Es war Nacht.

Eine Nacht, bei der niemand sich auf die Straße traute. Eine Nacht, in der es wie aus Eimern regnete. Die spärlich erhellende Beleuchtung ließ eine vermummte Gestalt erkennen, die sich vor dem Regen schützend, unter den Ladengeschäften katzenhaft entlangschlängelte.

Vor einer überdachten Bushaltestelle blieb die Gestalt stehen, und blickte auf den Fahrplan.

Der Bus sollte in fünf Minuten kommen, sagte der Plan.

Die Gestalt setzte sich. Ein Lichtstahl eines vorbeifahrenden Wagens erhellte für einen kurzen Augenblick ihr Gesicht, das Gesicht einer jungen Frau. Sie war jung und ungeschminkt. Ihre dunkelblonden halblang gewellten Haare umschmeichelten spielerisch ihr ovales Gesicht, und ihre grünen Augen gaben ihr etwas katzenhaft gefährliches, was so gar nicht zu ihrer leicht pummeligen Figur zu passen schien.

Sie blickte auf die Uhr.

Nur noch zwei Minuten, stellte sie fest. Genug Zeit, um nachzusehen, ob ich alles habe, was ich brauche.

Sie griff in ihre schwarze Wollmanteltasche, und holte etwas Kleingeld und ein kleines Fläschchen hervor, in dem eine giftgrüne ölige Flüssigkeit steckte. Sie legte alles wieder zurück, und griff in die andere Seitentasche, aus der sie zwei Federn, ein Teelicht, ein Feuerzeug und etwas Weihrauch, abgepackt in einem Gefrierbeutel, steckte.

Beruhigt legte sie alles wieder zurück. Sie hatte nichts vergessen!

Der Bus kam, und hielt mit quietschenden Reifen vor ihr. Sie stieg ein, bezahlte, und setzte sich hin. Während der Bus durch die nasskalte Nacht fuhr, wanderten ihre Gedanken zurück zu der vergangenen Nacht.

In dieser Nacht konnte sie nicht schlafen.

Unruhig bewegte sie sich in ihrem Bett hin und her, lag mal auf dem Rücken, mal auf dem Bauch, und auch auf der Seite. Sie machte den Fernseher im Schlafzimmer an, in der Hoffnung, durch das Programm endlich einschlafen zu können. Früher hatte das immer funktioniert, besonders, wenn sie mit ihrem Dauerverlobten Nick die Nacht zum Tage gemacht hatte, und nicht einschlafen konnte. Dann schaltete sie das Fernsehen ein, meist die öffentlich- rechtlichen Programme, und eine halbe Stunde später war sie so müde, das ihre Augen von alleine zufielen.

Nur gestern Nacht wirkte das Zaubermittel Fernsehen nicht.

Sie setzte sich auf, nahm ein Buch, und las, ihre zweite sichere Methode, um einzuschlafen. Aber nach einer Stunde war sie immer noch wach!

Sie blickte aus dem Fenster. Es war die Nacht vor Vollmond, das wusste sie. Der Himmel war sternenklar, und kaum ein Geräusch der Straße, das an ihre Ohren drang. Warum schlief sie also nicht?

Plötzlich erhellte sich ihr Schlafzimmer, Rauch stieg von irgendwoher auf, und panische Angst ergriff sie.

Ein Geist aus einer anderen Welt?

Ein Dämon, der sie vernichten wollte, weil sie eine Hexe war?

Der Rauch verzog sich. Eine Frau, in der Ledertracht einer Jägerin, mit entblößter linker Brust und mit Bogen und Pfeilen bewaffnet, stand vor ihr. Eine Wölfin und eine Bärin flankierten sie an ihren beiden Seiten. Plötzlich wusste sie, wer da vor ihr stand: Diana, die Göttin der Jagd! Artemis, die Göttin des Waldes, des Lebens, der Tiere, der Frauen, und... der Lesben!

