Schamanische Märchen

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09 Nov 2013 23:40 #13560 von Mountain Dreamer
Der alte Schamane

Zufrieden und mit heiterem, von den alltäglichen Pflichten losgelöstem Gemüt, blickte der alte Schamane auf die weite Ebene hinunter. Obwohl er schon mehr als neunzig Winter gesehen hatte, war die Sehkraft seiner Augen so klar und scharf wie in der Jugend. Nichts entging ihnen.
Aus der Entfernung und gegen das Licht der Abendsonne, wirkten die Zelte seines Stammes wie in die Landschaft gesprenkelte, elfenbeinfarbene Pyramiden. Eine Antilopenherde zog grasend am Fluß entlang, die wie eine riesige blauschimmernde Schlange durch das Land mäanderte. Ein Raubvogel zog seine Kreise am Himmel und am Fuß eines mächtigen Felsblocks, kaum zwei Armeslängen entfernt, war eine Maus auf der Suche nach Insekten und Würmern. Ein seichter warmer Lufthauch strich über die Haut des alten Mannes und ihm war, als liebkose ihn der Wind, als verabschiede er sich von ihm wie von einem guten Freund. Ja, dachte er, das sind wir wohl Zeit meines Lebens gewesen, gute Freunde. Für ihn, den Mann, der mit den Geistern sprach und der die Erde, die Natur über alles liebte, war der Wind ein Verbündeter, lebendes Zeugnis einer geheimnisvollen Welt.
"Danke, Bruder Wind", sagte er mit freundlich klarer Stimme, "daß du noch einmal zu mir kommst in meinen letzten Stunden und mir deine Gunst erweist. Danke für die Hilfe und Unterstützung, die du mir selbstlos gewährt hast. Ich hoffe aus ganzem Herzen, du wirst andere finden, die dein wahres Wesen erkennen, so wie ich es erkannt habe." Der alte Schamane neigte leicht den Kopf. Wie auf ein verabredetes Zeichen fuhr der Wind durch sein langes weißes Haar und wirbelte es durcheinander, tanzte ein letztes Mal mit ihm. Der alte Mann lachte und seine Augen leuchteten wild und leidenschaftlich.
Dann war der Wind fort und wandelte wieder auf seinen eigenen Pfaden, die keines Menschen Seele ergründen kann.
Natürlich war das Alter nicht spurlos an dem Schamanen vorübergezogen, aber irgendwann hatte er aufgehört, die Jahre zu zählen. Was, so hatte er sich damals gefragt, spielen Jahre noch für eine Rolle, wenn die wahre Kunst im Erleben des Augenblicks liegt. Er schmunzelte. Jetzt, im hohen Alter, konnte er die Dinge mit Gelassenheit betrachten. Aber er wußte, es war nicht immer so gewesen. Manche Unbedachtheit war ihm in seiner Jugend über die Lippen gekommen, und seine ungestüme Art hatte ihm des öfteren empfindliche Strafen seitens des Vaters eingebracht.
Ein stolzer, würdevoller und gerechter Mann war sein Vater gewesen, an den er sich immer mit tiefer Liebe erinnerte. Eines Tages war er gegangen, ohne ein Wort des Abschieds, wie es zu seinem verschlossenen, in sich gekehrten Wesen paßte. Noch am Abend zuvor hatte er sich sehr bemüht, seine Gefühle zu verbergen, aber an der Art, wie er beim Abendessen seine Augen niederschlug und wie seine Stimme leiser wurde, erkannten alle, wie heftig diese waren. Doch niemand hatte ihn darauf angesprochen. Niemand hatte den Mut besessen, die unsinnige Tradition zu brechen, nach der man die hohe Stellung des Medizinmannes dadurch anerkannte, daß man schwieg, bis er das Wort an einen richtete. Und diese Regel galt besonders in der eigenen Familie. So hatte sein Vater sich in die Einsamkeit zurückgezogen, um allein zu sterben, so wie er selbst es jetzt tat.
Seit zwei Tagen saß der alte Schamane hier und sah auf das Stück Land hinunter, das ihn Zeit seines Lebens genährt hatte. So viele Sommer und Winter hatte er kommen und gehen sehen. Die Jahreszeiten waren ihm wie grundverschiedene Brüder gewesen. Der Frühling, ein lebensfroher Geselle, voll unstetem Tatendrang und sinnlicher Triebhaftigkeit. Der Sommer, ein hitziger Bursche voller Leidenschaft, der hin und wieder zur Trägheit neigte. Der Herbst, ein zu Zeiten schwermütiger Wanderer in den Gefilden der Einsamkeit und lächelnder Hinweis auf die inneren Welten. Und der Winter, kalter, eisiger Bruder, Mahner und Künder der Endlichkeit allen Lebens.
Und dieser kalte eisige Bruder hatte ihm unmißverständlich die Hand auf die Schulter gelegt. Deine Zeit, alter Mann, hatte er gesagt, ist vorbei. Einige Tage gewähre ich dir, damit du Rückschau auf dein Leben halten kannst. Nutze sie wohl.
Daraufhin hatte der alte Schamane all seine bescheidenen Habseligkeiten in einen Beutel getan und war ruhigen, bedächtigen Fußes durch das Zeltlager geschritten. Er erinnerte sich noch einmal der verstorbenen Freunde, hatte ihnen still seinen Dank ausgesprochen und sich dann von den noch lebenden verabschiedet. Am Ende war er zu der Frau gegangen, die sein halbes Leben mit ihm geteilt und ihm drei Töchter geschenkt hatte. Er liebte sie alle aus tiefstem Herzen und doch, mußte er sich eingestehen, war sein größter Wunsch ihm verwehrt geblieben: Der Wunsch nach einem Sohn, den er in die Jahrhunderte alte Lehre einweisen und der jetzt sein Amt hätte übernehmen können. Aus diesem Grund hatte er mit vielen Frauen des Stammes das Lager geteilt, doch es war wie verhext gewesen. Wenn sie ihm ein Kind gebaren, waren es immer Töchter. Schließlich hatte er es als einen Wink des Lebens genommen und sich in sein Schicksal gefügt.
Immer war er, was seine Arbeit betraf, allein gewesen, hatte Kranke geheilt, mit den Geistern gesprochen und den Stimmen der Natur gelauscht. Und so allein, aber eins mit der Welt um sich her, wartete er jetzt auf seinen Tod. Kein Kummer oder gar Wehmut belasteten ihn. Er hatte ein erfülltes, leidenschaftliches Leben gelebt. Es gab wenig, was er bedauerte.
Und während er wartete, beobachtete er ein letztes Mal den Lauf der Sonne. Ließ sich von ihren hellen Strahlen wärmen und von ihrer lebenspendenden Kraft durchdringen.
Schließlich, als die Abenddämmerung hereinbrach, begann er leise ein Lied anzustimmen. Zuerst klangen die Töne rauh und mißgestimmt. Doch dann löste sich etwas in seinem Herzen, in seinem Hals, und der Gesang vereinte sich mit den länger werdenden Schatten der Umgebung, verschmolz mit ihnen zu etwas Unerklärlichem.
Nach einer Weile verstummte er und ließ den Blick erneut über das weite Land schweifen. Mit jedem Atemzug nahm er es in sich auf, erinnerte sich all der Gefühle und Empfindungen, im Guten wie im Schlechten, die es ihm geschenkt hatte. Er wollte nichts zurücklassen, wollte alles mit durch den Spalt zwischen den Welten nehmen, um dann von der Erde zu verschwinden. Immer war ein Grundsatz seines Lebens gewesen, einen Ort so zu verlassen, wie man ihn vorgefunden hatte.
Der alte Schamane lächelte. Dir selbst treu bis zum Ende, dachte er, und schalt sich einen Narren. Aber es gab nun einmal Dinge, die waren einer höheren Welt zugeordnet und darum unverrückbar.
Die Schatten verlängerten sich und gingen in das Dunkel der Nacht über. Der Wind kühlte ab und heulte eine Zeitlang in den Felsritzen. Nicht weit entfernt huschte ein nächtlicher Jäger vorbei, vielleicht ein Marder oder ein Dachs.
Der alte Schamane begann wieder einen Gesang anzustimmen. Diesmal war es sein ureigenstes Lied. Ein Lied, das nur seine Seele hervorbringen konnte, und das er sich bis zu dieser Stunde aufgespart hatte, der Stunde seines Todes. Er schloß die Augen.
Weit hinaus trugen die Töne in die sternenklare Nacht, sprachen von Trauer und Freude, von Menschen, die viel zu früh gegangen waren und von den gemeinsamen Abenden mit ihnen. Von knisternden Lagerfeuern und dem Erzählen endloser Geschichten an frostigen Winterabenden. Von der Jagd auf den Bison, von Glück und Schmerz. Von den Männern und Frauen, die eine Rolle in seinem Leben gespielt hatten und von den Kindern, die von der Hoffnung in die Zukunft zeugten. Deutlich sah er in der Welt seiner Erinnerungen die Schicksalsfäden, die seinem Leben den Stempel aufgedrückt hatten. Aber er sah auch die Macht, die er durch seine Berufung erlangt hatte, um eben dieses Schicksal zu beeinflußen. Er hatte diese Macht benutzt und hatte sich von ihr benutzen lassen, je nachdem wie die Zeichen der Natur, die Zeichen des Geistes es ihm eingegeben hatten.
Das Lied entströmte seinen Lippen und entwickelte eine eigene innere Kraft, die ihn forttrug und seine Gedanken zum Stillstand brachten. Ein Zustand, der ihm nicht neu war und darum auch keine Angst erzeugte. Im Gegenteil. Die Stille war für ihn immer ein Ort der Freiheit gewesen, die ungeahnte und unbekannte Wahrnehmungsräume eröffnete. Sie war die Quelle des Schöpferischen, eine rätselhafte, geheimnisvolle Welt. Jetzt, am Ende seines Lebens, hoffte er, ganz in diese Welt überzugehen.
Während der Mantel der Nacht ihn umhüllte und die Natur in schwarzer Formlosigkeit verharrte, rief er gelassen seinen Tod herbei. Komm, dunkler Bruder, hieß er ihn willkommen. Nimm mich mit auf die große Reise.
Der alte Schamane war sicher, mit allem abgeschlossen zu haben, und darum wunderte es ihn, daß nichts geschah. Er wußte nicht genau, wie er sich das Ende seines Lebens vorzustellen hatte. Ob ihn eine kalte Hand berührte oder ob ein Schauer durch seinen Körper rieselte - und dann war es vorbei. Aber was immer er sich auch gedacht haben mochte; nichts dergleichen geschah. Er saß da und wartete, während die Stunden vergingen.
Als der erste graue Schimmer am Horizont die Farben und Formen der Welt zu neuem Leben erweckte, schaute er verwundert um sich.
Wo blieb der Tod?
Eine Bergammer begann zu singen und in einiger Entfernung sah er eine Krähe fliegen, deren rauhes Krächzen durch die morgendliche Stille hallte. Und während er darüber nachdachte, warum er noch lebte, hörte er plötzlich das Geräusch eines fallenden Steins. Vielleicht ein Berglöwe oder ein Schaf, vermutete er. Denn nach einem größeren Tier hatte es sich angehört.
Gerade als er aufstehen wollte, um nachzusehen, tauchte das Gesicht eines Indianers hinter einer Felskante auf. Verblüfft blieb der junge Mann stehen und musterte den alten Schamanen neugierig. Dann senkte er den Kopf, weil er bemerkte, daß er es an der nötigen Ehrerbietung fehlen ließ.
"Komm näher", forderte ihn der alte Schamane auf, "und setz dich."
Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander und blickten über die weite Ebene.
"Was tust du hier", brach der alte Mann die Stille, "allein und so weit vom nächsten Lager entfernt? Hast du deinen Namen gesucht?"
"Ja", antwortete der Jüngere.
"Hast du ihn gefunden?"
"Nein."
"Das ist nicht gut."
Der junge Mann sah ihn an.
"Ich kenne dich", sagte er dann. "Ich habe dich gesehen, beim Treffen der Medizinmänner im letzten Sommer. Du bist der Schamane des Stammes, der dort unten in der Ebene lagert."
"So ist es."
"Etwas Seltsames ist um dich."
"Was meinst du?"
"Ich spüre etwas, eine Kraft, die mir sehr nahe ist, und doch kann ich sie nicht einordnen."
"Daß du diese Kraft spürst, liegt an deiner Visionssuche. Sie hat dir die Pforten zur anderen Wirklichkeit geöffnet. Daß du sie nicht einzuordnen weißt, an deiner Jugend. Was du wahrnimmst, ist der Tod. Er umkreist mich, aber er nimmt mich nicht mit."
"Vielleicht ist die Zeit noch nicht reif?"
"Die Zeichen waren eindeutig."
Darauf wußte der junge Indianer nichts zu sagen. Der alte Schamane war weithin bekannt für seine starke Verbindung zum Großen Geist, und sein hohes Alter verlangte die gebührende Achtung.
Wieder blickten sie schweigend auf die Ebene hinunter.
Nach einigen Minuten kam dem alten Schamanen der Gedanke, den jungen Mann fortzuschicken, aber irgendetwas hinderte ihn, seine Absicht in die Tat umzusetzen. Statt dessen begann der Wind zu wehen. Anfangs war es nur eine kaum merkliche Brise, doch dann fegte er mit heftigen Böen um die beiden Männer und zerrte an ihren Kleidern. Keiner der beiden sagte ein Wort. Sie wußten, dieser Wind war ein Omen und es galt, aufmerksam zu sein.
Der Schamane begann sich hin und her zu wiegen, war ganz von der Magie des Augenblicks eingenommen. Er schloß die Augen und sank in seine innere Welt. Etwas kam aus der Entfernung auf ihn zu. Und als er schließlich erkannte, wer da kam, kräuselte ein Lächeln seine Lippen. Es war der Tod. Jetzt war der Moment seines Abschieds gekommen, und er war nicht allein. Ein junger fremder Mann war bei ihm, und er konnte ihm eine Lehre mit auf den Weg geben, die er sein Lebtag nicht vergessen würde: Die Lehre, daß man dem Tod gelassen und heiteren Gemüts entgegenschreiten konnte. Welch ein Geschenk, dies als letzten Akt auf Erden weitergeben zu können.
Doch in dem Augenblick, als er glaubte, daß der Tod ihn berühre und mitnehme, blieb der dunkle Bruder stehen. Zwei kohlrabenschwarze Augenlöcher blickten dem alten Schamanen aus der Tiefe des eigenen Wesens entgegen.
Dann lachte der Tod und sprach:
"Ich habe dich nicht gerufen, um dich zu holen. Ich habe dich gerufen, damit du dem jungen Mann seinen Namen gibst."
Der alte Schamane öffnete die Augen und blickte erstaunt zu dem jungen Indianer an seiner Seite.
"Du weißt, daß ich hierher gekommen bin, um zu sterben?"
"Ja", bestätigte der junge Mann. "Du hast es erwähnt."
"Und du hast keine Angst?"
"Nein."
"Und du hast deinen Namen nicht gefunden?"
"Nein. Aber warum fragst du mich das?"
"Warte einen Moment."
Der alte Mann schloß die Augen.
Der Tod war noch da.
"Also", fragte der alte Schamane. "Wie ist sein Name?"
"Der den Tod nicht fürchtet."
Als der alte Schamane das hörte, lachte er laut und wußte plötzlich, welch ein Narr er gewesen war. Die Zeichen waren eindeutig, hatte er gesagt. Nichts war eindeutig, nicht einmal der Tod. Er schüttelte belustigt den Kopf, öffnete die Augen und legte seine Hand auf den Arm des jungen Mannes.
"Deine Suche ist beendet", sagte er. "Ich weiß deinen Namen."
"Du?"
"Mein Tod hat ihn mir gesagt. Dein Name ist `Der den Tod nicht fürchtet`.
"Der den Tod nicht fürchtet", wiederholte der junge Mann. "Der Name gefällt mir."
"Ja. Ein guter, ein starker Name", bestätigte ihm der alte Schamane. "Und er sagt mir, das ich endlich einen Nachfolger gefunden habe." Und den Sohn, dachte er, den ich mir Zeitlebens gewünscht habe. Aber das behielt er noch für sich. "Ich bin nicht hier, um zu sterben", fuhr er fort, "sondern um den Schatz des Wissens weiterzugeben.
"Du meinst ...?"
"Ja." Sein liebevoller Blick richtete sich auf die Gestalt des jungen Indianers. "Die Zeichen sind eindeutig, oder?"
Dann lachte er schallend.

