Weiß sie, was dein Vater mit dir macht?“

Wortlos nickte Nadine, und erneut flossen Tränen über ihr Gesicht.

„Dann musst du auch nicht zu deinen Eltern“, sagte Nora bestimmt! „Aber du musst deine Eltern bei der Polizei anzeigen, sonst macht dein Vater das immer wieder. Nadine, er muss ins Gefängnis!“

„Aber dann tötet er Mama und mich“, erwiderte Nadine. „ Er hat das gesagt, und er hat auch meine Puppe getötet, und Hasso auch!“

„Wer ist Hasso, und wieso hat er deine Puppe getötet?“

„Hasso war der Hund von mir, den Mama mir geschenkt hat. Papa hat ihm den Hals umgedreht, so laut, das es geknackt hat, genauso, wie er es mit meiner Puppe gemacht hatte!“

Das Telefon klingelte.

Nadine schreckte hoch, und klammerte sich noch enger an Nora.

Auch das noch, dachte sie! Wer mich auch immer anruft, soll es später noch mal versuchen!

Das Band ihres Anrufbeantworters ertönte: „Sie haben mich angerufen, und leider bin ich nicht zu Hause. Hinterlassen sie bitte ihren Namen, ihre Telefonnummer und den Grund ihres Anrufes, und ich rufe, sobald ich kann, zurück“.

Sie hörte die Stimme Gerlindes, die sehr aufgeregt klang. „Nora, hier ist Gerlinde. Carola hat in einer Vision etwas gesehen, und so wie es klang, könnte es wichtig sein. Sie sah ein kleines Mädchen, eine Frau und einen Mann, und ich denke, das es vielleicht wichtig ist, und jemand unsere Hilfe braucht. Ruf mich an, was du darüber denkst!“

Der Anrufbeantworter schaltete sich ab.

„Warte bitte einen Augenblick, Nadine“, sagte Nora, und befreite sich aus Nadines Umklammerung. „Ich muss mal kurz telefonieren. Kannst du bitte schon mal in die Küche gehen, und da auf mich warten?“

Nadine begann zu weinen.

„Aber nun wein doch nicht! Ich muss doch nur telefonieren!“

Sie beugte sich zu Nadine herunter, um ihre Tränen zu trocknen. Nadine legte ihre Arme um Noras Hals, und drückte sich eng an sie.

„Ist ja gut“, sagte sie zu Nadine. „Dann hol ich das Telefon halt, und wir setzen uns auf die Couch. Bist du damit einverstanden, Nadine?“

Nadine nickte, und mit ihrem rechten Handrücken wischte sie verstohlen ihre Tränen aus ihrem Gesicht. Nora ging zu dem kleinen Tisch, auf dem ihr schnurloses Telefon stand, und hob das Telefon aus der Aufladebuchse. Nadine, die auf der Couch schon Platz genommen hatte, wartete auf sie. Nora setzte sich, und Nadine kuschelte sich an sie.

Plötzlich standen Nora Tränen in den Augen.

Wie schön ist es, ein Kind zu haben, für das ich sorgen könnte, dachte sie!

Ein Kind, für das ich da sein kann, und der ich helfen kann, ein selbstständig denkender Mensch zu werden.

Sie umarmte Nadine, und sagte: „Aber jetzt muss ich wirklich telefonieren!“

Sie wählte Gerlindes Nummer, die sie in ihrem Telefon eingespeichert hatte.

Zwei Klingeltöne ertönten, dann wurde der Hörer abgenommen, und die vertraute Stimme Gerlindes ertönte: „ Hier ich, wer da?“

„Lass den Quatsch, Gerlinde“, sagte Nora. „Ich rufe wegen Carolas Vision an. Kannst du mir sagen, was sie genau gesehen hat?“

„Das kann dir Carola wohl am besten beantworten“, hörte sie Gerlinde sprechen. Dann rief sie nach Carola, die wenige Augenblicke den Hörer in der Hand hielt. „Was willst du wissen, Nora“, fragte sie?

„Na, zum Beispiel, wie alle ausgesehen haben, wie das Verhältnis zueinander war, und ob da

irgend etwas geschehen war?“

Eine kleine Pause entstand.

Sie muss wahrscheinlich erst nachdenken, dachte Nora, und blickte zu Nadine, die

gedankenverloren in ihrem Eisbecher herumstocherte. Das Eis war geschmolzen, wie Nora sah. Da hätte ich auch keinen Appetit mehr, dachte Nora, und wandte sich erneut dem

Gespräch mit Carola zu, die mit dem sprechen anfing.

„Nun, die Frau sah sehr ungepflegt aus. Fast wie eine Trinkerin, und sah entfernt Gerlinde ein wenig ähnlich. Der Mann war auch ungepflegt, obgleich er teure Kleidung trug. Das Kind war jung, nicht älter als acht oder neun Jahre. Die Frau und das Kind hatten Angst vor dem Mann, der sie anscheinen herumkommandierte. Sie müssen in einer Hochhaussiedlung wohnen, denn ich sah auch ein riesiges Haus mit vielen Etagen. Hilft dir das weiter?“

„Ja, denn das Kind sitzt bei mir, und braucht unsere Hilfe. Vielen Dank für deine Hilfe“, sagte sie zu Carola. „Kannst du mir bitte Gerlinde ans Telefon holen?“

„Ich bin schon da“, hörte sie Gerlindes Stimme. „Carola hat den Lautsprecher des Telefons angemacht, damit ich mithören konnte. Also ist das Kind bei dir, und braucht uns“

„Ich denke, das ich das Problem alleine anpacken kann. Aber zur Sicherheit wäre es mir lieb, wenn du hier wärst, um auf Nadine, so heißt sie, aufzupassen“.

„Also, als Babysitterin brauchst du mich! Ist okay, ich komm gleich zu dir!“

„Kann ich mitkommen“, hörte sie Carola im Hintergrund fragen?

„Du bist noch nicht soweit, Carola“, hörte sie Gerlindes Stimme. „Und wenn wieder Erwarten doch etwas schief laufen sollte, müsste ich mir auch noch um dich Sorgen machen!“

„Gerlinde“, sagte Nora in die Sprechmuschel ihres Apparates hinein. „Lass sie doch mitkommen! Wenn wirklich etwas Schlimmes passieren sollte, dann kann sie diese Gelegenheit benutzen, um zu lernen!“

„Okay“, hörte Nora Gerlindes widerstrebende Stimme sagen. „Dann kommt sie halt mit!“

Ein unterdrückter Jubelschrei Carolas zeigte Nora, wie sehr sich diese freute.

„Und Anna“, fragte Gerlinde? „Sollte nicht auch Anna dabei sein? Und sei es auch nur, um dich zu unterstützen?“

„Nein, das schaff ich schon allein“, sagte Nora!

Sie legte den Hörer nach einer kurzen Verabschiedung auf, und blickte Nadine an.

„Nadine, ich werde dir helfen, aber damit ich das kann, muss ich soviel wie möglich über deinen Vater und deine Mutter wissen. Willst du mir das sagen?“

Nadine nickte.

Anna war wieder zu Hause.

Vivien, ihre Bekanntschaft aus dem kroatischen Restaurant, ging ihr nicht aus dem Kopf. Sie war wütend. Wütend auf Vivien, die sie überstürzt verlassen hatte, auf sich, weil sie nicht wie eine Butch, sondern wie eine Idiotin dagestanden hatte; und auf Nora, die nicht da war, wenn sie Nora brauchte!

Wie kann diese Frau nur so einfach abhauen, fragte sie sich? Hat sie denn nicht gemerkt, wie sexy ich sie fand? Wie sehr sie mich angezogen hatte? Das ist doch ein Unding und gegen jede Femmeregel, wie sie sich verhalten hatte!

Sie ging ins Bad, und stellte sich unter die Dusche. Sie drehte den Hahn nach links, und eiskaltes Wasser strömte aus den Düsen.

Und ich, dachte sie? Wie habe ich mich verhalten? Wie eine Idiotin! Jawohl, wie eine depperte Idiotin aus Bayern, die nicht weiß, was sie tun soll!

Sie drehte den Regler wieder nach rechts, und das Wasser hörte auf, aus der Düse zu kommen.

Und Nora, dachte sie? Warum warst du nicht da? Warum hast du mich nicht daran gehindert, mich in eine andere Frau zu verkucken? Schließlich liebe ich sie ja!

Sie griff zu einer Flasche mir Shampoo, öffnete sie, und drückte einen großen Tropfen des

Inhaltes auf ihre Haare. Sie schloss die Flasche, und stellte sie wieder zurück. Dann drehte sie

die beiden Hähne, die für die Versorgung mit kaltem und warmen Wasser zuständig waren, solange, bis ihr die Temperatur des Wassers zusagte. Das warme Wasser goss sich über ihre Haare, und Annas Hände massierten das Shampoo in ihre Kopfhaut ein. Dann stellte sie sich

direkt unter die Düse, und das Shampoo floss von ihren Haaren, vermengt mit warmen

Wasser, an ihrem Körper entlang.

Wenige Augenblicke später, sie hatte geduscht und sich abgetrocknet, und das Bad verlassen, und saß auf der Couch, eingekuschelt in ihrem Lieblingsbademantel; und schaltete den Fernseher ein, indem die fünfte Wiederholung einer deutschen Krimiserie lief.