„Tochter“, begann die Gestalt der Göttin zu ihr zu reden. „Du bist erwählt, mein Werk mit zwei anderen Frauen zu vollbringen. Viele Frauen leiden in dieser Welt, leiden an der Gewalt der Männer, an dem Mangel an Wissen über die Fähigkeiten, die in ihnen wohnen. Das wird eure Aufgabe sein.“

„Ich, warum ich“, fragte sie?

„Weil du eine von drei Frauen bist, die durch ihr Wissen den Frauen helfen kann. Du kannst mit Kräutern und Geistern umgehen, und kennst dich in den alten Frauenritualen aus. Du bist eine gute Lehrerin, Nora!“

Es fiel ihr schwer zu glauben, was sie sah! In ihren Ritualen hatte sie sich die Göttin immer vorgestellt, „visualisiert“, wie sie es nannte, aber das sie in ihrem Schlafzimmer so kam, als ob sie mal kurz einen Besuch absolvierte, fiel ihr schwer, zu glauben.

Aber sie sah sie!

Und sie wollte, dass sie, Nora Jansen, Verwaltungsangestellte beim Sozialamt und praktizierende Hexe wie ihre Mutter, alles stehen und liegen ließ, und für sie und andere Frauen arbeitet.

Wollte sie das?

Ihre finanzielle Sicherheit aufgeben, vielleicht Nick verlassen?

Zwar liebte sie Nick schon lange nicht mehr, aber sie war an ihn gewöhnt!

Er engte sie ein, versuchte, sie zu bevormunden, seinen Willen durchzusetzen, indem er sie dauernd zu kontrollieren versuchte. Aber andererseits war es mit ihm nie langweilig und ein passabler Liebhaber war er außerdem auch!

Und das alles verlieren?

Nur um einem Traum nachzujagen? Denn es musste sich um einen Traum handeln!

Was anderes konnte es gar nicht sein. Niemand vor ihr hatte die Göttin je gesehen, niemand mit ihr gesprochen!

Und sie sollte auserwählt sein?

Nein, unmöglich!

Ich kann zwar ne Menge, aber so gut bin ich wiederum auch nicht, überlegte sie!

„Warum hältst du so wenig von dir, meine Tochter“, sagte die Göttin zu ihr.

Konnte sie ihre Gedanken lesen?

„Und wer sind die anderen zwei? Wo und wie werde ich sie treffen?“

„Das wirst du erfahren, wenn es so weit ist, meine Tochter. Morgen Abend wirst du in den

Wald gehen, an die Stelle, wo du immer deine Rituale feierst, und dort werden beide Frauen

auf dich warten. Und dort werdet ihr alle erfahren, was ihr als erstes tun werdet.“

„Aber...“

Weiter kam Nora nicht um zu fragen, denn so plötzlich, wie die Göttin gekommen war, verschwand sie auch.

Und nun saß sie in einem kalten Bus, um ihrer Bestimmung entgegen zu fahren.

Der Bus hielt mit einem Ruck. Einige Passagiere stiegen aus, und zwei Frauen und ein junger Mann stiegen ein. Die Tür schloss sich, und der Bus setzte sich wieder in Bewegung. Zehn Minuten später hielt der Bus  am Rande eines Parks. Sie stieg aus, und ging durch die regnerische Nacht auf eine Lichtung im Wald zu, wo zwei Frauen bereits auf sie warteten.

 

 

„Anna, wo gehst du hin?“

„Ich weiß nicht, Sabine! Ich weiß nur, das ich mit dem Wagen an eine bestimmte Stelle fahren muss, und das andere Frauen da auf mich warten werden!“

„Ist das wieder so eine Hexensache?“

„Ja, Sabine. Es ist eine Hexensache!“

Anna zog sich an.

Wie sollte sie ihrer Liebsten Sabine auch erklären, wie wichtig diese „Hexensache“ ist?

Sabine lächelte immer über ihre „Spökenkiekereien“, wie sie es nannte. Sie lächelte darüber, das wusste sie, weil es ihr Angst machte.