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Schamanische Märchen www.wer-kennt-wen.de/forum/showThread/hqmf56msmnlz

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09 Nov 2013 23:43 #13561 von Mountain Dreamer
Wolfswelpe und Schlangenei ein Schamanisches Märchen aus dem Buch: Traumfeuer

Wolfswelpe und Schlangenei
Teil 1

Geduckt jagte der alte graue Wolf über die ver­-
harschte Schneefläche. Kaum mehr als
ein Schemen in der klirrend kalten
Winternacht. Er folgte keiner der
frischen Fährten, welche immer wieder seinen Weg kreuzten,
keiner noch so verlockenden Witterung widmete er auch nur
den Hauch seiner Aufmerksamkeit; er spürte den beißenden
Hunger nicht. Seit vor Stunden der vertraute Ruf in ihm erklun­-
gen war, hetzte er ohne Rast dahin. Nur kurz hatte er argwöh­-
nisch geknurrt. Doch diese Spur von Mißtrauen war schnell
wieder verflogen. Generation um Generation war der Ruf das
Zeichen gewesen. Und so folgte er dem unsichtbaren Weg,
den ihm sein Herz wies.
Wieder vernahm er den vertrauten Ruf, und jetzt klang er nicht
mehr nur tief in seinem Innern, dort, wo die Erinnerung an jene
Zeit zuhause war. Unruhig zuckten die Ohren des grauen
Wolfes. Dumpf drang der Klang der Trommeln und ein gleich­-
förmiger, eindringlicher Gesang aus einem kleinen Zelt am
Waldrand. Vorsichtig witternd trabte der Wolf weiter. Vor dem
Zelt blaffte er kurz und heiser auf, bevor er den Kopf zurückleg-­
te und in den Nachthimmel heulte.
Das Trommeln und der Gesang waren verstummt, die Ein­
gangsplane zurückgeschlagen. Flackernder Feuerschein zuck­-
te über den Schnee vor dem Zelt. Ein alter Mann trat heraus.
Er sah den Wolf aufmerksam an. Ein wehmütiges Lächeln
huschte über seine Lippen. Der alte Mann kniete in den
Schnee und vergrub sein Gesicht im dichten Winterfell des Wol-­
fes. So saßen die beiden reglos in der kalten Nacht. Als der
Mann sich leicht zu wiegen begann und dabei vor sich hin­
summte, grollte es tief im Bauch des Wolfes. Er preßte seine
kalte, feuchte Nase in die Armbeuge des Mannes und stubste
ihn damit immer wieder an.
„Schau ihn dir an", sagte der Mann endlich, „und dann ent­-
scheide."
Ein kräftiger Stoß schubste den alten Mann in den Schnee. La-­
chend lag er auf dem Rücken und zerzauste dem grauen Wolf
das Fell.
Während es lautlos zu schneien begann, tollten der alte Mann
und der graue Wolf im Schnee wie übermütige Kinder.

***

„Doran! Doran!"
Der Schrei eines Jungen, dessen Stimme sich zu verändern be-­
gann, ließ den alten Mann von der Feldarbeit aufblicken. „Do­-
ran! Ein Wolf! Ich habe einen riesigen grauen Wolf gesehen!
Ganz nah war er!"
Der alte Mann rammte den Spaten in die schwarzglänzende
Erde und ging dem heranstürmenden Jungen entgegen.
„Was hat er gemacht, Mischa?" fragte er, als dieser vor ihm
stand.
„Angestarrt hat er mich. Einfach angestarrt. Er lief auch nicht
weg, als ich mir Steine nahm."
„Hast du denn nach ihm geworfen?" wollte Doran wissen.
Mischa senkte den Kopf und runzelte grüblerisch die Stirn.
„Nein", antwortete er. „Ich ... Da war etwas ... Als ich in seine
Augen sah ..."
Liebevoll nahm Doran den Jungen in den Arm.
Als die beiden zum Haus gingen, lächelte der alte Mann.

***

Der schon herbstlich kühle Wind trieb vom nahen Dorf fröhli­-
che Musik herüber. Hunde kläfften und jaulten, betrunkenes
Lachen und schrilles Gekicher war zu hören. Doran verzog das
Gesicht.
Es war ein fruchtbares Jahr gewesen. Die Saat hatte reichlich
Früchte getragen, die Ernte war eingebracht, die Felder schöpf-­
ten neue Kraft. Im Dorf wurde das Dankesfest für die Erde ge­-
feiert. Später am Abend würden die Heranwachsenden mit ei­-
ner Zeremonie in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen
werden.
„Warum gehen wir nicht hin, Doran?" wollte Mischa nun
schon zum wiederholten Male wissen.
„Weil wir nichts zu suchen haben, dort!" bekam er knappe Aus-­
kunft.
„Aber Doran!" Der Junge ließ nicht locker. „Auch ich werde er­-
wachsen. Schau doch, ich bekomme schon einen Bart!" Stolz
zupfte Mischa an der Andeutung eines leichten Flaumes.
„Glaubst du wirklich, daß du erwachsen bist, wenn wir heute
abend ins Dorf gehen und an dem Fest teilnehmen?" fragte
der alte Mann.
Mischa zuckte betrübt die Schultern. „Alle in meinem Alter be­-
kommen heute einen jungen Hund geschenkt, als Zeichen,
daß sie nun erwachsen werden."
Voller Verachtung spuckte Doran ins Gras. Doch dann wandel­-
te sich sein grimmiger Gesichtsausdruck. „Nimm dein Messer
und dein Beil", forderte er den Jungen auf. „Ich will dir etwas
zeigen."
So sehr Mischa den alten Mann auch bestürmte und mit Fra­-
gen überhäufte. Doran schwieg. Nach Stunden erreichten sie
ein kleines Zelt am Waldrand. Der alte Mann band die Ein­-
gangsplane zur Seite.
„Geh und suche trockenes Holz, viel Holz. Die Nächte können
schon wieder kühl werden", sagte er zu Mischa. Er selbst ging
in das Zelt, legte sich auf ein weiches, dickes Fell und schloß
die Augen.
Ein wenig mürrisch gehorchte der Junge. Er schleppte Holz
heran und stutzte es dann mit dem Beil auf die richtige Größe.
Während Doran friedlich schlief, bereitete Mischa die Feuer­
stelle vor. Dann rieb er seine Feuersteine, bis sich ein winziger
Funke im trockenen Moos festgesetzt hatte. Schon bald knister-­
te ein kleines Feuer im Zelt. Der alte Mann streckte sich gäh­-
nend und setzte sich neben Mischa.
„Als ich jünger war", erzählte er schließlich, „war ich oft hier,
wenn ich wirklich allein sein wollte und von allem weit ent­-
fernt."
Der Junge schaute neugierig, sagte aber nichts.
„Der Vater meines Vaters hat diesen Platz ausgesucht und das
Zelt errichtet. Alle Jungen unserer Familie sind hier gewesen,
wenn die Zeit dafür gekommen war."