Haben die kein Geld mehr, das sie immer diese alten Schinken zeigen müssen, dachte sie? Sie zappte sich von Sender zu Sender, aber nichts gefiel ihr. Plötzlich erschien das ovale Gesicht von Nora vor ihren Augen. Ihre grünen Augen, in denen Anna sich immer wieder auf Neue verlieren konnte. Ihre leicht pummelige Figur, an die sie sich so oft angeschmiegt hatte, und die sie kannte und liebte. An Noras dunkelbraunes, gewellte und halblang geschnittenes Haar, durch deren Finger Anna so gerne wanderte, und an ihren spärlich geschminkten Mund, deren Lippen Annas Körper immer wieder neu in Ekstase versetzte.

Ein unbeschreibliches Gefühl der Wärme umschloss sie, und im nächsten Augenblick ein Gefühl der Hilflosigkeit.

Warum kannst du dich nicht entscheiden, Nora, fragte sie sich? Ist dir deine heterosexuelle vermeintliche Sicherheit wichtiger als unsere Liebe? Oder ist deine Liebe zu mir nicht so stark, wie meine Liebe zu dir?

Plötzlich fing sie an zu weinen.

„Warum stehst du nicht zu mir“, fragte sie sich, und ein erneuter Tränenfluss floss aus ihren Augen?

Es klingelte an Noras Tür.

Als sie öffnete, erblickte sie die Gesichter Gerlindes und Carolas, die sie ansahen, als ob sie Nora zum ersten Mal erblickten.

„Göttin, siehst du aber fertig aus“, entfuhr es Gerlinde, und Carola fügte hinzu: „Hast du geweint?“

„Kommt erst einmal rein“, erwiderte Nora. „Die Nachbarn müssen ja nicht alles mitkriegen!“

Beide Frauen traten ein, und folgten Nora in ihr Wohnzimmer, wo Nadine in einem Sessel saß, und am Tisch malte.

„Das ist Nadine“, begann Nora“, „die unsere Hilfe braucht! Nadine, das sind Carola und Gerlinde, sie werden kurz auf dich aufpassen, während ich mich mal mit deinen Eltern unterhalten werde!“

Nadines Augen weiteten sich voller Angst.

„Aber du darfst nicht zu Mama und Papa gehen“, sagte sie weinend. „Sie werden dir was Schlimmes antun“.

Nora beugte sich zu Nadine herunter.

„Hab keine Angst, Nadine! Ich kann mich ganz gut wehren“, sagte sie. „Kann ich dich mal kurz in der Küche sprechen, Gerlinde“, sagte sie, und blickte die Angesprochene fragend an. Die nickte wortlos.

„Was malst du denn Schönes, Nadine“, fragte Carola?

„Einen Engel, der Mama und mich von Papa wegholt“, erwiderte Nadine.

„Und wie heißt der Engel“, frage Carola, und konnte nur mit Mühe ihre Tränen unterdrücken? Sie sah, wie Nora und Gerlinde in die Küche gingen, und die Tür leise hinter sich zuschloss. Carola sah, wie Nadines Augen den beiden Frauen ängstlich folgten. Sie legte ihren Arm um Nadines Schultern, und versuchte, sie zu trösten. Nadine zog sich zurück, igelte sich innerlich ein, und, so sagte Carola: „Hab keine Angst, Nadine! Hier bist du sicher! Nora und Gerlinde

beraten gerade, wie sie dir am besten helfen können, und glaub mir, beide können das!“

„Wirklich“, fragte Nadine?

„Absolutes Indianerinnenehrenwort“, erwiderte Carola bestimmt!

Dann lächelte Nadine zum ersten Mal.

Auch Carola lächelte.

Nora war die wenigen Etagen mit dem Fahrstuhl hochgefahren, die ihre Wohnung von Nadines Eltern trennte. Sie stieg aus, und blickte sich um. Wenige Sekunden später fand sie das Namensschild von Nadines Eltern, auf dem „Loos“ stand.

Nora hatte Gerlinde erzählt, was sie mittlerweile alles wusste.

Gerlinde ging daraufhin zu Nadine, und hatte sich mit ihr unterhalten. Kurz berührte sie Nadine, und erfuhr so, Dank der Gabe der Göttin, Vergangenes sehen zu können, das der Vater Nadines sie nicht nur jahrelang vergewaltigt hatte, sondern sie auch noch an andere Männer verkauft hatte. Und das seine Frau das wusste, aber Angst vor ihm hatte, und finanziell und emotional abhängig von ihm war.

Bei der Erinnerung daran, was dieser Mann seiner Tochter, die er beschützen sollte, angetan hatte, stieg in ihr eine eiskalte Wut hoch. Und auch an die Mutter, die, anstatt an ihre Tochter nur an ihren Mann dachte, der sie schlug, vergewaltigte und demütigte, indem er sie anderen Männern anbot!

Wenn ich so könnte, wie ich wollte, würde ich dieses Arschloch in der Luft zerreißen, dachte sie, und ihr Gesicht verzog sich zu einer grimmigen Maske.

Sie drückte auf die Klingel der Wohnung.

Nach wenigen Augenblicken hörte sie schlurfende Schritte, und die betrunkene Stimme einer Frau, die hinter der Tür fragte: „Wer ist da?“

„Ich bin eine Nachbarin, und möchte mit ihnen wegen ihrer Tochter Nadine sprechen!“

Nora hörte, wie hastig der Wohnungsschlüssel umgedreht wurde, und die braun gestrichene Wohnungstür sich öffnet.

Vor Nora stand eine Frau in einem Morgenmantel, den sie nachlässig umgeworfen hatte. Sie war ungepflegt, klein und schmächtig, mit dem leeren Blick einer seit Jahren an Alkohol gewöhnten Frau. Ein mächtig gewaltiger Hauch von abgestandenem Alkohol drang in ihre Nase, gefolgt von einem Schwall Wörtern, die von der Frau gesprochen, an ihre Ohren gelangte.

„Wo ist meine Tochter? Sagen sie mir, wo meine Tochter ist!“ Nadines Mutter wurde hysterisch, schrie Nora an, und begann, mit ihren Fäusten auf Nora einzuschlagen.

Noras linke Hand griff sich den rechten Arm von Nadines Mutter, und mit einer schwungvollen Bewegung, den die Frau gellend aufschrieen ließ, wanderte der Arm von Nadines Mutter auf deren Rücken.

„Ich glaube, wir sollten erst einmal in Ruhe bei ihnen zu Hause miteinander reden“, sagte Nora, und schob Nadines Mutter in deren Wohnung hinein. Danach schloss sie die Tür.

Nora drängte Nadines Mutter durch den engen Flur, vorbei an der Küche ins Wohnzimmer.

Eine Menge Bier- und Schnapsflaschen standen auf dem Tisch. Auf dem Sessel lagen Zeitungen und Illustrierten, ebenfalls auf der speckigen, notdürftig mit einer alten Decke verdeckten Couch aus Baumwolle, auf der noch weitere Schnapsflaschen lagen. Nora entdeckte die Reste einer Pizza auf dem Boden, und sah, das der Teppichboden schon lange nicht mehr abgesaugt worden war.

„Ich werde sie jetzt loslassen“, sagte Nora zu Nadines Mutter. „ Und dann werden wir uns unterhalten!“

Wortlos und eingeschüchtert nickte die Angesprochene.

„Wie heißen sie mit Vornamen“, begann Nora?

„Karin“, erwiderte die Angesprochene. Sie setzte sich auf die Zeitungen, die auf dem Sessel

lagen.

„Sie wissen, was ihr Mann, was andere Männer mit Nadine tun! Warum haben sie sich nicht gewehrt? Warum ihren Mann nicht verlassen und ihn angezeigt?“

Die Schulter Karins zuckte.

„Was hätte ich denn tun sollen“, erwiderte Karin? „Wenn ich was tue, schlägt er mich zusammen, oder verlässt mich? Wenn ich ihn anzeige, habe ich gar nichts mehr! Kein Geld, keine Liebe, niemand, der bei mir ist!“

„Und wie es ihrer Tochter dabei geht, kümmert sie überhaupt nicht?“

„Wieso? Es ist doch das Recht jeden Mannes, das mit uns zu tun! Sie haben doch die Macht! Mein Vater hatte das mit mir doch genauso gemacht. Und wenn mein Mann das nicht mit Nadine macht, dann macht es ein anderer Mann!“

Nora war bestürzt.

Diese Frau ließ ihre Tochter vergewaltigen, damit ihr Mann bei ihr blieb, dachte sie. Sie meinte, das Männer das Recht dazu hätten, weil ihr das als Kind ebenfalls von ihrem Vater angetan wurde.

Sie ist ein Opfer, die zur Mittäterin wurde. Aber leider kein Einzelfall! Frauen aus allen Gesellschaftsschichten handeln so! Ich werde das wohl nie verstehen, warum sie so handeln!

„Wo ist ihr Mann, Karin“, fragte Nora?

„Auf Sauftour“, erwiderte Karin. „Er wird aber bald wieder zurückkommen“.

„Dann werde ich hier so lange warten, bis er kommt. Und wenn er kommt, werde ich ihn mir vorknöpfen“, sagte Nora. Ihre Stimme wurde grimmig vor dem Zorn, den sie in sich verspürte.

Karin sprang auf.

„Bitte tun sie nichts“, flehte sie schreiend! „Mein Leben ist zerstört, wenn sie etwas tun! Wovon soll ich dann leben. Wer soll bei mir sein, wenn mein Mann im Gefängnis sitzt?“

Das ist doch die Höhe, dachte Nora!

Sie denkt überhaupt nicht an ihr Kind, sondern nur an sich! Und es ist ihr egal, was mit ihrer Tochter geschieht!