Angst, weil sie einmal zufällig Zeugin wurde, wie sie mit ihrer verstorbenen Mutter sprach,

die ebenfalls eine Hexe war. Das sie Annas Mutter so deutlich sah, so, als ob sie nie gestorben

wäre, obwohl sie bei ihrer Beerdigung zugegen war, raubte ihr den Verstand. Und wie viele rational denkende Menschen, die etwas für sie Unerklärliches sahen, weigerte sie sich, das zu glauben, was sie gesehen hatte. Sie machte sich stattdessen darüber lustig.

Seit diesem Tag war ihre Beziehung nicht mehr so, wie sie mal war. Anna fühlte, wie sich Sabine mehr und mehr innerlich von ihr zurückzog. Sie konnte nichts tun, und hoffte, das sich das irgendwann und irgendwie wie von selbst lösen würde.

Aber das tat es nicht.

Der Bruch in ihrer Beziehung war da.

Beide Frauen versuchten, so gut es ging, damit zurande zu kommen, ein Stück Alltag mehr zu spüren. Sie schliefen wieder miteinander, aber diese Nächte waren nicht mehr leidenschaftlich und allumschlingend. Sie wurden zur Pflichtübung, denen die Seele fehlte.

„Schatz, ich weiß nicht, wann ich nach Hause komme, also warte nicht auf mich“.

„Ist gut“, hörte sie Sabines Stimme, die enttäuscht klang.

Sie nahm die Autoschlüssel von dem Bord an der Wand, und lief zum Fahrstuhl. Sie drückte auf den Fahrstuhlknopf, und in Windeseile gelangte sie in den Keller, wo sie ausstieg.

„Guten Abend, Frau Weber“, grüßte sie Herr Hansen, ihr Nachbar. „So spät noch unterwegs?“

„Ja, Herr Hansen. Was sein muss, muss sein!“

„Na dann viel Glück, Frau Weber“.

Er ging zum Fahrstuhl, und sie zu ihrem Wagen, einem mausgrauen Japaner. Sie stieg ein, und blickte in den Rückspiegel, wo das breite Gesicht einer Butch sichtbar wurde. Ihre kurzgeschorenen roten Naturhaare ließen ein Mal auf ihrer Stirn erkennen, das eingemeißelt war. Die zunehmende Mondin, die sie bei ihrer Initiation als Wicca erhalten hatte. Ihre breite Nase und ihre schmale Lippen passten gut zu ihrer schlanken Figur, wie ihr Ledermantel, den sie mit Vorliebe trug.

Plötzlich wanderten ihre Gedanken zur letzten Nacht zurück.

Sabines gleichmäßiger, leicht schnarchender Atem hörte sich wie die sanfte Musik eines Esoterikmusikers an. Sie liebte es, ihr beim Schlaf zuzusehen, und ihren Atem zu hören. Seit fünf Jahren waren sie schon ein Paar, mit allen Höhen und Tiefen, die eine lesbische Beziehung so für ein Paar bereithält. Nähe und Distanzprobleme, Eifersucht, keine Lust auf Sex, und nicht zu vergessen, die andauernden Gespräche darüber, ob sie Sabine immer noch liebt, nebst all den Leibesbeweisen, die eine Femme wie Sabine von ihr verlangte.

Plötzlich erhellte sich das Licht im Schlafzimmer, aber so, das Sabine nicht wach wurde. Eine Gestalt erschien. Sie verspürte keine Angst, auch nicht, als neben der Frau, die mit Pfeilen und Bogen bewaffnet, sich zwei Tiere, eine Bärin und eine Wölfin sichtbar wurden.

Es konnte nur eine sein: Diana, die Jägerin des Waldes, und die Göttin, der sie diente!