Wehmütig blickte der alte Mann den Jungen an, dann kramte
er umständlich unter den Fellen hinter seinem Lager. Schließ­-
lich hielt er eine kleine Handtrommel in Händen. „Für dich, Mi­-
scha", sagte er leise. „Ich habe sie für dich gemacht, und heute
nacht werde ich dir zeigen, wie du sie benutzen sollst."
Mit leuchtenden Augen nahm Mischa die Trommel entgegen.
„Zeig es mir, Doran", rief er. „Komm, zeig es mir!"
„Nur langsam", beruhigte ihn der Alte. „Bevor wir damit begin­
nen, muß das Feuer noch viel heißer brennen."
Als die Nacht gekommen war, loderte das Feuer in dem klei-­
nen Zelt hoch und heiß. Doran hatte große Steine um die rot­-
glühende Glut aufgeschichtet und Mischa nach Wasser aus
dem nahen Bach geschickt. Als alles zu seiner Zufriedenheit ge-­
richtet war, zog der alte Mann die Plane am Eingang des Zeltes
zu. Dann begann er sich zu entkleiden.
„Zieh dich auch aus, Mischa", forderte er den verständnislos
schauenden Jungen auf. „Bevor wir die Trommeln benutzen,
werden wir gemeinsam schwitzen."
So dicht wie möglich setzten sich die beiden an die schwarzrot
wabernde Glut. Doran nahm einen Eimer mit Wasser und goß
es langsam über die großen Steine. Laut zischend verdampfte
es, kaum daß es die Steine benetzt hatte. Wie dichter, undurch­-
dringlicher Nebel füllte der Wasserdampf das Zelt und legte
sich in feinen Tröpfchen auf die nackte Haut von Mischa und
Doran. Wieder und wieder goß der alte Mann Wasser über die
heißen Steine. Mischa schwitzte wie noch nie in seinem Le­-
ben. Die Luft war undurchdringlich dick und heiß. Der Atem
des Jungen ging schwer. Er keuchte. Doran saß gelassen ne­-
ben ihm. Die Augen geschlossen, den Mund halb geöffnet,
brummte er eine eintönige Melodie vor sich hin und wiegte
sich dazu im Takt. Er reichte Mischa die kleine Trommel und
nahm sich eine größere, deren Leder abgenutzt glänzte. Dann
begann er, mit den Fingern einer Hand, einen langsamen, ein­
dringlichen Rhythmus zu schlagen. Mischa sah ihm aufmerk­-
sam zu, obwohl der unaufhörlich rinnende Schweiß in seinen
Augen brannte.
Ein wenig zögernd und noch leise schlug der Junge die Trom-
mel, so wie der alte Mann es ihm vormachte. Unmerklich ver-­
änderte sich Dorans Trommelspiel, wurde lauter, härter, schnel­-
ler. Mischa folgte diesem neuen Rhythmus mühelos. Auch er
hatte jetzt die Augen geschlossen. Seine Hände wirbelten über
das straff gespannte Leder. Ihm fiel nicht auf, daß er schon seit
geraumer Zeit einen eigenen Rhythmus gefunden hatte, einen
eigenen Takt. Einem langsam und kräftig schlagenden Herzen
gleich, begleitete der alte Mann die wilden Schläge und Wirbel
des Jungen. Stunde um Stunde saßen die beiden in dem klei­-
nen Zelt, umhüllt von heißem Wasserdampf und trommelten,
jeder auf seine Art, und doch gemeinsam, bis ihre Hände
schmerzten und die Finger taub geworden waren.
„Es ist genug", sagte Doran und legte die Trommel zur Seite.
Keuchend vor Anstrengung folgte Mischa seinem Beispiel. Der
alte Mann erhob sich und nestelte an der Eingangsplane. Ein
kühler Wind fauchte in das Zelt und wirbelte den Dampf durch-­
einander. Aufatmend trat Mischa hinaus und schüttelte sich
wie ein nasser junger Hund den Schweiß aus den Haaren und
vom Körper.
Als er sich in das taubedeckte Gras fallen lassen wollte, ließ ihn
ein dunkles Grollen zurückfahren. Nur wenige Schritte ent­-
fernt saß ein gewaltiger, grauer Wolf. Seine Augen blitzten im
spärlichen Licht der Nacht.
Vorsichtig setzte Mischa einen Fuß zurück.
„Bleib wo du bist", hörte er Dorans leise Stimme dicht hinter
sich. Reglos gehorchte der Junge. Fast vergaß er zu atmen vor
Aufregung und Angst.
Der Wolf richtete sich auf. Sein Nackenhaar gesträubt, den
Kopf weit nach vorne gestreckt, mit einem kaum hörbaren, tie­f
en Knurren, kam er auf Doran und Mischa zu. Dann stand er
still vor dem Jungen und schnüffelte prüfend. Das Knurren er­
starb und der graue Wolf drückte seine feuchtglänzende, kalte
Schnauze in die geöffnete Hand Mischas.
Der alte Mann, der mit angehaltenem Atem hinter Mischa ge-­
standen war, stieß einen freudigen Laut aus. „Du scheinst ihm
zu gefallen. Aber eigentlich habe ich auch nichts anderes er­
wartet!"
Er ließ sich nieder und umarmte den grauen Wolf. Seine Fin­-
ger durchwühlten das Fell und strichen zärtlich über Kopf und
Schnauze.
Mischa stand, vor Aufregung bebend, neben den beiden. So
viele Fragen brannten ihm auf der Zunge, so viel, was er nicht
verstand. Und doch, er schwieg. Das stumme Zwiegespräch
des alten Mannes mit dem grauen Wolf durfte er nicht stören,
das spürte er. Schließlich erhob sich Doran. Doch bevor Mi­-
scha etwas sagen konnte, nahm ihn der alte Mann in den Arm.
„Das ist mein Bruder", erklärte er und deutete auf den grauen
Wolf. Mischa riß die Augen auf. doch Doran redete ungerührt
weiter: „Er ist in mir und ich in ihm. Zusammen gingen wir den
Weg von der Jugend hin zum Erwachsenen."
„Ich verstehe nicht ...". stammelte Mischa. „Was ...?"
„Was soll ich dir viel erklären", antwortete Doran. „Du mußt er­
leben. Selber sehen. Komm!"
Sie folgten dem grauen Wolf. Nur wenige Schritte entfernt,
beim dichten Gebüsch eines Holunderstrauches, blieb der Wolf
stehen. Mischa konnte, verborgen unter den Zweigen, eine
kleine Kuhle im Gras sehen. Und darin lag, mit funkelnden Au­-
gen neugierig herausspähend, ein Wolfswelpe.
„Geh schon hin", ermunterte Doran den Jungen. „Begrüße
ihn."
„Heißt das. ich bekomme diesen kleinen Wolf geschenkt?"
fragte Mischa voller Freude.
„Nein!" Der bestimmte Ton in Dorans Stimme ließ den Jungen
innehalten. „Er wird dich begleiten und du ihn. Du wirst von
ihm lernen und er von dir. Gemeinsam sollt ihr erwachsen wer­
den und euren Weg im Leben finden. Er ist kein Geschenk."
Doran sah, wie die Enttäuschung einen Schatten auf Mischas
Gesicht legte.
„Nein", wiederholte der alte Mann und schüttelte heftig den
Kopf. „Es mag sein, daß die Jungen im Dorf einen kleinen
Hund geschenkt bekommen. Doch mit dem altüberlieferten
Brauch hat dies nichts zu tun. Ich kann mich noch gut an die
Zeit erinnern, als jeder Junge ein Wolfswelpen erhielt, wenn
die Zeit dafür gekommen war. Und mit diesem jungen Wolf
wurde er dann in die Wälder geschickt. Gemeinsam sollten sie
erwachsen werden und lernen zu überleben."
Mischa runzelte ein wenig ungläubig die Stirn. „Und weshalb
bekommen die Jungen heute von den Erwachsenen Hunde ge­-
schenkt?"
„Weil ein kleiner Hund leicht erzogen und abgerichtet werden
kann, bis er aufs Wort gehorcht!" stieß Doran bitter hervor.
Mischa setzte sich neben den Holunderstrauch und streckte
vorsichtig seine Hand aus. Ein wenig unschlüssig zog der klei­-
ne Wolf die Lehen hoch und versuchte ein grimmiges Knur­
ren. Dann kroch er. flach an die Erde gepreßt, langsam auf Mi-
schas geöffnete Hand zu. Er beschnüffelte sie ausgiebig und
leckte mit seiner hellroten, rauhen Zunge über die Fingerspit­-
zen. Sichtlich zufrieden kringelte er sich, an Mischas Hand ge­-
schmiegt, zusammen, steckte seine kleine Nase in den wollwei-­
chen Pelz und brummte wohlig vor sich hin.
„Er wird deinen Geruch und den Geschmack deiner Haut nun
nie mehr vergessen", erklärte Doran und setzte sich neben
ihn. „Laß ihn ruhen. Er hat eine lange Reise hinter sich, und
ihr beide habt einen weiten Weg vor euch."
Der alte Wolf drängte sich zwischen sie und legte seine grau­
haarige Schnauze auf ein Knie Dorans. Dieser beugte sich
über ihn und blies ihm zärtlich ins Ohr.
Als Doran sich wieder aufrichtete und Mischa anschaute, wa­-
ren seine Augen dunkel wie Waldseen in sternloser Nacht.
„Wenn der Morgen graut, werde ich dich verlassen, Mischa.
Du kannst den Winter über hier in diesem Zelt bleiben oder ge-­
hen, wohin du magst. Wenn du deinen Weg im Frühjahr zu­-
rück zu mir findest, werde ich mich freuen."
„Aber warum denn jetzt schon. Doran?" Der kleine Wolf knurr­
te leise und richtete sich tolpatschig auf. Mischa nahm ihn in
die Arme und bettete ihn auf seinen Schoß.
„Weil es an der Zeit ist, daß du erwachsen wirst", antwortete
der alte Mann. „Und du sollst erwachsen werden, wie es der
alte Brauch verlangt!"
Fast bis zum Anbruch der Morgendämmerung saßen der alte
Mann und der Junge noch vor dem Zelt. Mischa fragte und
fragte. Und Doran erzählte und erzählte. Zwischen den beiden
ruhte der große graue Wolf mit geschlossenen Augen. Manch-­
mal zuckten seine Ohren, geradeso, als würde er alles verste­-
hen und sich gern erinnern an eine Zeit, die längst vergangen
war.
Als Mischa am nächsten Morgen von den Strahlen der Sonne
wachgekitzelt wurde, war der alte Mann und mit ihm der graue
Wolf verschwunden.