„Wovon sie leben sollen? Gnädigste, wie wäre es mit Arbeit, wie Millionen anderer Frauen? Oder damit, sich um das Wohl ihrer Tochter, anstatt dem Wohl ihres Mannes oder von ihnen zu kümmern?“

Noras Hand schnellte vor, und traf Karin mitten ins Gesicht. Schmerzvoll schrie Karin auf, und wimmerte. Sie setzte sich erneut in den Sessel.

„Was soll ich den tun“, erwiderte sie? „Die Männer haben doch die Macht, alles zu tun, wonach ihnen ist!“

„Haben sie nicht“, erwiderte Nora! „Manche Männer nehmen sich das einfach heraus, weil es Frauen wie sie gibt, die es ihnen leicht machen, das zu tun, was sie wollen! Es gibt auch andere Männer! Sensiblere Männer! Fürsorgliche Männer, die niemals daran denken würden, bewusst die Grenzen anderer Menschen zu überschreiten!“

Sie blickte in Karins Augen.

„Es tut mir leid, Frau Loos, das ich sie geschlagen habe. Aber es tut mir nicht leid, das ich hier oben bin, um ihrer Tochter zu helfen, und somit auch ihnen, auch, wenn sie es jetzt noch nicht begreifen wollen“.

Karins Blick wandte sich von Nora ab.

„Ich will ihre Hilfe nicht“, sagte sie. „Alles soll so bleiben, wie es ist! So ist es gut so!“

„Aber ihre Tochter braucht meine Hilfe, und auch sie brauchen sie! Und im Endeffekt werden sie das auch verstehen, wenn alles vorbei ist!“

„Was haben sie vor“, fragte Karin? „Meinen Mann ins Gefängnis zu bringen? Das werde ich nicht zulassen!“

Sie schnellte hoch, und hämmerte mit ihren Fäusten auf Nora ein.

Überrascht wich Nora zurück, und stolperte über der auf dem Boden liegenden

Pizzaschachtel.

Karin trat auf sie ein, und Nora hatte Mühe, ihren Tritten zu entgehen. Sie drehte sich, und sprang auf. Mit raschen Handbewegungen schaffte sie es, den Schlägen und Tritten ihrer Angreiferin zu entgehen. Sie konzentrierte sich auf Karin Loos, und mit einer raschen

Handbewegung schleuderte eine unsichtbare Kraft, dank der Gabe, die ihr von der Göttin geschenkt wurde, Karin Loos gegen die Wand, wo sie überrascht am Boden liegen blieb.

Nora ging auf sie zu.

„Tun sie das nie wieder, Frau Loos“, sagte sie. „Nie wieder!“

Anna saß in ihrer Küche, und trank eine Tasse Tee an ihrem Küchentisch, den sie sich gerade zubereitet hatte

Ihr schmeckte der Tee nicht, trotzdem sie vier Löffel Zucker hineingetan hatte. Zu sehr beschäftigte sie ihr Vater, der Mann, der für ihre Geburt mitverantwortlich war, und sie jahrelang missbraucht hatte.

Hätten die Diener Hanims uns nicht entführt, überlegte sie, hätte ich mich nicht daran erinnert, was er uns angetan hatte! Vielleicht wäre es besser so gewesen? Denn jetzt muss ich andauernd daran denken!

Sie stand auf, und goss den Tee in die Spüle. Dann drehte sie den Wasserhahn auf. Ein dünner Strahl lauwarmen Wassers floss in die leere Teetasse, die sie hin und her schlenkerte, und dann in einen Geschirrkorb mit der Innenseite nach unten legte.

Anna drehte sich um, und blickte aus dem Fenster ihrer Küche auf die anderen Hochhauswohnungen, die ihrer Wohnung gegenüber standen.

Sie nahm ihr eigenes Spiegelbild nicht wahr. Sah nicht den roten, weit geschnittenen Pullover aus Schafswolle, die verwaschene Blue Jeans und den ring an ihrem rechten Finger, den sie gedankenverloren hin und her drehte.

Bin ich vielleicht deshalb eine Lesbe geworden, fragte sie sich? Wäre ich, wenn mein Vater mich nicht vergewaltigt hätte, vielleicht heterosexuell gewesen? Oder bisexuell? Hat der Missbrauch meines Vaters überhaupt etwas damit zu tun? Oder wäre ich auch so eine Lesbe geworden?

Plötzlich fühlte sie in sich eine tiefe Traurigkeit.

Eine Traurigkeit, die sie sich nicht erklären konnte!

Ein Schauer durchlief ihren Körper. Ihr fröstelte. Sie drehte sich um, ging in ihr Wohnzimmer, und setzte sich auf ihre Couch, nahm die decke, die dort lag, legte sich hin, und deckte sich zu.

„Wenn ich nur wüsste, was mit mir ist“, sagte sie.

Wenige Augenblicke später schlief sie ermattet ein.

„Du kannst richtig gut malen, Nadine“, sagte Carola, und lächelte Nadine an.

Nadine lächelte zurück.

Gerlinde, die gerade aus der Küche zu beiden kam, hatte ein Tablett mit Kräutern, die sich alle in den Gläsern befanden, sowie einem kleinen Haushaltsmörser in ihren Händen; die sie in eine Ecke des großen Wohnzimmertischs stellte. Sie entnahm aus jedem Glas eine Messerspitze der Kräuter, und legte sie in den Mörser, wo sie begann, die Kräuter zu zerstoßen.

„Was machst du da, Tante“, fragte Nadine?

„Ich zerstöße diese Kräuter, Nadine, damit du sie mit etwas Jogurt essen kannst. Das wird dir helfen, wieder ganz gesund zu sein!“

Fragend blickte Carola Gerlinde an, und Nadine sagte: „ Aber ich bin doch nicht krank, Tante!“

„Du hast kein Fieber oder Kopfweh, Nadine! Aber das, was dein Vater und was andere

Männer dir angetan haben, hat in dir sehr weh getan, und die Kräuter helfen dir, das es nicht

mehr ganz so weh tut.“

„Welche Kräuter sind es“, fragte Carola neugierig?

„Sag ich dir, wenn wir alleine sind“, erwiderte Gerlinde. „Nadine muss ja nicht alles wissen!“

Gerlinde blickte in den Mörser.

„So, die Kräuter sind nun genug zerstoßen“, sagte Gerlinde. „Jetzt kann ich...“

Sie stockte.

„Mist, jetzt hab ich doch glatt den Jogurt vergessen“. Sie stand auf, und lief in Richtung Küche.

„Was man nicht im Kopf hat“, begann Carola, „hat man in den Beinen!“

„Oder man braucht Bewegung“, erwiderte Gerlinde, und lachte.

Karin Loos saß stumm und ängstlich auf ihrer Couch, und blickte Nora an, die sie nicht aus den Augen ließ.

Beide Frauen hörten, wie ein Schlüssel ins Schloss gesteckt wurde. Nora sah, wie sich der Mund Karins öffnete.

Sie will ihn warnen, überlegte sie blitzschnell!

Aber ich brauche den Überraschungsmoment, und wenn sie mir dazwischenfunkt und ihn warnt, ist alles aus!

Warnend blickte sie Karin Loos an, und legte ihren Zeigefinger an ihren Mund.

Die Tür öffnete sich, und ein bärtiger, breitschultriger Mann mit strohigen ungewaschenen blonden Haaren, rundem Gesicht, blauen Augen und einem Alkoholgeruch, der Nora schon von weitem umnebelte, erschien.

Er trug ein T- Shirt, deren letzte Wäsche schon einige Monate her sein musste, und Jeans, deren Hosenbeine mit Löchern übersät war.

„Ist das Essen schon fertig, du Schlampe“, fragte der Mann in einem herrischen Bariton?

Er betrat das Wohnzimmer, und erblickte überrascht in Noras Gesicht, das ihn angrinste.

Dann blickte er auf seine Frau, die inzwischen aufgestanden war, und sich hinter ihn verstecken wollte. Er drehte sich zu ihr um.

„Was will die Fotze hier“, fragte er sie?

Seine blickte ihn ängstlich an.

„Ich weiß nicht, was sie will. Plötzlich stand sie in der Wohnung, und sagte, das sie mit dir reden wollte, und so lange auf dich warten würde!“

Die ist so feige, dachte Nora! Sie weiß ganz genau, weswegen ich hier bin!

„Ich bin hier wegen ihrer Tochter, Herr Loos, und all dem, was sie ihr angetan haben“, sagte Nora mit einem solchen bestimmten Ton, der keinen Widerspruch duldete. „Sie ist in Sicherheit vor Ihnen und ihren „Freunden“, die sie gegen Bezahlung  vergewaltigt haben!“

Nora sah, wie sich kleine Schweißperlen auf der Stirn des Mannes bildeten, und seine Frau ihn ansah, so, als ob sie sagen wollte: „Nun tu doch endlich etwas!“

„Das was sie tun, ist Kindesentziehung“, sagte der Mann drohend. „ Und wenn sie meine Tochter mir nicht sofort zurückgeben, werde ich sie anzeigen!“

„Tun sie das ruhig, Herr Loos“, erwiderte Nora in einem süffisanten Ton. „Und dann wird ihre Tochter aussagen, das sie über Jahre sie vergewaltigt hatten, und gegen Geld an andere Päderasten vermietet hatten.“

„Sie können mir gar nichts antun“, erwiderte der Mann lächelnd. „ Denn ich habe mir nichts vorzuwerfen, was ihnen meine Frau jederzeit bestätigen wird!“ Er fasste seine Frau an ihrem Arm, und Nora sah, wie er fest zudrückte. „Das stimmt doch, oder?“

„Ja“, erwiderte seine Frau fast tonlos.