„Meine Tochter, du bist von mir erwählt worden, zusammen mit zwei anderen Frauen, den Frauen dieser Welt zu helfen. Sie leiden an der Gewalt der Männer, und wissen nichts von dem Wissen, das meine Tochter Aradia den Frauen brachte, denen, die Hexen genannt werden. Und ihr sollt dieses Wissen ihnen wiedergeben!“

„Aber warum gerade ich? Ich kann doch nicht in der Weltgeschichte herumreisen! Ich habe eine Partnerin, die ich liebe, und die mich liebt. Ich kann sie nicht allein lassen. Mal ganz abgesehen davon, das meine Vorgesetzten bei der Polizei nicht gerade begeistert wären, wenn ich grund- und fristlos kündigen würde!“

„Meine Tochter“, erwiderte die Göttin, „Was deine Arbeit angeht, so ist das einer der Gründe, weswegen du erwählt wurdest, denn eine gute Polizistin, die gelernt hat, Tätern zu beweisen, dass sie schuldig sind, musste ein Teil der Drei sein! Und was deine Frau angeht, so wird sie bei dir bleiben, wenn ihre Liebe zu dir stark genug ist!“

„Und wenn nicht?“

„Dann wird es für euch Zeit, neue Wege zu gehen!“

Die Göttin deutete auf die Narbe in der Mitte ihrer Stirn, die durch das einmeißeln der zunehmenden Mondin entstanden war.

„Damals hast du in meinem Angesicht versprochen, immer für mich und alle Frauen da zu sein, die meine Hilfe bedürfen. Waren es nur leere Worte für dich?“

Nein, musste sie sich eingestehen, damals hatte ich das wirklich so gemeint!

Aber verlangte sie nicht sehr viel von ihr?

Meinen Job aufgeben, ohne festes Gehalt sich durchschlagen zu müssen, und eventuell von

Sabine auf ewig getrennt zu sein, sie vielleicht für immer zu verlieren?
War der Preis nicht zu hoch?

„Und meinst du, die Frauen, die von ihren Männern geschlagen, vergewaltigt und ausgenutzt wurden, und die Frauen, die deine Hilfe brauchen könnten, wären nicht so wichtig wie dein Job und deine Liebste?“

Was sollte sie da einwenden?

Natürlich hatte sie recht, und sie schämte sich, dass sie nur an sich gedacht hatte!

Und so willigte sie ein, mit zwei anderen Frauen, die sie nicht kannte, im Namen der Göttin für andere Frauen zu arbeiten.

 

Sie startete den Motor, trat die Kupplung und das Gaspedal sachte durch und fuhr aus der Tiefgarage heraus in die regenkalte Nacht. Zehn Minuten später hielt ihr Wagen vor dem Eingang eines stark bewaldeten Grundstücks. Sie stieg aus, nahm ihren Regenschirm den sie öffnete und über ihren Kopf hielt, und ging einen einsamen Waldweg entlang, bis sie zu der Lichtung kam, die ihr von der Göttin beschrieben worden war.

 

 

Gerlindes Augen sahen nicht mehr so gut.

Kein Wunder, war sie doch schon über sechzig Jahre alt. Sie zog ihre Brille an, und las, was ihre Tochter Rebecca ihr in einem Brief geschrieben hatte:

„Liebe Gerlinde,

ich weiß, dass dieser Brief dir wehtun wird, denn er ist endgültig.

Ich kann nicht mehr mit der Situation leben. Glaub mir, ich habe es versucht. Aber alle, Mutti, Opa und Oma, meine Geschwister, sie alle wollen mit dir nichts mehr zu tun haben. Und sie setzen mich unter Druck, dass ich nicht mit einer „perversen Person“, so nannte Mama dich, weiter verkehren soll. Wir sind alle Mormonen, wie du ja weißt, und auch selbst einmal warst, und wir haben dein Verhalten immer als falsch empfunden!

Du wolltest Frau werden, was uns schon große Probleme bereitete und wir nicht akzeptieren konnten. Wir dachten, dass du nur einer Verrücktheit folgen würdest. Niemand ahnte, wie ernst es dir war!

Und dann bist du auch noch eine Hexe geworden, hast dich mit Dämonen umgeben.

Papa, du solltest dich schämen!“

Der Brief war ohne Unterschrift und mindestens dreißig Jahre alt. Trotzdem war er nicht zerknüllt und verwischt. Dieser Brief wurde für sie zur kostbaren Reliquie, zur einzigsten Erinnerung an ihre Tochter.

Es stimmte alles, was sie in dem Brief geschrieben hatte.