***



Traumfeuer: Ein Märchenbuch: von:
(Roland Kübler)(Jürgen Werner)(Norbert Sütsch)
im
Verlag Stendel
Dagmar Kübler
Postfach 1713, 71307 Waiblingen
Mozartstr. 42, 70734 Fellbach

Tel. 0711/57700888
Fax 0711/57700888
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www.stendel-verlag.de/stendel.htm

siehe auch:
Gruppe: Natur und Volksmärchen
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Wolfswelpe und Schlangenei
Teil 2


Der Herbst hatte den Wald in eine große Farbpalette verwan­-
delt. Stürme zerzausten die Wipfel und trieben trockenes Laub
vor sich her. Mit seiner klirrenden Faust aus Eis hatte danach
der Winter dem zart keimenden Frühjahr lange getrotzt. Doch
nun barst das Eis der Seen, und die dünner werdende Schnee­
decke konnte dem Aufknospen der ersten Blüten nicht länger
widerstehen.
Doran reparierte das Schindeldach seines Hauses, besserte die
Fenster aus, in welche sich der eisige Frost des Winters gekrallt
hatte und genoß ansonsten die milde Frühjahrssonne.
An einem dieser, vom Atem des aufkeimenden Lebens gefüll­
ten Abende, wurde er in seinen stillen Betrachtungen gestört.
Nahebei heulte ein Wolf sein Lied dem vollen, satten Mond zu,
der am nächtlichen Himmel aufgezogen war. Mit geschlosse­-
nen Augen blieb der alte Mann auf der Bank vor seinem Haus
sitzen. Wieder erfüllte das ungestüme, kraftvolle Heulen eines
Wolfes die Dunkelheit der Nacht. Doran lächelte. Dann stand
er auf, legte seinen Kopf in den Nacken, die Hände an den
Mund. Sein Ruf war der eines alten, wissenden Wolfes. Ein
Ruf. der die geheimnisvollen, wispernden Geräusche des Wal-­
des in Ehrfurcht verstummen ließ.
Raschelndes Laub, unter schnellem Lauf zurückschnellende
Zweige, brechende Äste zerrissen die Stille nach dem Wolfsruf
Dorans. Dann hetzte eine dunkle Gestalt in langen Sätzen aus
dem Wald heran. Der alte Mann breitete die Arme aus, und Mi­-
scha warf sich so heftig gegen ihn, daß Doran zurücktaumelte.

An der Feuerstelle vor dem Haus saßen sie sich gegenüber und
betrachteten einander liebevoll. Schrundig, von kleinen aufge-
schürften Kratzspuren, war Mischas Haut. Gewachsen war er,
und in seinem Körper wohnte die ungebändigte Kraft der Wild-
nis. In seinem Haar hatten sich einige Kletten verfangen und
es verknotet. Aber das Feuer in seinen Augen leuchtete leben-
dig wie der neugeborene Tag nach gewitterdurchtoster Nacht.
„Da bin ich wieder", lächelte Mischa.
Stumm und gleichzeitig voller Stolz nickte Doran. Der junge
Mann, der da bei ihm saß, hatte wirklich nichts mehr mit dem
Heranwachsenden zu tun, den er im vergangenen Herbst ver-
abschiedet hatte.
„Wo ist dein Wolf?" fragte er schließlich.
„Er ist zu seinem Rudel zurückgekehrt", antwortete Mischa.
Fragend hob Doran seine Augenbrauen.
„Keine Sorge", beruhigte Mischa den alten Mann. „Er ist in
mir und ich in ihm. Ich werde seinen Ruf hören und er den mei-
nen. Wir sind Brüder geworden."
Zufrieden nickte Doran und warf einen dicken Scheit Fichten-
holz auf das funkensprühende Feuer.
Dann erzählte Mischa von der Zeit, in welcher er alleine mit
dem Wolf zusammen war. Wie er Waldmäuse für ihn gefangen
hatte, bis dieser groß genug war, selbst zu jagen. Und wie der
junge Wolf, im harten Winter, ihn mit Nahrung versorgt hatte.
Wie sie miteinander gekämpft hatten als er versuchte, ihn dazu
zu bringen, seinen Befehlen zu gehorchen. Und wie ihm der
Wolf später das Wunder seines nächtlichen Rufes gelehrt hatte.
Ohne etwas dazu zu sagen, hörte ihm Doran aufmerksam zu.
Das wohltuende Schweigen des Verstehens hüllte die beiden
ein, als Mischa geendet hatte.
Am nächsten Morgen erwachte der alte Mann durch die wuchti-
gen Schläge einer Axt. Er trat vor sein Haus und sah Mischa,
der am Waldrand einen Baum fällte. Als er zu ihm ging, wisch-
te sich der junge Mann den Schweiß aus dem Gesicht und lehn-
te sich auf die große Axt. „Ich werde mir ein Haus bauen", sag-
te er.
„Das ist gut", erwiderte Doran, ging zurück und kehrte kurz
darauf wieder, seine eigene Axt über die Schulter gelegt.
Im frühen Sommer war das Haus fertiggestellt. Es lag jenseits
der Felder, am anderen Rand der Lichtung.
Abends saßen die beiden oft zusammen, besprachen die tägli-
che Arbeit auf dem Feld, die nächtlichen Jagdausflüge Mi-
schas, beobachteten den Mond oder schwiegen einfach lange
Zeit gemeinsam. Manchmal wanderten sie zu dem kleinen Zelt
im Wald, entzündeten dort heiße Feuer, schwitzten sich die
Last des Alltags aus dem Leib und trommelten und sangen.
Eines Tages sagte Mischa zu Doran: „Ich fühle mich einsam in
meinem Haus. Ich werde ins Dorf gehen, um nach einer Frau
für mich zu suchen."
„Es ist an der Zeit", sagte Doran und nickte bedächtig.
In den folgenden Wochen und Monaten bekam Doran den jun-
gen Mann kaum mehr zu sehen. Tage- und nächtelang blieb er
verschwunden, und die Tür zu seinem Haus war verschlossen.
Als die Bäume schon wieder leergefegt waren, und der Winter
sich mit ersten Frostnächten ankündigte, klopfte es spät am
Abend an Dorans Tür.
Es war Mischa. Wortlos trat er ein und setzte sich.
Der alte Mann ging einen Krug mit Wein holen.
„Was ist mit mir?" verlangte Mischa zu wissen, als Doran ne-
ben ihm Platz genommen hatte. „Die jungen Frauen im Dorf
scheinen mich zu lieben, solange sie mich nicht kennen. So-
bald ich aber die Nächte mit ihnen teile, bekommen sie Angst
vor mir und stoßen mich zurück."
Mit steilen Zornfalten zwischen den Augen stürzte er einen Be-
cher Wein hinunter und stellte ihn danach hart auf den Tisch
zurück.
Doran sah ihm in die dunklen Augen. „Du hast den Wolf in
dir", sagte er dann.
„Was willst du mir damit sagen?" brummte Mischa ärgerlich.
„Du unterscheidest dich sehr von den anderen jungen Män-
nern im Dorf", erklärte der alte Mann ruhig weiter. „In ihnen
lebt der abgerichtete Hund, den sie einst geschenkt bekamen.
In dir ist ein Wolf herangewachsen, der nicht aufs Wort ge-
horcht, der weiß was er will."
„Und was hat das mit den jungen Frauen zu tun?"
Doran schenkte die beiden Becher wieder voll. Er nahm einen
kräftigen Schluck und begann zu erzählen:
„In jenen Zeiten, als es noch zum Brauch des Erwachsenwer­
dens gehörte, daß alle Knaben ein Wolfswelpen geschenkt be­-
kamen, um mit ihm gemeinsam den Weg zum Erwachsenen zu
gehen, war es auch Sitte, daß die Mädchen, wenn der richtige
Zeitpunkt gekommen war, ein Schlangenei erhielten. Dieses Ei
hatten sie zu behüten, und sie mußten darauf achten, daß ihm
nichts geschah. Wenn dann die kleine Schlange die dünne
Schale brach und schlüpfte, versorgte es die werdende Frau
mit allem, was sie brauchte, um zu wachsen."
„Eine Schlange?" fragte Mischa ungläubig und rümpfte die Na­-
se. „Eine giftige?"
Doran nickte. „Ja", sagte er.
Als er sah, wie den jungen Mann ein Schauer überlief, fragte
er spöttisch: „Hast du Angst vor Schlangen?"
„Nun ja", versuchte sich Mischa herauszureden, „ich weiß
nicht so recht."
„Wie die jungen Männer einst von den Wölfen lernten, so lern­
ten auch die Mädchen von den Schlangen. Nahmen sie in sich
auf und wurden zur Frau."
„Von den Schlangen? Das verstehe ich nicht!" gab Mischa zu.
„Schlangen sind weise", erklärte Doran geduldig. „Sie zu ver­-
stehen, heißt die Welt begreifen."
„Aber sie sind giftig!" warf Mischa ein.
„Ihr Gift kann töten oder Leben spenden. Wie jedes Gift ist
auch das ihre ein Heilmittel, wenn es richtig angewendet wird.
Hast du dir noch nie Gedanken darüber gemacht, weshalb es
so viele weise Frauen gibt, die heilkundig sind, und nur wenige
Männer diese Fähigkeit besitzen?"
Mischa schüttelte nachdenklich den Kopf.
„Das sind die Frauen, welche ihr Schlangenei und die ge­-
schlüpfte Schlange mit Achtung und Ehrfurcht behandelten.
Die wenigen, welche mit ihrer Schlange wuchsen und lernten
und sich von der immerwährenden Wandlung und Erneuerung
nicht schrecken ließen. Aber dieser alte Brauch wird im Dorf
ebensowenig geachtet wie jener, der den Knaben helfen sollte."
Doran grollte vor verhaltenem Zorn. „Die Mädchen bekom-­
men heute zwar noch das Schlangenei, aber der kleinen
Schlange werden die Giftzähne ausgebrochen, sobald sie ge-­
schlüpft ist. Das, was da im Dorf durch die Häuser kriecht, ist
nur noch ein schwächliches Gewürm, welches von Küchenab­-
fällen und toten Insekten lebt, sich nicht mehr selbst ernähren
kann und ständig auf der Hut sein muß, nicht zertreten zu wer-­
den. Hüte dich vor den Frauen, deren Schlangen die Giftzähne
ausgebrochen wurden", sagte er und blieb vor Mischa stehen.
„Sie haben vieles nicht gelernt und werden es wohl niemals ler­-
nen in ihrem Leben. Diese Frauen haben die ausgebrochenen
Giftzähne immer bei sich, und sie scheuen sich nicht, sie zu be­-
nutzen."
„Heißt das, ich werde mein Leben alleine leben müssen, Do­-
ran? Ist dies nicht ein Preis, der zu hoch ist?"
„Du wirst dir die Antwort selbst geben müssen, Mischa". ant­-
wortete der alte Mann. „Willst du den Wolf in dir opfern?
Kannst du deinen Bruder töten?"
„Was rätst du mir. Doran", wollte Mischa mit leiser, unsicherer
Stimme wissen.
„Geh in das kleine Zelt", sagte der alte Mann. „Geh hin, ent­-
zünde ein Feuer, trommle und rufe deinen Bruder. Gemeinsam
werdet ihr die Antwort finden."