„Dann werde ich dem Gericht sagen, das sie mir gestanden hatte, das sie ihre Tochter

vergewaltigten“, erwiderte Nora! „Und dann sind sie endgültig am Arsch“

Sein Griff bei seiner Frau wurde fester, und seine Frau schrie schmerzhaft auf.

„Sie hat mich mit Gewalt dazu gezwungen“, erwiderte sie, und deutete mit ihrer freien Hand auf Nora!

„Sie sehen, sie haben vor Gericht keine Chance! Außerdem habe ich höchste Beziehungen zur Justiz, Politik und Wirtschaft, das es für mich ein leichtes ist, sie zu zermalmen“.

Er grinste sie herausfordernd an.

„Also, wäre es am besten für sie, mir mein Eigentum sofort auszuhändigen“

Sein Eigentum? Dieser Dreckskerl glaubt wirklich, das Nadine SEIN Eigentum ist, dachte sie empört? Na, dem werde ich es zeigen!

Sie konzentrierte sich auf den Mann, dann hob sie ihre Hand, und der Mann flog gegen die Decke des Wohnzimmers, wo er wie angewurzelt hing. Erstaunt blickte er sie an.

„Was soll das, du Schlampe“, schrie er. „Hol mich sofort hier runter, oder es setzt was!“

Nora blickte Karin an. „ Und vor so einem Würstchen haben sie Angst gehabt?“

Plötzlich stürzte sich Karin auf Nora, und schlug auf sie ein.

„Lassen sie meinen Mann in Ruhe“, schrie sie. „Er hat doch nichts getan!“

Plötzlich fiel ihr Mann zu Boden, rappelte sich auf, und sprang mit einem wütenden „dich mach ich kalt, Fotze“, auf Nora zu.

Seine Fäuste trafen sie im Gesicht, und sie schrie auf. Sie versuchte, sich auf beide Angreifer zu konzentrieren, aber es gelang ihr nicht, da die Frau eine der auf dem Boden herum liegenden Schnapsflaschen ergriffen hatte, und ihren Kopf traf. Ihr wurde schwarz vor Augen, und sie wurde ohnmächtig.

„Was sollen wir jetzt mit ihr machen“, sagte die Frau zu ihrem Mann?

„Sie kalt machen“, erwiderte er. „Und ich weiß auch schon, wie!“

Bestürzt blickte seine Frau ihn an!

„Wo Nora nur so lange bleibt“, fragte Gerlinde? „Sie ist jetzt schon über drei Stunden fort, und langsam werde ich unruhig!“

Gerlinde ging auf und ab. Ihre Augen wanderten dabei immer wieder zu Nadine, die mit einer Decke zugedeckt auf der Couch lag und fest schlief.

Die Medizin wirkt, dachte sie. Sie wird sehr lange ruhig schlafen können, und ihre Seele kann anfangen, sich selbst zu heilen.

„Vielleicht sollten wir noch etwas warten, und dann erst etwas unternehmen, Gerlinde?“

„Und was sollten wir dann unternehmen? Wir wissen ja nicht, wo Nora hin ist. Wir wissen nur, das sie beim Täter ist, aber nicht, wie der heißt, sondern nur, das er hier aus dem Haus ist. Und Nadine können wir nicht fragen, denn sie braucht erst einmal Ruhe!“

„Kannst du denn nicht als Hexe etwas tun, was da helfen könnte“, fragte Carola, und stand vom Boden auf, auf dem sie sich hingesetzt hatte?

„Sicher, aber das kostet Zeit, und vielleicht haben wir die nicht“, erwiderte Gerlinde.

„Und was ist mit den lieben Nachbarn?“

„Carola, das ist ein Wohnblock! Da kannst du Glück haben, wenn die Nachbarn auf der Etage etwas über eine Nachbarin wissen!“

„Aber ein Versuch kann ja nicht schaden“, sagte Carola.

„Okay, aber dann muss eine von uns bei Nadine bleiben! Nur zur Sicherheit!“

„Das kann ich ja machen“, erwiderte Carola. „Du kannst ja rumfragen!“

Nora wachte mit einem brummenden Schädel auf. Sie war mit einem dicken Klebeband gefesselt, und befand sich, wie sie sehen konnte, im Badezimmer. Einem Zimmer ohne Fenster, nur mit einem kleinen Lüftungsschacht und einem zersprungenen Spiegel ausgestattet, über dem eine spärlich scheinende Lampe hing. Das Badezimmer schien schon lange nicht mehr geputzt worden sein. Auf dem Boden lagen Berge von schmutziger Wäsche, und in dem Becken den Wänden der Dusche hingen Spinnweben und lagen Mäusekot. Ein unangenehmer, beißender Geruch drang an ihre Nase, so das sie niesen musste. Sie blickte sich um, und erblickte mehrere Kotstücke im Becken der Toilette.

Sie wollte schreien, doch sie konnte nicht!

Jemand hatte ihr mit einem breiten Isolierband den Mund verklebt.

Sie zerrte an ihren Fesseln, doch die gaben nicht nach.

Die Badezimmertür öffnete sich, und der Mann stand in der Tür, und grinste sie höhnisch an.

„Na, Fotze! Hast du dich beruhigt?“

Er schloss die Tür von außen, und Nora hörte, wie er zu jemandem sagte: „Sie ist jetzt wach. Sie muss verschwinden, sonst sind wir alle dran. Sie weiß einfach zu viel!“

„Das kann ich erledigen“, hörte Nora eine andere männliche Stimme sagen. „Am besten so, das es wie ein Unfall aussieht!“

„Aber vorher muss sie mir sagen, wo meine Tochter ist“, sagte Nadines Vater. „Du hast auch dafür die nächsten Male freie Auswahl. Ich habe gestern zwei junge Mädchen bekommen. Beide aus Osteuropa!“

Oh Scheiße, durchzuckte sie ein Gedanke! Das ist kein Einzeltäter, sondern ein Ring von Kinderschändern! Wenn ich nur nicht so unvorsichtig gewesen wäre, und hätte alles allein machen wollen?

Sie zerrte erneut an ihren eng anliegenden Fesseln, die sich noch tiefer in ihr Fleisch eingruben, und sie schmerzvoll aufstöhnen ließ.

„Soll ich sie befragen“, hörte Nora die Stimme des anderen Mannes fragen? „Ich hab bis jetzt noch jeden zum reden gebracht!“

„Versuch dein Glück“, sagte der Bariton des Hausherrn! „Danach reden wird sie nicht mehr können!“

Beide lachten.

Wenige Augenblicke später öffnete sich erneut die Badezimmertür.

Vor Nora stand ein dicker Mann, der in einem teuren blauen Anzug steckte, der nur unzureichend seine massige Figur verdeckte. Sein rundes Gesicht, seine Halbglatze und seine kleinen Schweinsäugelein gaben ihm ein aussehen, das Nora unwillkürlich grinsen musste.

Hinter ihm, stand der Vater Nadines im Rahmen der Tür, und blickte sie an.

„Was lachst du, Fotze“, sagte der Mann in einer solch hohen Stimmlage, das sie dachte, das er vielleicht kastriert wurde.

Na, verdient hätte er das bestimmt, dachte sie!

So etwas sollte mit jedem passieren, der Kinder auch nur lüstern ansieht, egal, ob es Frauen oder Männer sind!

Die linke Hand des Dicken schnellte vor, und traf sie im Gesicht.

„Na, willst du uns sagen, wo die Tochter meines besten Freundes ist“, fragte er? „Wenn du es sagst, werden wir von der Staatsanwaltschaft gegen dich keine Anklage erlassen, und dich sofort freilassen!“

Nora schwieg.

Zwei weitere Schläge des Dicken, und ein festes zurren an ihren Beinfesseln, zeigten Nora, das sie vor nichts zurückschrecken würden.

Ich muss Zeit gewinnen, überlegte sie! Genug Zeit, um mich selbst zu befreien, oder um Hilfe holen zu können.

Sie sackte plötzlich in sich zusammen.

„Sie ist ohnmächtig geworden“, sagte der Dicke. „Warten wir, bis sie wieder zu sich kommt“.

Der Dicke verließ den Raum.

Nora öffnete ihre Augen, und atmete tief durch.

Sie versuchte, sich zu konzentrieren. Auf Gerlinde zu konzentrieren. Aber es gelang ihr nicht.

Vielleicht bin ich zu sehr geschwächt, oder es gibt einen Grund dafür, das ich hier bin, dachte

 sie?

„Da hast du recht, meine Tochter“, hörte sie die Stimme der Göttin! „Du sollst nicht nur Nadines Leben retten, sondern auch das von Karin! Sie muss sich von ihrem Mann und seinen Perversitäten befreien! Sie muss erkennen, das nicht sie es ist, die wertlos ist, sondern ihr Mann! Das kein Mensch das Recht hat, einem anderen Menschen Schmerz und Leid zuzufügen! Darum musst du noch hier sein! Und darum wird Gerlinde dir noch nicht helfen können! Erst, wenn Karin ihre Change hatte, und sie nicht genutzt hatte, werde ich Gerlinde sagen, wo du bist, und sie wird wissen, was sie tun muss!“

„Und ich soll hier so lange wie ein Opferlamm angebunden stehen, mich nicht rühren und wehren können, und zusehen, wie die mich killen wollen?“

„Soweit wird es nicht kommen, meine Tochter!“

„Na, wenn dein Wort eine Brücke wäre... ?“

„Würdest du darüber gehen“, vollendete die Göttin Noras Gedanken.