Sie war transsexuell gewesen. Sie wurde als Mann geboren und fühlte sich ihr ganzes Leben lang als Frau. Als sie ihr Coming out hatte, wurde sie von ihrer mormonischen Familie verstoßen. Einzig ihre Tochter Rebecca hielt anfangs noch zu ihr, sie konnte aber dem immensen Druck nicht mehr standhalten, bis auch sie ihren Vater verurteilte.

Als sie auf ihrem Weg zur Frau war, lernte sie eine Hexe kennen, die in ihr das Interesse für Magie weckte, und sie unterrichtete. Sie entwickelte sich weiter und lernte, in die Gedanken anderer Menschen hineinzugehen. Sie benutzte diese Fähigkeit selten, nur dann, wenn eine Frau ihrer Hilfe bedurfte.

Und sie wurde Feministin, weil sie begriff, wie sehr Männer Frauen diskriminieren und bevormunden wollen.

Sie faltete den Brief zusammen, und steckte ihn in ihre kurze Handtasche, in der neben den üblichen Utensilien ein kleines, mit einer rotfarbigen Flüssigkeit gefülltes Fläschchen steckte.

Sie blickte auf die Uhr.

Zeit zu gehen befand sie, und zog ihren roten, mit schwarzem Kunstpelz besetzten Mantel an. Sie blickte in dem im Flur hängenden breiten Spiegel, um ihr Aussehen zu kontrollieren.

Ihre kurzen, aschblonden und dauergewellten Haare gaben ihrem ovalen Gesicht das leicht strenge Aussehen einer Lehrerin, aber auch einer Domina. Ihr dezent geschminktes Gesicht betonte vorteilhaft ihre breiten Lippen. Sie trug unter ihrem Mantel einen blauen Hosenanzug mit Nadelstreifen, welches ihre leicht mollige Figur nur unzureichend bedeckte; und in deren Taschen Reizgas und ein grünes Pulver lag, das aus dem brutalsten Schläger das frommste Lamm machte.

Sie nahm ihren Autoschlüssel aus der Tasche, und steckte ihn in ihre Manteltasche, in dem ihre Wohnungsschüssel lagen, die sie herausholte. Sie schloss die Tür zu, und ging die Treppen hinunter zu ihrem auf der nassen Straße parkenden VW Polo.

Eine junge Frau, deren gewölbter Bauch auf eine Schwangerschaft hindeutete, kam an ihr mit ihrem überdimensionalen Regenschirm vorbei. Ebenso eine Gruppe junger Türken; die sich wild gestikulierend über ein Fußballspiel unterhielten; das buchstäblich „ins Wasser“ gefallen war.

Sie öffnete die Wagentür, und setzte sich hinter das Lenkrad.

Doch losfahren konnte sie nicht.

Sie hatte panische Angst vor dem, was in wenigen Minuten auf sie zukommen würde. Die Göttin war ihr erschienen, und hatte ihr gesagt, dass sie eine von drei Frauen sein sollte, deren Aufgabe es sein würde, anderen Frauen zu helfen, das Wissen der Göttin weiter zu leiten; und, um andere Frauen zu helfen, sich gegen Männer wehren zu können.

„Du bist eine der Drei erwählt, Gerlinde, weil du weißt, wie Männer und Frauen denken, und du Männer und Frauen liebst. Weil du eine Brücke bauen kannst, wenn es möglich ist, du aber kompromisslos auf Seiten der Frauen stehst, wenn es nicht mehr geht!“

Sie wollte sich nicht outen!

Zu oft hatte sie in ihren Beziehungen erlebt, dass sowohl Männer als auch Frauen, die sie liebte, und die sagten, das sie von ihnen wiedergeliebt würden, gingen, sobald sie soviel Vertauen verspürte, ihnen von ihrer Vergangenheit zu erzählen.

Und zu oft wurde sie enttäuscht, so dass sie sich zurückgezogen hatte, keine Beziehung mehr wollte, und ganz in ihrer magischen Arbeit aufging.

Und jetzt?

Sie würde sich früher oder später wieder outen müssen!