***

Geduckt jagte der Wolf durch die Nacht. Seine Pranken schie-­
nen über dem Waldboden zu schweben. Er dampfte vor gei­-
fernder Anstrengung. Er hatte den vertrauten Ruf gehört und
folgte ihm. Er hetzte durch einige grasende Rehe, die er­-
schreckt auseinanderstoben; er brach durch dorniges Gebüsch
und riß sich dabei Büschel seines dichten Felles aus. Er stürmte
vorwärts wie ein Unwetter, bis er vor dem kleinen Zelt stand.
Ein eintöniger, eindringlicher Singsang und das gleichförmige
Schlagen einer Trommel drangen heraus. Der Wolf setzte
sich auf seine Hinterläufe und schöpfte Atem. Dann durchbrach
sein durchdringendes Heulen den Gesang und den Rhythmus
der Trommel.
Mischa setzte sich ihm gegenüber, ließ seine Hände durch das
dichte Fell wühlen und vergrub sein Gesicht darin.
Der Wolf preßte seine feuchte Schnauze in die geöffnete Hand
Mischas. So saßen die beiden lange Zeit reglos, bis der Mond
über die dunklen Baumwipfel gestiegen war.
Wie auf ein geheimes Zeichen lösten sich Mischa und der Wolf
voneinander, legten den Kopf in den Nacken und sangen das
alte, geheimnisvolle Lied in den Nachthimmel, bis die Welt für
sie nur noch aus Himmel. Mond und Gesang bestand.

***

Mischa und der Wolf kamen zu Doran, als der Mond sich ein
weiteres Mal gerundet hatte. Während der Wolf geräuschlos
die Umgegend erforschte, saßen die beiden Männer auf der
Bank vor dem Haus.
„Ich will mich, von dir verabschieden", begann Mischa ein we-­
nig zögernd das Gespräch.
Doran nickte schweigend. Er starrte in die Nacht, als wolle er
hinter dem hellen Schein des Mondes die Sterne entdecken.
„Ich kann meinen Bruder nicht abrichten. Ich will ihn nicht zu
einem folgsamen Hund machen", versuchte Mischa zu erklä­-
ren, als der alte Mann weiter stumm blieb. „Wir werden uns ge-­
meinsam auf den Weg machen, eine jener Frauen zu finden,
welche das Schlangenei achtsam behandelten und der Schlan­-
ge die Giftzähne nicht ausbrachen."
Der alte Mann legte einen Arm um Mischas Schulter. „Du
weißt, daß dies nicht einfach sein wird", sagte er.
Mischa nickte, in seinen Augen leuchtete die Zuversicht. „Ich
habe meinen Bruder dabei. Er wird mir helfen."
Im nahen Dorf begann ein Hund wild zu kläffen. Andere fielen
ein und schließlich schien es, als bellten sich alle Dorfhunde
die Kehlen heiser vor Aufregung.
Mischa und Doran lauschten in die Nacht.
Ein einsames, kraftvolles Wolfsheulen legte sich über das Dorf
und stieg in den Himmel. Der vertraute Ruf ließ Mischa vor
Freude erschaudern und die Dorfhunde vor Ehrfurcht und
Schreck verstummen.
Stolz lächelnd stand Mischa neben Doran und lauschte dem
Lied seines Bruders.
Dann umarmte er den alten Mann zum Abschied, schulterte
sein Bündel und sagte: „Es ist besser, als ein Wolf zu sterben,
denn wie ein Hund zu leben!"

Traumfeuer: Ein Märchenbuch: von:
(Roland Kübler)(Jürgen Werner)(Norbert Sütsch)
im
Verlag Stendel
Dagmar Kübler
Postfach 1713, 71307 Waiblingen
Mozartstr. 42, 70734 Fellbach

Tel. 0711/57700888
Fax 0711/57700888
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09 Nov 2013 23:46 #13562 von Mountain Dreamer
Die Regenmacherin

"Ihr großen Geister der Sonne des Regens und des Windes, unser Land stirbt, unser Volk stirbt, sagt uns, was Euch erzürnt hat, sagt uns, was wir tun sollen, um Euch zu versöhnen, ihr großen Geister des Regens, der Sonne und des Windes, kommt zurück und rettet Euer Volk." So sangen die Krieger, während sie tanzten in langen Reihen vor und zurück, vor und zurück, und das Volk der Comanchen saß am Feuer, wartete und wachte.
Zwei Sommer lang hatte es nicht geregnet. Die Menschen hofften vom Frühling zum Herbst und vom Herbst zum Frühling, doch der Regen blieb aus, die Prärie war gelb und trocken, und die Tiere suchten sich andere Weideplätze.
Nach dem trockenen Sommer kam der Winter und mit ihm kamen Hunger, Krankheit und Tod. Nun hatten sich die Überlebenden versammelt, um zu erfahren, warum die Götter ihnen zürnten.
Bei dem Häufchen Kinder - der Hunger trifft am Härtesten die ganz Alten und die ganz Jungen - saß "Sie-die-allein-ist". Sie hatte diesen Namen erhalten, weil sie weder Eltern noch Großeltern hatte, sie waren während der Hungersnot gestorben. Auf ihrem Schoß hatte sie eine Puppe, einen kleinen Indianerkrieger mit leuchtend blauem Federschmuck. Ihre Mutter hatte die Puppe genäht aus feinem, weichen Leder. Mit dem Saft der wilden Beeren hatte sie das Gesicht gemalt, die Kleider waren aus weißem Hirschleder gefertigt. Ihr Vater hatte den Vogel "Tschai-, tschai-, tschai" (Eichelhäher) mit den blauen Federn nach Hause gebracht und daraus den Kopfschmuck angefertigt.
Wenn "Sie-die-allein-ist" ihre Puppe betrachtete, sah sie die Mutter vor sich, wie sie saß und nähte und den Vater, wie er mit Pfeil und Bogen auf die Jagd zog. Deshalb liebte sie ihre Puppe über alles, und nie war sie ohne sie zu sehen.
Als die Sonne unterging, hörte man die schnellen Füße des Läufers, der die Rückkehr des Medizinmannes ankündigte. Dann trat er selbst neben das Feuer und sprach: "Hört, was die Götter uns verkünden; die Götter zürnen uns. Seit Jahren senden sie ihre Gaben, Regen, Sonne, Wind und Fruchtbarkeit, doch nie kommt etwas zurück. Die Menschen sind undankbar, die Götter wollen eine Gabe. Das Kostbarste und Wertvollste, was wir haben, müssen wir opfern. Nun geht in euere Tipis und denkt darüber nach, was es sein könnte."
Schweigend zerstreuten sich die Menschen.
"Mein Bogen aus glattem braunen Holz ist das Wertvollste, was ich besitze, aber ihn können doch die Götter nicht gemeint haben!" dachte ein junger Krieger.
"Diese Decke, die ich selbst gewebt und gefärbt habe, ist wunderschön. Aber wäre es nicht vermessen zu glauben, sie wäre das Kostbarste? Andere haben ebenso schöne Decken," dachte eine Frau. So dachte jeder an das Wertvollste, was er besaß und warum es bestimmt nicht ausgerechnet das war, was die Götter wollten.
Nur eine wußte genau, was zu tun war.
"Sie-die-allein-ist" lag allein in ihrem Zelt. Sie wußte, was das Kostbarste im ganzen Lager war. Was konnte mehr wert und mehr geliebt sein als ihre Puppe, ihr kleiner Krieger, der die Erinnerung an Vater und Mutter war?
Sie wartete, bis es überall still geworden war. Dann schlich sie sich aus dem Zelt und schlug den Weg zum heiligen Berg ein. Dort glühte noch der Rest des Feuers, das der Priester entzündet hatte. "Sie-die-allein-ist" sammelte dürres Holz und entfachte damit das Feuer neu. Und als die Flammen hoch aufschlugen, nahm sie all ihre Kraft zusammen und warf ihre Puppe in die Flammen. Sie rief: "Ihr großen Geister, mein kleiner Krieger ist das Schönste und Wertvollste, was es geben kann. Ich bitte euch, nehmt ihn an und sendet meinem Volk den lebensspendenden Regen."
Als die letzten Reste der Puppe verbrannt waren, legte sie sich neben dem Feuer nieder und schlief ein.
Sie erwachte in den frühen Morgenstunden von den Regentropfen, die ihr ins Gesicht fielen. Auch im Dorf erwachten die Menschen vom Geräusch des Regens, der auf ihre Zeltdächer fiel. Sie kamen aus den Tipis und ließen den Regen über Gesicht und Hände rinnen. Dann sahen sie zum heiligen Berg, dort stieg noch Rauch auf, und so machten sie sich auf den Weg dorthin. Da fanden sie "Sie-die-allein-ist" ohne ihre Puppe, und die Menschen begriffen, was geschehen war. Schweigend und dankbar standen sie im Regen und sahen, wie die Prärie sich neu belebte. Und überall, wo die Regentropfen die Erde berührten, sprangen kleine Blumen hervor, geformt und so leuchtend blau wie die Federn des Vogels "Tschai-tschai-tschai", die noch niemand zuvor gesehen hatte.
"Sie-die-allein-ist" bekam an diesem Tag einen neuen Namen. Sie hieß von diesem Tag an "Sie-die-ihr-Volk-liebt".
In jedem Frühling aber bedecken Tausende von leuchtend blauen Blumen die Prärie, als Zeichen der Versöhnung und Mahnung an die Menschen, dankbar zu sein für die Spende von Sonne, Regen und Wind.