Anna hielt es in ihren vier Wänden nicht mehr aus. Sie musste raus aus der Enge ihrer Wohnung, musste raus an die frische Luft, um einen klaren Gedanken fassen zu können. Sie ging in den Park, der in der Nähe ihrer Wohnung lag.

Einige ältere Ehepaare liefen an ihr vorbei, eingehakt, und die Liebe ausstrahlend, die sie immer gesucht hatte. Und die sie hoffte, mit Nora gefunden zu haben.

Nora!

Was für eine Frau, dachte sie! So klug und schön, so sexy und so ekstatisch in ihren Bewegungen! Und sie liebt mich. Nur, sie kann nicht zu mir stehen. Sie denkt noch zu sehr wie eine Hete, denkt zu wenig daran, was für sie das Richtige wäre.

Anna kam an einer Bank entlang, auf dem eine alte Frau saß, die einige Tauben fütterte, die langsam immer näher zu ihr kamen.

„Guten Tag, junge Frau“, sagte die alte Frau, und nickte Anna freundlich zu, die diesen Gruß mit einem freundlichen Kopfnicken erwiderte. Eine Taube flog direkt auf sie zu, und setzte sich der überraschten Anna auf die Schulter.

„Sie scheint sie zu mögen“, sagte die Frau von der Bank. „ Denn so zutraulich ist sie nicht mit jedem!“

„Das glaube ich auch“, sagte Anna, und versuchte, die Taube an ihrem Hals zu streicheln. Die Taube gurrte, und flog davon.

Mein Schicksal, dachte sie. Frauen verlassen mich immer, bevor es ernst wird!

Was habe ich bloß an mir, dass die Frauen so schnell verduften? Nora zieht sich von mirzurück, und jetzt Vivien! Ich kann keine Frau bei mir halten. Was mach ich nur falsch?

„Gar nichts“, hörte sie die vertraute Stimme der Göttin in ihrem Inneren. „Sie alle haben ihre eigenen Probleme, und sie werden erst Vertrauen zu sich und ihrer Liebe zu dir haben, wenn sie sich ihrer Gefühle und Ängste bewusst sind, und sich dem stellen.“

„Sag mir, ist die Frau, die du für mich vorgesehen hast, die, von der du sagtest, das sie keine Probleme mit Magie hätte, eine der beiden?“

„Sei nicht so neugierig, meine Tochter“, hörte Anna die Stimme der Göttin. „Die Antwort wirst du zur rechten Zeit schon wissen, das verspreche ich dir!“

„Du machst es aber auch spannend“, sagte Anna laut, und grinste, als sie das fragende Gesicht der alten Frau auf der Bank bemerkte. „Ich spreche gerne zu mir selbst“, sagte sie der alten Frau, und verabschiedete sich.

Es fehlt nicht viel, dachte sie, und ich werde für verrückt gehalten, nur, weil ich mit der Göttin rede!

Ein junges Paar kam ihnen entgegen. Der Mann legte beschützend seinen Arm um die Hüfte der Frau, die ihn anlächelte, und ihn fragte, ob sie es sich nicht besser zu Hause gemütlich

machen würden.

Der junge Mann grinste, wusste er doch sofort, was sie meinte.

Was wäre, wenn Nora sich wieder einem Mann zuwenden würde, überlegte sie? Könnte ichdamit umgehen?

Gerlinde stand im Etagenflur des Hochhauses, das sie nach dem Namen von Nadines Eltern durchkämmt hatte. Aber niemand schien in diesem anonymen Hochhaus die Familie zu kennen. An jeder Haustür, an der sie klingelte, jeden Bewohner, den sie befragte, schien es egal zu sein, was sein Nachbar tat, oder ob er überhaupt noch lebte.

Sie zündete sich eine Zigarette an, und während die Glut der Zigarette in Halbdunkel des Flurs leuchtete, blickte sie sich um. Nicht Auffälliges war zu sehen. Die Türen grün lackiert und teilweise abgesplittert, Schuhe vor der Haustür und den Matten liegend, und ein Kinderwagen, lehr und schmutzig. Kindergeschrei drang aus einer Wohnung, und sie hörte, wie ein Erwachsener brüllte.

Das die Eltern nie es schaffen, vernünftig mit ihren Kindern umzugehen, sagte sie zu sich. Anstatt sich zu fragen, warum das Kind schreit oder weint, spielen sie den großen Diktator, und wünschen sich Kinder, die wie Soldaten gehorchen. Und meist sind es die Männer, die so handeln!

Sie warf ihre ausgedrückte Zigarette in den Müllschlucker, der sich im Außenbereich der Etage befand, und ging die Treppe in die nächste Etage herunter.

Als sie die Tür öffnete, die ihr den Weg zum Etagenflur ebnete, überkam sie ein ängstliches Gefühl.

Sie klingelte an der ersten Tür, die neben dem Fahrstuhl stand. Ein alter Mann öffnete, und sie rasselte monoton ihre Sätze herunter: „ Guten Abend. Entschuldigen sie bitte, das ich sie störe. Ich bin auf der Suche nach den Eltern der kleinen Nadine. Können sie mir sagen, wo sie wohnt?“

„Das wird ja endlich mal Zeit, das jemand vom Jugendamt kommt“, erwiderte der Mann. „Die Schreie des Kindes, wenn der Mann sie schlägt, sind ja nicht mehr auszuhalten! Ich war drauf und dran, die Polizei anzurufen. Aber ich wollte ja keinen Ärger mit den Bullen!“

Überrascht blickte Gerlinde ihn an.

„Warum glotzen sie denn so, junge Frau? Schließlich ist es ihr Job, sich darum zu kümmern!“

Der hat alles mitbekommen, und nichts unternommen, und schiebt es nun auf mich, der vermeintlichen Mitarbeiterin des Jugendamtes, dachte sie, und sie spürte, wie ein plötzliches Gefühl von Hass in ihr hochstieg. Am liebsten würde ich dir mal zeigen, was dein Verhalten des Wegsehens bei Nadine angerichtet hat, du Arsch!

„Können sie mir dann sagen, wo Nadine wohnt?“

Der Mann deutete auf die Tür auf der anderen Seite des Fahrstuhls. Er schloss seine Tür, und Gerlinde hörte, wie der Mann hinter der Tür über die Unfähigkeit der deutschen Jugendämter schimpfte.

Der hat vielleicht Nerven, dachte sie empört!

Aber jetzt weiß ich wenigstens, wo Nadine wohnt!

Sie ging auf die Tür zu, und sah auf das Namenschild, auf dem „Loos“ stand.

Ihre Hand bewegte sich zur Klingel.

„Lass das“, hörte sie die Stimme der Göttin. „ Im Moment ist Nora nicht in Gefahr, und jemand anderes muss über ihren Schatten springen. Bleib in der Nähe, damit du eingreifen kannst, wenn ich dich rufe!“

Noras Glieder schmerzten.

Sie versuchte, sich in eine andere Position zu bringen, aber die Enge der Fesseln ließen das nicht zu. Schmerzvoll stöhnte sie auf, ein Stöhnen, das durch das breite Klebeband an ihrem Mund gedämpft wurde.

Ob die Frau dieses Kinderschänders sich noch besinnen wird
, dachte sie? Die Göttin wollte ihr die Chance geben. Was ist, wenn sie diese Chance nicht nutzt? Werden Gerlinde und Carola mir rechtzeitig helfen können, oder werde ich von dem Typ und seinen Mittäterngekillt werden?

Die Tür des Badezimmers öffnet sich. In der Tür stand der dicke Mann, der sie höhnisch angrinste.

„In wenigen Minuten ist es soweit, Fotze! Dann werden wir dich hier rausbringen, und dich im Wald umbringen. Aber vorher werden wir mit dir noch unseren Spaß haben!“

Seine rechte Hand ging zu seinem Hosenschlitz, den er öffnete. „Dann wirst du meinen besten Freund kennen lernen“, sagte er, und verschloss die Tür.

Panik erfasste Nora!

Die wollen mich vergewaltigen, diese Wichser, dachte sie!

Die Badezimmertür öffnete sich erneut. Diesmal stand Nadines Vater dort, der auf sie zukam, und ihr ins Gesicht schlug.

„Sag mir, wo meine Tochter ist, du Fotze! Oder du wirst so leiden, wie du noch in deinem Leben gelitten hast!“

Noras Kopf drehte sich. Nadines Vater schlug erneut zu.

„Wenn du redest, lassen wir dich am Leben“, sagte er. „Du weißt doch, das du gegen uns keine Chance hast, trotz dieser Kraft, mit der du mich an die decke befördert hast. Was war das überhaupt?“

Höhnisch blickte Nora ihn an.

„Red endlich, Fotze“, sagte er!

Doch Nora schwieg.

Karin Loos saß auf dem Boden im Wohnzimmer. Die Couch war von ihrem Mann Horst und seinem Freund Bernd besetzt. Bernd war, wie sie von ihrem Mann wusste, ein hoher Polizeibeamter, der für einen Staatsanwalt ermittelte, der, wie Bernd, kleine Mädchen in Nadines Alter vergewaltigte.

Sie saß dort, seit Nora im Badezimmer eingesperrt wurde, und apathisch hörte sie zu, wie Bernd und ihr Mann Horst sich unterhielten.