Die Göttin hatte sie als ihre Tochter akzeptiert. Ihr eine Aufgabe übertragen, der sie sich nicht entziehen konnte und auch nicht wollte. Aber ob ihre Mitschwestern sie genauso akzeptieren würden? Sie war alt, und so wie sie die Göttin einschätzte, war eine von ihnen jung, um die „junge Göttin“ zu repräsentieren, und die andere etwas älter, um die „Muttergöttin“ darzustellen.

Die Göttin in ihrer dreifaltigen Erscheinungsweise!

„Da muss ich wohl durch“, sagte sie, und ihr Atem wurde schwer.

Sie startete ihren Wagen, und wie ein silberner Blitz fuhr sie los. Wenige Minuten später stand sie mit zwei anderen Frauen in einer vom Regen durchnässten Waldlichtung, zu der sie die Göttin geschickt hatte.

 

 

Stumm sahen sich die Frauen an.

Keine wagte, einen Ton zu reden, keine, ihre Magie anzuwenden, so wie die Göttin es ihnen gesagt hatte. Noras Hand griff in ihre Manteltasche, und umfasste die Flasche mit dem öligen, giftgrünen Inhalt. Gerlinde ging langsam auf und ab, nervös und unruhig. Annas Hand hielten sie fest: „Warte mal, wenn ich richtig kombiniere, dann seid ihr zwei aus dem gleichen Grund wie ich hierher gekommen!“

„Und was meinst du damit“, fragte Gerlinde, und drückte mit soviel Kraft wie sie hatte, Annas Arm von sich fort.

„Das wir drei Hexen sind, und gestern von der Göttin besucht wurden, die uns bat, hierhin zu

kommen, weil wir drei Hübchen ein Team bilden sollen. Ein Team, das anderen Frauen mit

unseren besonderen Fähigkeiten helfen soll. Stimmt, oder habe ich recht?“

Erleichterung war auf Gerlindes und Noras Gesicht zu sehen.

Es stimmte also, und es war kein Traum.

Alle drei hatten das Selbe erlebt.

Alle drei wurden von der Göttin besucht!

Und für alle drei war diese Erfahrung einzigartig, denn wer erlebt, auch als Hexe, sonst einmal, dass die Göttin sie besucht?

„Also, dann stell ich mich wohl am besten als erste vor“, begann Noras Stimme zu sprechen. „Ich bin Nora, 23 Jahre jung, vom Sternzeichen Jungfrau, und...“ .

Gerlinde und Nora lachten.

„Lacht nicht so blöd, ihr zwei! Jungfrauen sind besser als ihr Ruf! Wisst ihr eigentlich, was „Jungfrau“ wirklich bedeutet?“

Beide verneinten.

„Es bedeutet, „die sich selbst gehört, die keinem Mann gehört“. Auch wenn ich Männer liebe, gehöre ich ihnen doch nicht! Ich entscheide immer noch selbst über mein Leben. Von Beruf her bin ich übrigens Verwaltungsfachangestellte im Sozialamt, und kenne mich ganz gut im Umgang mit Kräutern und Geistern aus, und hab Erfahrung, obwohl ich so jung bin, mit den alten, meist vergessenen Ritualen der Verehrung der Göttin, und dem Bannen diverser Probleme. Noch Fragen?“

„Die kommen bestimmt noch, wenn wir uns alle näher kennen lernen“, erwiderte Anna.

„Aber vielleicht kann ich dir folgen, und mich vorstellen?“

Anna war nervös.

Etwas in ihr drängte sie zu sagen, dass sie Frauen liebte, aber eine plötzliche Angst davor, sich zu outen, umhüllte sie wie ein Seil, das sich enger und enger um ihren Hals legte. Das machte ihr Angst. Sie beschloss, darüber mit den anderen Frauen erst zu sprechen, wenn sich alle besser kannten, und vertrauten.