Quelle unbekannt

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09 Nov 2013 23:48 #13563 von Mountain Dreamer
Die Weisse Büffelkalbfrau

In einem Sommer vor so langer Zeit, dass niemand mehr genau weiß wann, kamen die Stämme der Lakota Nation zusammen und campten. Die Sonne schien ununterbrochen, aber es gab kein Wild und die Menschen hungerten. Jeden Tag schickten sie Scouts aus, um nach Beute zu suchen, aber die Scouts fanden nichts. Unter den versammelten Stämmen waren auch die Itazipcho, die „Ohne Bogen“. Sie hatten ihr eigenes Lager unter ihrem Chief Standing Hollow Horn. Eines frühen Morgens schickte der Chief zwei seiner jungen Männer los, um nach Wild zu jagen. Sie gingen zu Fuß, denn zu jener Zeit hatten die Sioux noch keine Pferde. Die Jäger suchten überall, aber sie konnten nichts finden. Als sie einen Hügel sahen, beschlossen sie hinaufzuklettern, um weit ins Land hineinsehen zu können. Sie hatten ungefähr die Hälfte des Weges hinter sich, als sie aus der Entfernung etwas auf sich zukommen sahen, aber die Gestalt lief nicht, sie schwebte. Deshalb wußten sie, das diese Person wakan war- heilig.
Zunächst konnten sie nur einen kleinen Punkt sehen, der sich bewegte. So klein, dass sie blinzeln mußten um zu erkennen, dass es die Form eines Menschen war. Aber als die Gestalt näher kam, wurde ihnen klar, dass es eine schöne junge Frau war. Schöner als alle, die sie je zuvor gesehen hatten, mit zwei roten aufgemalten Kreisen auf ihren Wangen. Sie trug ein wunderschönes Kleid aus weißem Leder, das so lange gegerbt worden war, bis es schon von weitem in der Sonne leuchtete.
Es war mit Stachelschweinborsten bestickt, mit solch heiligen und farbkräftigen Motiven, dass es von keiner gewöhnlichen Frau gemacht sein konnte. Diese heilige Fremde war Pte San Wi, White Buffalo Woman. In ihren Händen hielt sie ein großes Bündel und einen Fächer aus Salbeiblättern. Ihr blauschwarzes Haar trug sie lose. Nur eine einzelne Strähne auf der linken Seite war mit Büffelfell nach oben gebunden. Ihre Augen waren dunkel, glänzend und voller Kraft. Die zwei Männer bestaunten sie mit offenem Mund. Der eine konnte sich vor Furcht nicht bewegen, aber der andere begehrte die junge Frau und streckte die Hand aus, um sie zu berühren.
Doch die Frau war lila wakan- sehr heilig- und durfte nicht so respektlos behandelt werden. Der ungestüme junge Mann wurde deshalb auf der Stelle vom Blitz getroffen und verbrannte. Nur ein kleines Häufchen schwarzer Knochen blieb von ihm übrig. Andere sagen allerdings, dass er plötzlich von einer Wolke umgeben war, und dort wurde er von Schlangen aufgefressen, die nur sein Skelett übrigließen.
So, wie ein Mann von purer Begierde aufgefressen werden kann... Die Frau wandte sich an den anderen Scout, der sich rechtmäßig verhalten hatte, und begann zu sprechen: „Ich bin gekommen, um deinem Volk eine Botschaft zu überbringen. Eine Botschaft vom Volk der Büffel. Geh zurück zum Lager und sage deinen Leuten, sie sollen sich auf meine Ankunft vorbereiten. Sage deinem Chief, er soll eine Medizinhütte mit 24 Pfählen aufstellen. Und lasse sie für mein Kommen segnen.“

Tabakopfer am Bear Butte
Der junge Jäger kehrte zum Camp zurück. Er erzählte dem Häuptling, was die heilige Frau befohlen hatte. Der Häuptling sagte es dem Ausrufer, und der Ausrufer ging durch das ganze Lager und verkündete: „Jemand Heiliges kommt zu uns! Eine heilige Frau nähert sich! Macht alles für sie bereit!“ Die Leute stellten das große Medizintipi auf und warteten.
Vier Tage später tauchte die Weiße Büffelkalbfrau auf, in der Hand das Bündel. Ihr wunderschönes weißes Lederkleid glänzte schon von weitem.
Chief Standing Hollow Horn lud sie ein, die Medizinhütte zu betreten. Sie ging hinein und wanderte einmal durch das Kreisrund des Tipis. Der Häuptling sprach sie voller Respekt an und sagte: „Schwester, wir sind froh, dass du gekommen bist, um uns zu unterrichten.“ Sie erzählte ihm, was getan werden mußte.
In der Mitte des Tipis sollte ein heiligen Altar aufgestellt werden. Gefertigt aus roter Erde, mit einem Büffelschädel und einem Gestell aus drei Stöcken für einen heiligen Gegenstand, den sie ihnen bringe. Die Menschen taten, was ihnen gesagt wurde, und mit ihrem Finger malte die Frau dann ein Muster auf die geglättete Erde des Altars. Sie erklärte den Menschen, was sie getan hatte, und lief dann nochmals in einem Kreis durch das Tipi. Vor dem Chief blieb sie stehen und öffnete das Bündel. Der Gegenstand, der darin lag, war die chanunpa- die heilige Pfeife. Sie nahm sie heraus und die Menschen durften sie betrachten. Den Stiel hielt sie mit ihrer rechten Hand und den Kopf mit ihrer linken, und so wird die Pfeife seit jener Zeit immer gehalten. Und wieder sprach der Chief: „Schwester, wir sind froh. Aber wir haben schon lange kein Fleisch mehr. Alles, was wir dir anbieten können, ist Wasser.“ Er tauchte etwas Süßgras in einen Wasserbeutel und gab es ihr, und seit diesem Tag tauchen die Menschen Süßgras oder eine Adlerfeder in Wasser und besprinkeln damit eine Person, um sie zu reinigen. Die Weiße Büffelkalbfrau zeigte den Leuten, wie man die Pfeife benutzt. Sie füllte sie mit rotem Tabak aus Weidenrinde. Viermal lief sie um die Hütte, ganz so wie es Anpetu Wi tut- die Große Sonne. Damit symbolisierte sie den niemals endenden Kreis, den heiligen Reifen, die Straße des Lebens.
Dann hielt sie den Splitter eines getrockneten Büffelknochens ins Feuer und brachte damit die Pfeife zum Brennen. Dies war das endlose Feuer, die Flamme, die von Generation zu Generation weitergetragen werden sollte. Die Büffelkalbfrau erklärte den Menschen, dass der Rauch der Pfeife der Atem Tunkashilas ist, der lebendige Atem des großen Großvaters Geheimnis.



Dann lehrte sie die Menschen, wie man betet; sie lehrte ihnen die richtigen Worte und die richtigen Gesten. Und sie sprach zu ihnen: „Ich bin jedes der vier Lebensalter. Ich werde zu jeder eurer Generationen kommen. Ich werde zurückkehren.“
Damit verließ dhtie Frau die Menschen. „Toksha ake wacinyanktin ktelo,“ sagte sie. „Ich werde euch wiedersehen.“ Die Menschen sahen sie in die gleiche Richtung davongehen, aus der sie gekommen war- eine dunkle Gestalt im roten Kreis der untergehenden Sonne.
Sie lief, blieb aber plötzlich stehen und rollte sich viermal über den Boden. Beim ersten Mal verwandelte sie sich in einen schwarzen Büffel, das zweite Mal in einen braunen, das dritte Mal in einen roten, und schließlich- beim vierten Mal- verwandelte sie sich in ein weißes, weibliches Büffelkalb. Ein weißer Büffel ist das heiligste Lebewesen, das es überhaupt gibt. Die Weiße Büffelkalbfrau verschwand hinter dem Horizont. Und irgendwann kommt sie vielleicht zurück. Sobald sie verschwunden war, erschienen große Büffelherden. Und damit die Menschen überleben konnten, erlaubten die Tiere ihnen, sie zu töten.
Von diesem Tage an versorgten uns unsere Verwandten- die Büffel- mit allem, was wir brauchten: Fleisch zum Essen, Häute für Kleidung und Tipis, Knochen für alle möglichen Werkzeuge.

*mitakuye oyasin*


Gefunden in der
Gruppe: indianer Verein
Thread Die Weisse Büffelkalbfrau
www.wer-kennt-wen.de/forum/showThread/jpk6vdesv9mn
Indianermärchen www.wer-kennt-wen.de/club/9umn4o22
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09 Nov 2013 23:58 #13564 von Mountain Dreamer
Die Weiße Bisonfrau
Lakota-Mythos

Laut einer Sage der Lakota hat Wakan Tanka ihnen eine schöne Frau in weißen Gewand gesandt. Als Geschenk brachte sie eine zweiteilige Pfeife als heiligen Gegenstand mit, die sie den Sioux übergab. Sie erklärte dazu, dass die Pfeife das Universum darstelle. Der Pfeifenkopf war die Erde mit allen ihren Geschöpfen und der Pfeifenstiel symboliere die direkte Verbindung zum Himmel. Selbst der Rauch hätte doppelte Aufgabe. Einmal trage er die Gebete zu den Geistern und Ahnen und zum zweiten vermittle er Stärke.

Als zweites Geschenk überreichte die Weiße Bisonfrau den Sioux sieben Riten - die eine zentrale Rolle in der Religion des Stammes spielen. Die wichtigsten dieser Riten waren der Sonnentanz, die Visionssuche, die Reinigungsriten in der Schwitzhütte, die Bestattungsriten und die Mädchenpubertätsriten. Die Bestattungsriten sollten sicherstellen, dass die Seelen der Verstorbenen zum Großen Geist - Wakan Tanka - zurückkehrten und nicht auf der Erde verweilten.

Nach der Übergabe der Geschenke verwandelte sich die Frau in ein weißes Bisonkalb und verschwand.

Ein anderer Mythos erzählt, dass die Sioux den Sonnentanz erst als Ritus erhalten hätten, als sie die Zeremonie der heiligen Pfeife vernachlässigt hatten. Kablaya - ein alter Mann - hatte eine Vision einer neuen Gebetsform gehabt. Sie sollte die Stärke und den Glauben des Stammes wiederherstellen.
Lakota-Mythos

www.indianerwww.de/indian/mythen_lakota.htm

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Indianermärchen : www.wer-kennt-wen.de/club/9umn4o22

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10 Nov 2013 00:09 #13565 von Mountain Dreamer
m Land der Weißen Büffel
von: Johannes Martin Rohmann

In dieser Geschichte erzählt: nennen wir ihn Herrn Petersen von einem seiner immer wiederkehrenden Leben. Die Suche nach dem Weißen Büffel, eine Reise, die ihn in ein fremdes Land brachte. Er beschreibt, wie er sich fand und feststellen musste, dass ein Leben nicht ein Leben ist, sondern dass uns viele Leben im Leben begleiten, wie einige Leben gingen und andere kamen.

www.schamane-johannes.de/im_land_der_weiben_buffel.html

Das Buch ist einfach Genial. Als ich das Buch anfing zu lesen konnte ich nicht mehr aufhören. Ich habe es gleich bis ganz zum schluß durchgelesen.

Ich habe sehr viel daraus über mich selbst erfahren und lernen dürfen.
Eine Lebensgeschichte über mehrere Leben.