„Holger wird gleich mit dem Lieferwagen da sein“, sagte Bernd, und trommelte mit den Fingern seiner linken Hand auf den Tisch. „Dann werden wir die Fotze betäuben, und in ihren Körper in den Wäschewagen seiner Firma legen, und sie damit nach Glienicke in den Park bringen. Da ist um diese zeit niemand, und da können wir sie foltern, und zwingen, uns zu sagen, wo deine Tochter ist! Denn schließlich will ich ja mein liebstes Spielzeug wieder einmal probieren, und dein Angebot von Freischüssen steht ja noch, oder?“

Ihr Mann Horst nickte.

„Selbstverständlich! Oder meinst du, ich würde mein Wort nicht halten? Ich bin schließlich ein Ehrenmann!“

Beide Männer grinsten.

„Es war ne prima Idee von dir, diese Schlampe da zu heiraten“, sagte Bernd, und deutete auf Karin, „um an ihr Balg ranzukommen, und so uns allen Vergnügen zu bereiten!“

„Ja“, erwiderte Horst. „Und die Fotze war auch noch dankbar dafür, das sich jemand um dieses wertlose Leben kümmerte!“

Beide Männer lachten, und prosteten sich zu.

Regungslos saß Karin auf dem Boden, unfähig zu begreifen, was sie hörte.

Sie wurde benutzt! Ihre Tochter wurde benutzt, und sie konnte sich nicht wehren!

Ihre Gedanken wanderten in ihre Kindheit zurück. Zu ihrem Vater, der sie und ihre jüngere

Schwester über Jahre vergewaltigte, ihrer Mutter, die alles wusste und schwieg. Ihren

Großeltern, die nicht sehen wollten, was ihr eigener Sohn ihren Enkeln antat, und den Nachbarn, die ihre Schreie hörten, aber wegsahen. Damals lernte sie, das Männer alles dürfen! Das sie die Macht haben, alles zu tun, wonach ihnen gelüstet!

Sie erinnerte sich, wie es war, als sie schwanger wurde.

Sie lernte einen jungen Mann kennen, der ihr Avancen machte, Avancen, die ihr gefielen, weil er sagte, das sie schön sei.

Dabei wollte er mich nur fürs Bett haben, erinnerte sie sich!

Als er das hatte, was er wollte, verschwand er plötzlich, nachdem ich ihm gesagt hatte, das ich ein Kind von ihm erwartete, und es nicht abtreiben wollte, so, wie er es von mir verlangte. Und dann kam Horst, als ich im 4. Monat war. „Ich liebe dich, und werde dich heiraten“, hatte er gesagt. Und ich glaubte ihm, wollte ihm glauben, und hoffte, das nun wieder alles gut würde. Das ich endlich ein Stück heile Welt für mich haben könnte. Ein klein wenig Glück  auch für mich!
Was habe ich mich doch geirrt!
Schon kurz nach der Eheschließung hat er mich beschimpft, und als Nadine geboren wurde, hat er sie zum ersten Mal angefasst. „Ich bin ihr Vater, und dein Ehemann. Ich darf das“, hatte er immer wieder gesagt.

Und jedes mal, wenn ich versuchte, ihn daran zu hindern, hat er mich geschlagen und mir keine Liebe gegeben. Ich habe erst später erfahren, das er Nadine seinen Freunden angeboten hat. Das Geld, was er von ihnen bekam, hat er für sich ausgegeben. Nadine und ich hatten immer nur das Nötigste.

Karin blickte ihren Mann an.

Ich hasse dich für das, was du Nadine und mir antust, dachte sie! Und ich bin so traurig, das ich mich nicht wehren kann! Diese Frau, die sie im Badezimmer eingesperrt haben, und töten wollen, war die Einzigste gewesen, die mir hätte helfen können, hier raus zu kommen. Und ich habe ihr nicht geholfen! Stattdessen habe ich Horst geholfen sie gefangen zu nehmen, was mich mitschuldig an ihrem Tod macht. Was für Kräfte diese Frau doch haben muss? So wie sie, war mit Horst noch keine Frau umgesprungen!

Was ist nur aus dir geworden, Karin?

Tränen flossen aus ihren leeren Augen.

Annas Augen wanderten ruhelos im Park hin und her.

Vor wenigen Minuten hatte sie Vivien gesehen. Es war Vivien, und kein Spukbild ihrer überreizten Phantasie, da war sie sich ganz sicher! Und so plötzlich, wie sie auftauchte, war sie auch wieder hinter einer Baumgruppe verschwunden. Sie war allein gewesen, und als sie nach ihr gerufen hatte, sah sie, das Vivien sich zu ihr umgedreht hatte, und verschwunden war.

Vor was läufst du davon, Vivien, fragte sie sich?

Warum hast du Angst vor mir?

Aber so sehr sie auch suchte, Vivien blieb verschwunden.

„Nora ist in Sicherheit, Carola“, sagte Gerlinde, als sie wieder in Noras Wohnung angekommen war. „Die Göttin passt auf sie auf, und sie hat mir gesagt, das ich eingreifen soll, wenn es doch noch brenzlig wird!“

„Wer ist die Göttin, Tante“, fragte Nadine neugierig?

„Jemand, die alle Frauen auf der ganzen Welt hilft“, erwiderte Carola.

„Auch dir und deiner Mutter“, fügte Gerlinde hinzu, und begriff plötzlich, warum sie nicht eingreifen durfte!

Nadines Mutter muss begreifen, das sie sich wehren muss, das sie sich wehren kann, dachte

sie. Und wenn sie das begriffen hat, dann haben Mutter und Tochter noch eine kleine Chance für eine gemeinsame Zukunft irgendwann!

„Schau mal Tante, was ich gemalt habe“, sagte Nadine.

Gerlinde blickte auf Nadines Bilder. Alle waren von einer düsteren Stimmung, zeigten, was in ihrer Seele vor sich ging. Plötzlich merkte sie, wie sie anfing zu weinen.

Ich versteh dich ja so gut, mein liebes Kind, dachte sie! Das was dir widerfuhr, geschah auch mir und Millionen andrer Kinder auf der ganzen Welt! Und es wird jeden Tag millionenfach getan! Und es wird darüber geschwiegen! Alle wissen es, aber niemand tut etwas! Es ist die Macht der Männer, die Macht der Väter, die Macht des Patriarchats, das dieses Verbrechen erst möglich macht!

„Was hältst du davon, Nadine, wenn du uns mal ein wunderschönes Bild mit einer Wiese, Blumen und Kühen malst“, sagte Gerlinde zu Nadine, die sich sofort daran setzte, ein Bild zu malen.

Carola stand auf, und ging in die Küche.

„Wo bist du Tante“, fragte Nadine ängstlich?

„In der Küche“, erwiderte Carola. „Damit wir alle nachher noch was leckeres zum Essen haben!“

„Bleibst du bei mir, Tante“, sagte Nadine, und blickte Gerlinde fragend an?

„Ja, ich bleibe so lange hier, bis Carola wieder zurück ist. Versprochen!“

Sie setzte sich neben Nadine, und beobachtete, wie sie malte.

Hoffentlich begreift diese Mutter von ihr, was sie ihrem Kind all die Jahre angetan hatte, dachte sie?

Karin Loos war vom Fußboden ihres Wohnzimmers aufgestanden.

Ihr Mann Horst, und sein Freund Bernd hatten, vom vielen Alkoholkonsum etwas schläfrig geworden, sich auch der Couch hingelegt.

Mit langsamen Schritten ging sie in ihre Küche, und holte aus dem Küchenschrank ein großes Fleischermesser heraus. Sie ging zur Couch, und für einen Augenblick dachte sie daran, ihren Mann zu töten. Aber sie merkte sehr schnell, das ihr der Mut oder die Kaltblütigkeit dazu fehlte.

Wenn ich etwas ändern kann, überlegte sie, dann nur mit Hilfe der Frau aus dem Badezimmer! Mit ihrer Kraft kann ich es vielleicht schaffen!

Sie blickte auf die beiden Männer, die immer noch selig schliefen. Vorsichtig öffnete sie die Badezimmertür, und deutete Nora, leise zu sein.

„Sie müssen mir helfen“, flüsterte sie. „Mir und meiner Tochter helfen“.

Nora nickte.

Karin Loos riss mit einem Rück das Klebeband ab, das Noras Mund verschlossen gehalten hatte. Dann durchschnitt sie mit ihrem Messer das Klebeband und die Fußfesseln. Nora rieb sich ihre Handgelenke, und sagte: „Wo sind sie?“

„Im Wohnzimmer. Beide schlafen.“

„Na, dann wollen wir sie mal wecken“, sagte Nora. „Aber erst, nachdem wir sie versandfertig gemacht haben!“

„So viel Zeit haben wir nicht“, erwiderte Karin. „Jeden Augenblick soll jemand mit einem Lieferwagen kommen, der sie abholen soll. Sie wollten sie töten!“

Nora nickte.

„Das weiß ich! Aber so weit wären die nicht gekommen!“

„Wie können sie da so sicher sein?“

„Weil meine Kavallerie bestimmt schon in den Startlöchern sitzt, um zu helfen“.

„Sie sind nicht allein gekommen?“

„Lady, ich komme sehr selten allein! Nadine ist bei einer Freundin in Sicherheit, und eine

andere Freundin ist jederzeit erreichbar, und sie kommt sofort, wenn ich sie bitte!“

Ein warmes Gefühl der Nähe durchflutete Nora, als sie an Anna dachte.

Aber mehr als dieses kurze Gefühl der Verbundenheit gestattete sie sich nicht! Zu viel lag auf dem Spiel!