„Also, ich heiße Anna, bin vom Sternzeichen her eine Schützin, und mein Beruf ist der einer Polizistin. Ich bin seit langer Zeit eine Wicca, und als solche auch initiiert worden. Ich weiß nur, das die Göttin mich hierhin geschickt hat, weil ich als Polizistin bestimmte Fähigkeiten habe, die wir gut brauchen können.“

Sie blickte Gerlinde an, deren Angstschweiß wie der Niagarafall  an ihren Wangen herunterströmte. Was sollte sie sagen? Wer sie war? Wer sie jetzt ist? Was sie als Hexe kann? Warum die Göttin ausgerechnet sie erwählt hatte?

Konnte sie den anderen vertrauen?

Würden beide sie nicht aus ihrer Mitte verbannen wollen, so wie die Hexen aus ihrem letzten, reinen Frauenkonvent, der fast nur aus Lesben bestand?

Sie hatte der keine andere Wahl, als sich vorzustellen, das wusste Gerlinde! Aber sie hatte die Wahl, über das zu reden, und das zu schweigen, was sie wollte!

„Also, ich heiße Gerlinde, und bin wohl die Oma von uns drei Hübchen. Ich bin eine Waage, und versuche als Rentnerin den Ausgleich zwischen meinen Wünschen und meinen Möglichkeiten auszuloten“.

Alle lachten.

Zu gut kannten sie diesen Zustand!

Nora wollte schon seit Jahren nach Australien fahren, um ihren heimlichen Wunsch, eine Zeit mit den australischen Ureinwohnern, den Aborigines zu verbringen. Das Geld dazu hatte sie bis jetzt immer noch nicht zusammenbekommen, und das fuchste sie sehr.

Anna wollte schon immer ein neues Auto haben, da ihre alte „Emma“, wie sie ihren mausgrauen Toyota liebevoll nannte, öfters ihren Geist aufgegeben hatte.

Und Gerlinde?

Sie wollte nur eins: Als Frau akzeptiert zu werden, und einen Menschen finden, der sie um ihrer Selbst willen liebte, und für den oder die ihre Vergangenheit nicht wichtig war.

Und sie wusste, dass es schwer sein würde, diesen Wunsch erfüllt zu bekommen!

„Und was machen wir jetzt“, fragte Gerlinde?

Vielleicht sollten wir erst einmal den heiligen Kreis anlegen, und dann die Göttin anrufen“, erwiderte Nora, die Praktische.

 

 

Es hatte mittlerweile aufgehört zu regnen.

Der Duft frischen grünen Grases umhüllte die Luft der Waldlichtung.

Sie sammelten Steine, die überall im Wald herumlagen.

Kleine, große, runde und flache Steine wurden zu einem großen Kreis gelegt, mit einer kleinen Stelle, die freigelassen wurde. An der Nordseiteseite des Kreises, dort, wo die Kraft der Magie herkommt, bauten Anna und Nora einen großen Stein, den sie gefunden hatte, zu einem Altar um. Sie stellten rechts und links je eine weiße Kerze auf, und Nora holte aus ihrer Manteltasche etwas Weihrauch hervor, dass ein Geschenk für die Göttin war, und schüttelte ihn in die Mitte des Steines. Gerlinde holte ein Bild aus ihrer Tasche, küsste es zärtlich, und stellte das Bild auf den Altar.

„Wer von uns soll die Hohepriesterin sein“, fragte Nora plötzlich? „Eine von uns muss die Zeremonie doch leiten.“

„Was denkt ihr über mich? Ich hab immerhin Erfahrung in einem Covern gesammelt!“

Annas Stimme klang fest und bestimmt. Sie wusste, was sie konnte. Die anderen Frauen hatten nichts dagegen.

Anna nahm einen Becher, und ging zu einem kleinen Fluss, der in der Nähe vorbeifloss. Sie füllte den Becher mit Wasser, und kehrte zu den anderen Frauen zurück. Nora fand eine alte weggeworfene Blechdose, die sie mit dem Rest des  Weihrauchs füllte und anzündete. Sie lief im Kreis umher, und reinigte den Kreis dadurch, dass der Duft des Weihrauchs überall hin gelangte. Anna trat als Hohepriesterin in den Kreis, und verspritzte das Wasser in alle Himmelsrichtungen, und bat die Göttin, in ihren Kreis einzutreten.