Diese Buch bekommt Ihr leider nicht im Buchhandlung, sondern nur direkt vom Autor, Johannes Martin Rohmann, siehe Website:
www.schamane-johannes.de/im_land_der_weiben_buffel.html
www.schamane-johannes.de

Liebe Grüße

Elmar

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21 Jun 2014 17:57 #13909 von Mountain Dreamer
Die Stute aus Lehm

aus den Erzählungen eines Larapihu-Indianers (Sabine Raile: Märchen von Liebe und Glück, Edition Dornrosen)

Vor langer Zeit lebte einmal ein armer Junge vom Stamme der Larapihu. Er hatte kein eigenes Pony und sah immer den anderen Kindern beim Reiten zu. Aber er wünschte sich nichts so sehr, wie ein eigenes Pferd. Und einmal, als er zusah, wie die anderen ihre Pferde im Fluss tränkten, nahm er gedankenverloren etwas Lehm in seine Hand und er begann daraus ein Pferd zu formen. Als er fertig war versteckte er das Pferd unter einem Strauch und kam es jeden Tag besuchen. In seinen Träumen war es sein eigenes Pferd und er behandelte es, als wäre es lebendig. Eines Tages war der Junge ganz in das Spiel mit seinem Lehmpferd versunken, da musste sein Stamm plötzlich weiterziehen. Die Kundschafter hatten endlich Büffel gesichtet. Die Eltern des Jungen suchten ihn überall, aber als sie ihn nirgends finden konnten, machten sie sich schweren Herzens ohne ihn auf den Weg. Als der Junge in das verlassene Lager zurückkehrte weinte er: „Nun bin ich ganz allein und werde meinen Stamm niemals mehr wieder finden.“ Alles was ihm geblieben war, war eine alte Decke. Er weinte bis er schließlich erschöpft und hungrig einschlief. Im Traum aber erschien ihm sein Lehmpony und sprach zu ihm: „Kleiner Freund, du bist nicht allein, die Mutter Erde hat mich dir geschenkt, ich bin ein Teil von ihr und lebendig wie sie.“ Als der Junge am nächsten morgen erwachte war er noch immer traurig. Er lief durch das verlassene Lager und konnte nirgends Trost finden. Endlich ging er zum Fluss, um nach seinem Lehmpony zu sehen. Wie staunte er, als er an das Ufer trat und dort ein lebendiges Pferd fand. Eine wunderschöne Stute schüttelte ihre Mähne und scharrte ungeduldig mit den Hufen. Und das Pferd sprach zu ihm, genau wie in seinem Traum: „Kleiner Freund, ich will dich zu deinem Volk geleiten, aber vergiss nie, dass ich ein Teil der Mutter Erde bin, steig auf meinen Rücken, doch versuch nicht mich zu lenken, hör auf mich und eines Tages wirst du der Häuptling deines Stammes sein.“ Da stieg der Junge auf und die Stute trug ihn vier Tage lang über die Hügel und durch die Wälder, dann endlich sah der Junge die Tipis seines Stammes vor sich liegen. „Geh nun zu deinen Eltern“, sagte die Stute „aber komm vor Tagesanbruch zu mir zurück, noch will ich nicht gesehen werden, leg’ mir deine Decke über, um mich vor dem Regen zu schützen, denn ich bin ein Teil der Mutter Erde.“ Die Eltern waren überglücklich, ihren Jungen wieder zu sehen. Er erzählte ihnen, wie er sie gefunden hatte, aber kurz vor Morgengrauen ging er zu seinem Pony zurück. Weitere vier Tage folgte er dem Stamm, der noch immer die Büffel suchte. Am Abend des vierten Tages sagte die Stute zu ihm: „Jetzt darfst du mich vorzeigen, reite mich inmitten deines Lagers hinein.“ Wie staunten sie alle, als sie den armen Jungen auf der schönen Stute sahen. Selbst der Kriegshäuptling war so beeindruckt, dass er den Jungen in sein Tippi einlud und ihm zu Essen gab. „Wir sind von Feinden angegriffen worden“, sprach er “wir müssen kämpfen, um die Büffel jagen zu können. Du hast einen weiten Weg hinter dir und hast uns wieder gefunden. Der große Geist hat dir besondere Kräfte gegeben. So reite denn mit uns gegen die Feinde. Ich werde dir eines meiner besten Kriegspferde leihen.“ Aber der Junge lehnte ab: „Ich werde meinen Stute reiten!“ – „Es schickt sich nicht für einen Krieger der Larapihu, mit einer Stute in den Kampf zu ziehen!“ grollte der Kriegshäuptling. „Frauen, Kinder und die Alten reiten auf Stuten. Ein junger Krieger, wie du sollte niemals eine Stute reiten.“ Aber der Junge bestand darauf, kein anderes Pferd als seine Stute zu reiten, da musste der Kriegshäuptling einwilligen. „Fürchte dich nicht“, flüsterte die Stute ihm zu, als er das Tipi verließ „ich bin ein Teil der Erde. Und niemand kann die Erde verletzen. Streich dir Erde über den ganzen Körper und auch du wirst unverletzbar sein.“ Der Junge tat wie die Stute ihm geraten hatte und ritt sie mutig mitten in den Kampf. Die Stute war schneller und wendiger als die besten Hengste der erfahrenen Krieger. Kein Pfeil der Feinde konnte ihr etwas anhaben und der Junge führte die Krieger zum Sieg. Endlich war der Weg zu den Büffeln frei. Auch bei der Büffeljagd konnte kein anderes Pferd die Stute übertreffen und der Junge erlegte mehr Büffel als die erwachsenen Männer des Stammes auf ihren schnellsten Büffelpferden. Nun kam selbst der Kriegshäuptling, um seine Stute zu bewundern und jeder wollte wissen, woher der Junge dieses Wunderpferd bekommen hatte. Aber er schwieg und behielt das Geheimnis seiner Stute für sich. Die Zeit verging und der Junge vertraute all die Jahre auf die Führung seiner Stute. Wie sie voraus gesagt hatte, wurde er Häuptling seines Stammes. Er hatte viele schöne Pferde, schnelle Kriegsrösser und mutige Büffelpferde. Aber seine Stute war sein größter Schatz, er flocht er Adlerfedern in Schweif und Mähne und schützte sie jeden Abend mit seiner besten Decke vor dem Regen. Eines Nachts erschien ihm die Stute wieder im Traum: „Mein Freund“, sprach sie: „Nun bist du Häuptling und hast die Kraft der Mutter Erde. Es ist die Erde, die dir deine Kraft gibt, nicht ich. Ich bin nur ein Teil von ihr. Meine Zeit ist gekommen, ich möchte zu ihr zurückkehren. Bitte, bitte gib mich frei.“ Da erhob sich der Häuptling von seinem Lager und trat in die Dunkelheit hinaus. Dort stand seine geliebte Stute. Sie scharrte unruhig am Boden und schüttelte die Mähne im Wind. „Nimm mir die Decke ab!“ bat sie. Da nahm der Häuptling die Decke ab und ging zurück in sein Tipi. Kurz vor dem Morgengrauen erhob sich ein mächtiger Wind und der Regen rauschte vom Himmel. Der Häuptling erwachte und eilte nach draußen, um nach seiner Stute zu sehen. Aber er konnte sie nirgends finden. Als der Morgen dämmerte erkannte er im ersten Licht des Tages die Farbe des Lehms, aus dem er einst sein Pony geformt hatte, auf der regennassen Erde. Und aus dem Wind sprach die vertraute Stimme zu ihm: „Ich bin die Mutter Erde und ich bin bei dir, du bist nicht allein.“

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21 Jun 2014 22:15 #13910 von Mountain Dreamer
Das versteinerte Mädchen

Ein Märchen von den Ankara Indianern

Im Obenauf des kristallklaren Flusses lebte einst der Indianerstamm der Ankara. In einem Wigwam wuchs ein schönes Mädchen heran. Alle sahen es gern. Aber das Mädchen wich den Menschen aus. Jeden Morgen rief es sein schwarzweißes Hündchen und verschwand mit ihm im Wald oder in der Prärie. Dort unterhielt es sich mit den Vögeln und den Tieren, mit den Blumen und den Bäumen. Als das Mädchen herangewachsen war, begehrten es viele junge Männer zur Frau. Aber es wies alle ab. “Ich bin im Wald und in der Prärie zu Hause”, erklärte es allen, die um es warben, “ich gehöre zu denen, die eine andere Sprache sprechen, zu denen, die im Präriegras ihre Blüten öffnen oder ihre Äste zum Himmel emporstrecken. Sie alle sind meine Freunde, nur in ihrer Nähe möchte ich sein.” Die Großmutter des Mädchens sprach aber eines Tages: “Du solltest heiraten und Kinder aufziehen wie alle jungen Frauen. Ohne Kinder würde unser Stamm aussterben.” Die Großmutter sprach so lange auf das Mädchen ein, bis es eines Tages sagte: “Es sei nach deinem Willen, ich werde heiraten. Den erstbesten, der um mich freit, will ich zum Mann nehmen. Aber ich weiß, dass daraus nichts Gutes werden kann, denn Mutter Natur will nicht, dass ich wie die anderen lebe.” Drei Tage nach der Hochzeit kam die junge Frau zur Großmutter. Schweigend setzte sie sich in eine Ecke. “Was fehlt dir?” fragte die Großmutter. “Ist dein Mann nicht gut zu dir?” “Er ist gut zu mir”, antwortete die junge Frau, “aber mir bedeutet es nichts.” Dann erhob sie sich und schritt auf den Wald zu. Die Großmutter ging der Enkelin nach. Nach einer Weile fand sie die junge Frau unter einem alten Ahornbaum. “Erzähle, was dich bedrückt”, sagte die Großmutter. Die junge Frau hob den Kopf. “Ich hätte nicht heiraten sollen”, sagte sie. “Ich bin nicht von dieser Welt. Ich gehöre in die Natur, und in die Natur will ich zurückkehren.” Die Großmutter ging traurig wieder nach Hause. Abends kam die junge Frau nicht ins Dorf zurück. Am nächsten Morgen gingen die jungen Männer, sie zu suchen. Sie fanden sie auf einem Hügel der Prärie, bis zur Hüfte war sie zu Stein geworden. Die jungen Männer eilten zum Häuptling. Der rief alle Frauen und Männer auf, ihm zu folgen. Als alle am Hügel versammelt waren, zog der Häuptling die dem Stamm heilige Pfeife hervor, um sie der jungen Frau in den Mund zu legen, damit der Große Geist sie erleuchte. Sie schüttelte aber den Kopf und sprach: “Ich wende mein Antlitz nicht ab von den Menschen, unter denen ich gelebt habe. Aber ich gehöre der Natur. Jede Blume in der Prärie, jeder Baum und jeder Vogel unter dem Himmelszelt, jeder Bach ist ein Teil meines Herzens. Durch den Duft der Blumen und Gräser, den freien Flug der Vögel, das Beben des Laubes, den Gesang der Gewässer will ich zu euch sprechen, und ich möchte, dass ihr meine Sprache versteht, wenn ich nicht mehr unter euch weilen werde.” Als sie dies gesagt hatte, wurde sie ganz zu Stein. Und in einen Stein verwandelte sich auch das schwarzweiße Hündchen, das sie immer begleitet hatte. Stumm blickt das versteinerte Mädchen über die Prärie. Rings um duften die Blumen und Gräser, bebt das Laub, murmelt der Fluss.