„Wissen sie genau, wann er kommen wird?“

„Nein, aber es kann nicht lange dauern!“

„Wir versuchen es trotzdem“, erwiderte Nora. „Wo ist das Klebeband her?“

„Aus seinem Werkzeugkasten, der im Spind steht!“

„Könnten sie es bitte holen?“

Karin Loos nickte. Die Sicherheit und Ruhe, mit der diese Frau voranging, machte ihr Mut. Sie ging.

„Na, sie hat ja jetzt begriffen, das sie sich wehren muss, und es auch kann! Irgendwelche Vorschläge von dir, wie wir jetzt vorgehen sollen“, fragte sie die Göttin?

„Du machst das schon richtig, meine Tochter“, hörte sie in ihrem Inneren die Stimme der Göttin! „Nur solltest du daran denken, Karin auch eine aktive Rolle zu geben, damit ihre Befreiung von ihrem Mann endgültig ist.“

„Kein Problem“, sagte Nora.

Sie ging in das Wohnzimmer, und sah, wie beide Männer immer noch eng umschlungen schlafend auf der Couch lagen. Wie ein schwules Paar, dachte sie, und lächelte.

„Ich habe zwei Klebebänder gefunden“, sagte Karin.

„Prima, dann fessle ich das dicke Schwein hier, und sie ihren Mann!“

Karin zögerte.

„Keine Angst! Er kann ihnen und Nadine nichts mehr tun“, sagte Nora. „Und außerdem, wenn er es versuchen sollte, bin ich ja noch da!“

Beide Frauen fesselten rasch die beiden Männer an ihren Händen und Füßen, die kaum etwas davon zu merken schienen, außer einem leichten Seufzer, die dem Dicken entfuhr, als Nora seine Hände an seinem Rücken zusammenband.

„Was machen wir jetzt“, fragte Karin?“

„Na, die Polizei anrufen, und dann machen sie mit ihrer Tochter eine Aussage bei der Polizei. Und wenn sie oder Nadine wollen, komme ich auch mit!“

„Ich wusste gar nicht, das es so einfach ist“, sagte Karin, und fing an zu weinen.

„Dieser Schritt war vielleicht einfach“, sagte Nora. „Aber dahin zu kommen sich zu wehren, ist das Schwerste. Und haben es geschafft! Herzlichen Glückwunsch!“

„Und meine Tochter? Wann werde ich sie wiedersehen? Wird sie mir überhaupt je verzeihen können? Nach allem, was ich ihr angetan habe?“

„Kinder haben die seltene Gabe, zu verzeihen und zu vergeben“, sagte Nora. „ Aber die Wunden, die Nadine erleiden musste, brauchen Hilfe, genauso, wie ihre Wunden! Und dafür brauchen sie beide viel Zeit!“

Karin Loos griff zum Telefon, und wählte die Nummer der Polizei.

„Ich werde so lange hier bleiben, bis die Polizisten hier sind“, sagte Nora. „Und dann werde ich gehen. Denn den Rest schaffen sie alleine! Sie sind eine starke Frau, Frau Loos! Und sie verdienen es, glücklich zu sein! Nicht alle Männer sind so, wie ihr Vater oder ihr Mann! Es gibt auch nette Männer! Und ich hoffe, das sie eines Tages ein solches Exemplar finden!“

„Die Fotze ist ja frei“, hörten beide Frauen plötzlich die Stimme von Karins Mann.

Er zerrte, nachdem er seine Fesseln bemerkt hatte, daran, und schrie: „Mach mich sofort los, du Schlampe! Sonst setzt es was! Und du weißt ja, was das heißt!“

Ängstlich blickte Karin Loos zu ihrem Mann hin, der wie ein wilder Stier losbrülle. Der Dicke wurde wach, und nachdem er seine Fesseln bemerkte, schrie er ebenfalls: „Das ist Freiheitsberaubung! Ich zeige sie an!“

„Ich freu mich schon darauf, mein Süßer“, erwiderte Nora, und blickte zu Karin Loos, die

immer noch ängstlich zu ihrem Mann blickte!

„Frau Loos, es liegt nun bei ihnen, wie sie weiter leben wollen! In Angst vor so einem Feigling, der sich nur wagt, sich an Frauen und Kinder zu vergreifen, weil er es als Mann nicht bringt, oder frei! Entscheiden sie selbst!“

Erfreut sah Nora, wie Karin Loos zum zweiten mal die Nummer der Polizei wählte, und den Beamten sagte, das ihr Mann ihre Tochter über Jahre missbraucht hatte.

Wenige Minuten später hörten beide Frauen die Sirenen der Polizei.

„Bleiben sie stark, Frau Loos“, sagte Nora. „Ich werde ihre Tochter erst einmal zur Nothilfe des Jugendamtes bringen, und alles weitere wird sich finden!“

„Warum das?“

„Weil Nadine Hilfe und Abstand braucht, Frau Loos!“

„Was ist, wenn er leugnet? Wenn er frei kommt“, fragte sie ängstlich?

„Er wird nicht frei kommen, Frau Loos! Die Aussage ihrer Tochter, und ihre eigene Aussage, werden dafür sorgen!“

Nora drehte sich zu dem noch immer fluchenden Ehemann von Karin, und sagte: „Und wenn er nicht sich schuldig aller Anklagepunkte bekennt, werde ich ihn besuchen. Und er wird sich wünschen, nie geboren worden zu sein! Das ist ein Versprechen!“

Nora drückte auf den Knopf, der die Haustür durch ein Summen öffnete.

„Nun sind sie drin, Frau Loos, und bald aus dieser kranken Beziehung draußen!“

Sie gab Karin Loos die Hand.

Sie ging aus der Wohnung. Zwei Polizisten, einer jung und schlank, einer älter und etwas dicker, kamen ihr in ihrer grünen Uniform entgegen.

„Wenn sie zu Familie Loos wollen, die ist gleich hier.“

Sie stieg in den Fahrstuhl ein, und bemerkte noch, wie Karin Loos die Beamten an der Tür empfing.

„Job fast beendet“, sagte sie zu sich selbst! „Jetzt muss ich nur noch Nadine sagen, das ich sie zur Jugendnothilfe bringen werde, und das ihr Vater keine Gefahr mehr für sie sein wird!“

Gerlinde ging in Noras Wohnzimmer auf und ab!

Sie machte sich Sorgen um Nora, und auch Carolas Bemerkung, das ihr herumrennen sowohl Nadine als auch sie nervös machten, trugen nichts zu Gerlindes Beruhigung bei.

Plötzlich hörte sie, wie sich in Noras Wohnungstür ein Schlüssel umdrehte. Ihr Herz blieb stehen!

Bitte Göttin, dachte sie, lass es Nora sein!

Ich könnte es nicht ertragen, wenn ihr etwas zustoßen würde!

Leicht knarrend öffnete sich die Tür. Gerlinde wagte nicht, in den Flur zu gehen, aus angst, nicht Nora, sondern jemand anderes zu sehen.

Auch Nadine und Carola blickten erwartungsvoll auf die Wohnzimmertür.

„Ich bin wieder da“, hörten alle die vertraute Stimme Noras!

Gerlinde stürmte auf Nora zu, umarmte und küsste sie überschwänglich, und Nadine klammerte sich an Nora fest.

„Was ist denn mit euch los“, sagte Nora? „Kaum bin ich ein wenig weg, schon werde ich abgebusselt! Wenn das immer so ist, bin ich gerne länger weg!“

Ein leichter Knuff von Gerlinde zeigte ihr, wie sehr ihre Mithexe in Sorge um sie war.

„Und, wie war es gelaufen“, fragte Gerlinde?

„Also, der Typ ist eben von der Polizei festgenommen worden, und seine Frau hat ausgesagt, das er seine Stieftochter über Jahre missbraucht hat, und sie noch an andere Päderasten vermietet hatte!“

Nora beugte sich zu Nadine.

„Er wird dir nie wieder weh tun können, Nadine! Und deine Mutter hat endlich den Mut

gefunden, ihren Mann anzuzeigen!“

„Was geschieht jetzt mit der Kleinen“, fragte Gerlinde?

Nora setzte sich auf ihre Couch, Nadine, Gerlinde und Gerlinde neben ihr, und Carola setzte sich in den Sessel.

„Ich bring sie gleich zum Jugendnotdienst, wo sie in Sicherheit ist. Da ihre Mutter durch die Anzeige ihres Mannes auch gleich eine Selbstanzeige wegen unterlassener Hilfeleistung und Beihilfe zum sexuellen Missbrauch geleistet hat, wird sie vermutlich verurteilt werden. Ob zu einer Bewährungsstrafe oder Gefängnis, weiß ich nicht!“

Meinst du, das die Jugendnothilfe der richtige Ort ist, um Nadine Schutz zu geben“, fragte Gerlinde. „ Hast du den Skandal im letzen Jahr schon vergessen?“

Nora stutzte!

Mist, dachte sie, den habe ich wirklich vergessen!

Ihre Gedanken wanderten zurück zu den Schlagzeilen, die im letzten Jahr den Berliner Blätterwald beherrschten. Einige Kinder, die in der Obhut des Jugendnothilfedienstes standen, waren aus dem Heim ausgebüxt, weil einer der Betreuer sie vergewaltigt hatte. Die anderen Betreuer, und auch die Leitung wussten von seinen Neigungen, unternahmen aber nichts, um ihn vom Amt zu entfernen.