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21 Jun 2014 22:37 #13911 von Mountain Dreamer
Der Schneckenmann

Indianisches Osagenmärchen

An den Ufern des großen Flusses, den die Indianer den Missouri nennen, lebte einmal eine Schnecke. Niemand weiß, wie viel Zeit seitdem vergangen ist, aber es ist sehr, sehr lange her. Eines Tages begann der Fluss über seine Ufer zu treten und alles umliegende Land zu überschwemmen. Die Schnecke klammerte sich an ein Stück Treibholz, und eine Welle trug beide davon. Tagelang schwamm das Holzstück den Fluss hinunter, aber schließlich verlief sich die Flut, und die Schnecke fand sich mit einem Male auf dem Trockenen, mitten zwischen Schlamm und Unrat. Bald darauf kam die Sonne hinter den Wolken hervor, der Schlamm begann zu trocknen, und ehe die Schnecke es sich versah, saß sie so fest im Schlamm, dass sie sich nicht mehr rühren konnte. Es wurde schrecklich warm, und die Schnecke dachte, dass sie nun sterben müsste. Plötzlich jedoch kam eine Veränderung über sie; das Schneckenhaus zerbrach, und die kleine Schnecke begann unheimlich zu wachsen. Schließlich stand dort im Schlamm ein seltsames Wesen, wie es die Erde vordem noch nicht gesehen hatte. Es stand auf zwei Beinen, hatte zwei Arme mit Händen und Fingern, und außer ein paar Haaren auf dem Kopf war es völlig nackt. Es tat ein paar Schritte, aber es konnte sich nicht zurechtfinden. Eine ganze Weile dauerte es, bevor Was-bas-has, der Schneckenmann, sich daran erinnerte, woher er gekommen war. Darauf beschieß er, die Stelle zu suchen, von der ihn die Flut fortgetragen hatte. Nicht lange danach verspürte Was-bas-has großen Hunger, aber er wusste sich keinen Rat. Wohl gab es Vögel und allerlei Wild, aber der Schneckenmann wusste noch nicht, dass man diese essen konnte. Er wünschte sich zurück in sein Schneckenhaus, denn als Schnecke hatte er niemals zu hungern brauchen. Am Ende fühlte er sich so elend, dass er sich zu Boden fallen ließ, um zu sterben. Er hatte eine kurze Zeit im Gras gelegen, als er eine Stimme hörte: „Was-bas-has! Was-bas-has!“ Der Schneckenmann sah auf und gewahrte vor sich den Großen Geist auf einem weißen Pferde. Wie Sterne leuchteten seine Augen, die Adlerfeder im Haar blitzte in der Sonne, und die Spitze der Büffellanze schien wie blankes Silber, Was-bas-has schlug die Augen geblendet nieder und zitterte am ganzen Körper. Wieder hörte er die Stimme Manitus: „Warum zitterst du?“ „Ich fürchte mich vor dem, der mich geschaffen hat. Ich bin müde und hungrig, denn ich weiß nicht, wie ich mich ernähren soll.“ Der Große Geist hob die Hand und deutete auf Pfeil und Bogen, die er auf dem Rücken trug. „Sieh her“, sagte er, „siehst du dort auf der Zeder den Vogel?“ Bei diesen Worten schoss er einen Pfeil ab, und der Vogel fiel tot zur Erde. Mit einem zweiten Pfeile erlegte er einen Hirsch. „Dies soll fortan deine Nahrung sein, und hier sind deine Waffen.“ Gleichzeitig gab er Was-bas-has Pfeil und Bogen. „Du bist nackt und hast keine Kleider. Das Kleid der Hirsche soll dich von nun an warm halten, denn der Himmel wird nicht immer so blau sein. Wolken werden kommen und Regen und Schnee bringen,“ Zögernd nahm der Schneckenmann den Bogen und die Pfeile in die Hand. Darauf legte der Große Geist ihm eine Halskette aus Wampumperlen um den Hals und sprach: „Dies ist das Zeichen deiner Herrschaft. Von nun an sollst du über die Tiere des Waldes und der Prärie herrschen wie ein Häuptling. Wenn aber die Büffelherden und Hirschrudel nicht mehr sein werden, dann ist auch deine Herrschaft zu Ende.“ Was-bas-has stand voller Staunen und wusste nicht, wie ihm geschah. Der Große Geist aber fuhr fort: „Als Herr über die Erde gebe ich dir das Feuer. Von nun an sollst du deine Beute nicht mehr roh verzehren. Sei wachsam, denn das Feuer kann auch dir gefährlich werden.“ Dann sah Was-bas-has, wie sich Pferd und Reiter in die Lüfte erhoben und in den aufziehenden Wolken verschwanden. Aber noch lange sah er durch die Wolken die Spitze der Büffellanze blitzen. Der Schneckenmann stärkte sich an der erlegten Beute. Dann machte er sich wieder auf den Weg, um die Stelle am Flussufer zu suchen, woher er einst gekommen war, Als er am Ufer saß und über sein Erlebnis nachdachte, tauchte plötzlich vor ihm aus dem Wasser ein großer Biber auf und sprach: „Wer bist du? Was willst du in meinen Jagdgründen? Dies ist das Land der Biber, ich aber bin der Häuptling aller Biber dieses Flusses. Seit uralten Zeiten wandert unser Stamm jedes Jahr den Fluss hinauf und hinab. Wir sind fleißige Leute und wollen in Ruhe unsere Arbeit verrichten.“ „Du wirst fortan deine Herrschaft mit mir teilen müssen“, sprach Was-bas-has, „denn der Große Geist hat mich zum Häuptling aller Tiere des Waldes und der Prärie gemacht. So will ich auch über die Biber herrschen.“ „Wer aber bist du?“ fragte der Biber, „so etwas wie dich habe ich noch nie gesehen.“ „Ich bin Was-bas-has und bin aus einem Schneckenhaus gekommen. Jetzt aber bin ich ein Mensch. Hier sind die Zeichen meines Amtes.“ Dabei hielt er Pfeil und Bogen in der rechten Hand und einen Feuerbrand in der linken. „Komm mit zu mir“, sagte der Biber, „wir müssen Brüder werden. Komm zu meinem Lager und erhole dich von der langen Reise.“ Unbeholfen kletterte der Biber aus dem Wasser und machte sich auf den Weg zu seinem Tipi. Was-bas-has, der Schneckenmann, folgte ihm, denn er hatte ja kein Ziel als den Fluss. Kurze Zeit später kamen beide bei dem Lager der Biber an. Gemeinsam betraten sie die Wohnung des Häuptlings. Überall lagen weiche Grasmatten auf dem Boden, und alles sah warm und gemütlich aus. Während die Frauen eine Mahlzeit bereiteten, bat der Häuptling seinen Gast, doch für immer bei ihm zu bleiben, denn er sah wohl, welch ein bedeutendes Wesen er da durch Zufall am Flussufer gefunden hatte. So blieb Was-bas-has bei den Bibern, lernte von ihnen die Kunst, ein Tipi zu bauen, Bäume zu fällen, Vorräte anzulegen für die langen Wintermonate, Fische zu fangen und viele andere nützliche Dinge. Schließlich heiratete er die Tochter des Häuptlings der Biber. Ein großes Fest wurde aus diesem Anlass gefeiert, und alle Tiere, die mit den Bibern befreundet waren, wurden eingeladen. Schneckenmann und Bibermädchen aber waren die Urahnen eines großen Stammes, der Osage-Indianer.

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21 Nov 2016 13:51 #14557 von Mountain Dreamer
Nur ein alter Topf
Sioux-Indianer

Ein alter Medizinmann der Dakota (Sioux-Indianer), Lame Deer, hat versucht, einem weißen Freund die Art des indianischen Denkens zu erklären. Das Sioux-Wort »Wakan Tanka«, das er dabei verwendet, bedeutet »Schöpferkraft«, »Großer Geist«.
Was siehst du hier, mein Freund? Nur einen gewöhnlichen alten Kochtopf, verbeult und schwarz vom Ruß. Er steht auf dem Feuer, auf diesem alten Holzofen da, das Wasser darin brodelt, und der aufsteigende Dampf bewegt den Deckel. Im Topf ist kochendes Wasser, Fleisch mit Knochen und Fett und eine Menge Kartoffeln.
Es scheint, als hätte er keine Botschaft für uns, dieser alte Topf, und du verschwendest bestimmt keinen Gedanken an ihn. Außer, dass die Suppe gut riecht und dir bewusst macht, dass du hungrig bist.
Aber ich bin ein Indianer. Ich denke über einfache, alltägliche Dinge — wie diesen Topf hier — nach. Das brodelnde Wasser kommt aus der Regenwolke. Es ist ein Sinnbild für den Himmel. Das Feuer kommt von der Sonne, die uns alle wärmt – Menschen, Tiere, Bäume. Das Fleisch erinnert mich an die vierbeinigen Geschöpfe, unsere Brüder, die Tiere, die uns Nahrung geben, damit wir leben können. Der Dampf ist Sinnbild für den Lebensatem. Er war Wasser; jetzt steigt er zum Himmel auf, wird wieder zur Wolke. All das ist heilig. Wenn ich diesen Topf voll guter Suppe betrachte, denke ich daran, wie Wakan Tanka, das Große Geheimnis, auf diese einfache Art und Weise für mich sorgt.
Wir Sioux denken oft und viel über alltägliche Dinge nach, für uns haben sie eine Seele. Die Welt um uns ist voller Symbole, die uns den Sinn des Lebens lehren. Ihr Weißen, so sagen wir, seid wohl auf einem Auge blind, weil ihr so wenig seht. Wir sehen vieles, das ihr schon lang nicht mehr bemerkt. Ihr könntet es auch sehen, wenn ihr nur wolltet, aber ihr habt keine Zeit mehr dafür — ihr seid zu beschäftigt.
Wir Indianer leben in einer Welt von Symbolen und Bildern, in der das Geistige und das Alltägliche eins sind. Für euch sind Symbole nichts als Worte, gesprochene oder in einem Buch aufgeschriebene Worte. Für uns sind sie Teil der Natur, Teil von uns selber — die Erde, die Sonne, der Wind und der Regen, Steine, Bäume, Tiere, sogar kleine Insekten wie Ameisen und Grashüpfer. Wir versuchen sie zu verstehen, nicht mit dem Kopf, sondern mit dem Herzen, und ein winziger Hinweis genügt uns, ihre Botschaft zu erfassen.
Gottfried Vanoni
Lene Mayer-Skumanz (Hrsg.): Hoffentlich bald.
Herder Verlag, Wien 1986

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