Gerlinde hat recht, überlegte sie. Der Jugendnothilfedienst ist der denkbar schlechteste Ort für Nadine! Selbst, wenn der Typ weg ist. Aber was sollte ich sonst tun?

„Dann muss Nadine wohl oder über ins Heim“, sagte Nora.

„Wo gerade in Heimen Kinder jahrelang vergewaltigt werden, und es egal ist, ob es ein städtisches oder ein kirchliches Heim ist!“

„Was sollten wir dann tun“, fragte Nora? „Wir können sie doch nicht einfach behalten, auch, wenn ich mir die Kleine ans Herz gewachsen ist?“

„Was hältst du davon, wenn ich eine Freundin beim Jugendamt anrufe, und ihr vorschlage, das die Kleine bei schwulen Pflegeeltern kommt! Das ist wohl eines der sichersten Orte für eine kleine Dame wie Nadine!“

„Okay, aber vorher fragen wir Nadine, was sie darüber denkt!“

Anna saß auf einer Bank im Park, und blickte den Paaren nach, die eng umschlungen an ihr vorbeiflanierten, und deren Küsse durch die fahl erleuchteten Lampen des Parks etwas mystisches ausstrahlte.

Die Küsse der Paare ließen ihr Herz schwer werden.

Sie liebte Nora, das wusste sie! Aber sie fand auch Vivien sehr anziehend.

Nora konnte sich nicht entscheiden, und Vivien flüchtete vor ihr, noch bevor sie sich richtig kennen lernen konnte.

Keine Frau scheint mich zu wollen, dachte sie!

Wenn Nora sich nur entscheiden könnte? Wir wären ein unschlagbares Team, ein Paar, das sich so viel geben könnte!

Ein junges Paar kam auf sie zu.

Wenn Nora jetzt hier wäre, wie gerne würde ich mit ihr spazieren gehen, dachte sie, und sie spürte, wie eine einsame Träne sich ihre Bahn suchte.

Ich vermisse sie, dachte sie! Ich vermisse ihr Lachen, ihre Lust und ihre Art, Dinge praktisch anzugehen! Aber wenn sie sich entscheidet, doch lieber mit Männern zu leben, muss ich damit umgehen können! Warum hat Vivien nur so große Angst vor mir?

Sie stand von der Bank auf, und ging in Richtung ihrer Wohnung.

Sie ließ den Park hinter sich, und stand an der Ampel. Auf der anderen Straßenseite sah sie eine Frau, die einen kleinen runden Handspiegel hervorholte, und sich kritisch betrachtete.

Annas Herz blieb stehen.

Das ist doch Vivien, durchzuckte sie ein Gedanke! Unverkennbar diese roten Haare und diese lackierten Fingernägel! Und dieses Gesicht erst!

Sie sah, das Vivien sie ebenfalls erkannte. Abrupt drehte sie sich um, und lief fort.

„Was soll das Vivien“, rief Anna? „Wovor läufst du weg?“

Vivien drehte sich um.

Anna sah, wie ihre von Panik durchzogenen Augen sie anblickten. „Bitte lass mich in Ruhe, Anna! Es ist das Beste so, glaub mir!“

„Wenn ich weiß, warum, dann ja“, erwidere Anna. „Aber in dem Lokal, da war doch was zwischen uns, oder lieg ich da falsch?“

Vivien antwortete nicht.

Sie drehte sich um, und lief davon.

„Blöde Kuh“ entfuhr es Anna! „Kannst du mir noch nicht einmal antworten? Oder ist dein Schweigen schon die Antwort?“

Die Ampel zeigte auf Grün.

Mit wütenden Schritten ging Anna über die Straße. Ihre Wut verrauchte erst, als sie ihre Wohnung betreten hatte.

Das Taxi hielt in einer kleinen Straße in Reinickendorf. Der Fahrer stieg aus, und öffnete die Beifahrertür. Nora stieg aus, und kurz danach Nadine. Der Fahrer öffnete den Kofferraum, und holte zwei alte Koffer aus Kunstleder und eine Umhängetasche heraus, die er Nora in die Hand drückte.

„Wir sind da, Nadine“, sagte sie.

Die Tür eines Einfamilienhauses öffnete sich, und zwei Männer, beide etwa vierzig Jahre alt und schlank, erschienen. Die Männer kamen auf beide zu?

„Du bist also Nadine“, sagte der vordere Mann. Er trug einen eleganten Anzug, aus braunem Kaschmire, einem weißen Hemd und eine passende Krawatte aus Seide. „Ich heiße Jens, und das ist mein Mann Lothar“, und deutete auf den Mann, der hinter im angekommen war.

„Und wir haben die große Ehre, das du eine Weile bei uns wohnen darfst. Wir haben ein Zimmer für dich freigemacht, und darin ein Bett gestellt. Und morgen gehen wir drei dann für dein Zimmer und dich alles einkaufen, was du brauchst!“

Eine kleine, sehr neugierige schwarze Katze lugte aus der offenen Tür hervor, und kam auf die Männer zu. „Das ist Minka“, sagte Lothar. „Sie ist unsere beste Freundin, und sie will dich unbedingt kennen lernen“.

Er nahm die Katze in seine Arme, streichelte sanft ihren Kopf und ihren Rücken, und reichte sie vorsichtig Nadine.

Die Katze schnurrte, als Nadine sie ebenfalls sanft streichelte.

„Siehst du, Nadine! Minka mag dich schon! Was hältst du davon, wenn Minka ab sofort bei dir schlafen darf“, schlug Jens vor.

Nadine nickte.

„Gut, abgemacht“, sagte Jens. „Ach, eh ich das vergesse. Hier ist der Schlüssel zu deinem Zimmer“. Er holte einen Schlüssel hervor, und gab ihn Nadine. „Das ist Dein Zimmer, Nadine, und niemand darf da hinein, es sei denn, du erlaubst es demjenigen. Und wenn du deine Ruhe mal haben willst, oben an deiner Tür haben wir ein Schild angebracht, das du in die Türleiste schieben kannst, und auf dem „Ich will alleine sein“ steht!“

Warum sind alle netten Männer entweder verheiratet oder schwul wie Jens und Lothar, dachte sie? Und warum sind die meisten Männer Arschlöcher?

Nadine begann zu weinen.

„He, Prinzessin, wein doch nicht“, sagte Jens. „Hier in de Nachbarschaft gibt es so viele Kinder in deinem Alter, und in der Nähe ist auch ein Spielplatz, den Lothar bei den Behörden durchgesetzt hatte“.

Nora war überrascht!

Ein schwuler Mann, der keine Kinder haben konnte, weil die Natur es nun einmal nicht so vorgesehen hatte, setzt sich für die Kinder heterosexueller Eltern ein? Warum hat kein Vater das getan, dachte sie?

Als ob Jens ihre Gedanken erraten hätte, sagte er zu ihr: „Wir können keine Kinder bekommen, aber das heißt noch lange nicht, das wir keine Kinder mögen! Sonst hätte Jutta vom Jugendamt, unsere beste lesbische Freundin seit Jahren, uns nicht Nadine als Pflegekind gegeben. Wir werden ihr die Liebe und die Unterstützung geben, die sie vorher nie hatte, wie Gerlinde, deine und auch unsere Freundin uns sagte.“

Gerlinde kennt die beiden und die Jugendamtsmitarbeiterin? Na, wer sagt denn, das „Vitamin B“ nicht doch zu was nütze ist? Und Nadine scheint sich hier auch wohl zu fühlen, und Vertrauen zu den beiden haben, überlegte sie. Dann war diese Entscheidung doch die beste, die ich treffen konnte!

„Nadine, ich muss jetzt langsam los“, sagte Nora, und blickte Nadine an. Nadine begann erneut zu weinen. „Bitte geh nicht fort, Tante“, sagte sie flehendlich!

„Ich muss aber gehen“, sagte Nora.

„Und wenn Nora jeden Tag dich besuchen kommen kann, oder du mit ihr telefonieren kannst“, schlug Lothar vor. „Wir würden dich auch jeden Tag zu Nora bringen, wenn du willst!“

„Sie hängt an dir“, sagte Jens, und blickte Nora an! „Sie braucht dich jetzt im Moment, Nora! Du bist ihre einzige positive weibliche Bezugsperson, die sie kennt. Könntest du nicht in Nadines Zimmer übernachten, um ihr die erste Angst zu nehmen?“

Nora überlegte.

Etwas wirklich Wichtiges hatte sie nicht vor, und sie hing auch an Nadine, wie sie sich eingestand.

„Okay“, sagte sie. „Und ich besuch dich auch, so oft ich kann“, sagte sie zu Nadine, deren Arme, nachdem sie die Katze losgelassen hatte, sich fest um ihre Beine schlangen.

„Und wir werden ihr ein eigenes Telefon einrichten“, sagte Jens!

„Na, dann komm“, sagte Nora, und griff nach Nadines Hand. Beide gingen, gefolgt von Minka und Jens und Lothar, die ihr Gepäck trugen, auf die Tür des Einfamilienhauses zu, das sich hinter ihnen schloss.

 

 

 

ENDE

 

 

 

 

Werden Nora und Doktor Novak sich näher kommen, oder wird sich Nora für Anna entscheiden?

Welches Geheimnis verbirgt Vivien?

Wie wird es Nadine bei ihren beiden schwulen Pflegevätern Jens und Lothar ergehen?

Wird Nadines Mutter ihre Tochter je wiedersehen?

Wenn Ihr auf diese und andere Fragen eine Antwort sucht, dann versäumt nicht die nächste Folge der „Macht der drei Hexen“!

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