Aus ihrem Ledermantel holte sie eine Athalme, das rituelle Hexenmesser, das gebraucht wird, um den Schutzkreis von der übrigen Welt abzutrennen. Sie begann auf der Erde von Osten über Süden, Westen und Norden, einen Kreis zu ziehen. Eine Stelle im Osten ließ sie frei, damit alle Frauen später dort eintreten konnten.

Gerlinde stand vor der Öffnung, in Erwartung, den heiligen Kreis betreten zu dürfen. Annas Hand ging in den Becher hinein, holte etwas Wasser heraus, besprengte sie, und sagte: „ Im Namen Dianas reinige ich dich von allen Sorgen und aller Angst“.

Sie lächelte Gerlinde an. Plötzlich fiel alle Angst wie eine zentnerschwere Last von ihr, und sie fühlte sich eins mir den beiden Frauen.

„Ich betrete den Kreis mit absoluter Liebe und völligem Vertrauen!“

Und sie meinte das, was das Ritual vorschrie. Zum ersten Mal seid langer Zeit, meinte sie es wirklich so! Sie spürte zum ersten Mal seit langem wieder so etwas wie Vertrauen zu anderen Menschen.

Anna, als Vertreterin der Göttin, küsste und umarmte sie. „Sei willkommen, in der Gegenwart der Göttin“, sagte sie.

Auch Nora gelangte so in den Kreis.

Sie nahm das Gefäß mit dem Weihrauch, und hielt es hoch, dann zeichnete sie das Pentagramm in die Luft. Sie sollte sie alle vor bösen Geistern und Gefahren beschützen. Gerlinde zündete mit Nora die Kerzen am Altar an, und Anna schloss mit der Athalme den Schutzkreis. „Dieser Kreis ist geschlossen. Die Göttin segnet ihre Frauen“, sagte sie, und alle Frauen erhoben ihre Stimmen und summten. Sie summten und sprachen die verschiedensten Namen der Göttin aus: „Hera, Tiamat, Geridwen, Ishtar, Artemis, Lilith, Kali.... . Immer und immer wieder, wie ein Mantra, wiederholten sie die Namen der verschiedenen Göttinnen.

Ihre Stimmen wurden höher und höher, bis sie zu einem schrillen Crescendo anschwollen.

Alle spürten, wie stark ihre Energien sich miteinander verbanden. Wie sehr jeder einzelne Teil des Kreises, Teil der Göttin wurde!

Anna löste sich aus der Gruppe, wandte sich gen Osten, und zeichnete ein Pentagramm in die

Luft. „Heil euch, Mächte des Ostens! Heil der großen Adlermutter, dem Ort allen Anfangs.

Ea, Astarte, Aurora, Göttin aller Anfänge. Komm, und sei Zeugin unseres Rituals, das wir getreu der uralten Riten ausführen“.

Sie küsste die Klinge.

Sie wandte sich dem Süden zu. Auch hier zeichnete sie ein Pentagramm mit der Athalme in den Himmel.

„Heil euch, Mächte des Südens! Richtung des großen Feuers und der Leidenschaft, Göttin Esmeralda, Göttin Vesta und Heartha. Kommt und seid Zeuge unseres Rituals, das wir getreu der uralten Gesetzen ausführen“.

Und erneut küsste sie die Klinge des Ritualmessers.

Ihre Schritte bewegten sich gen Westen. Auch hier wurde ein Pentagramm in die Luft geschrieben. Annas Stimme wurde laut, als sie sagte: „Heil euch, Mächte des Wassers! Lebensspendende Göttin des Meeres, Aphrodite, Marianne, Themis, Tiamat. Kommt, und wacht über unseren Kreis und seid Zeuge unseres Rituals, das wir getreu den uralten Riten ausführen“

Sie küsste erneut die Klinge des Ritualmessers.

Eine unsichtbare Kraft schien in ihr aufzusteigen. Sie blickte zu Nora und Gerlinde. Auch sie schienen das gleiche Gefühl in sich zu spüren. Sie lächelte beide an, und sie lächelten zu ihr zurück.

Sie ging zum Norden, ganz in der Nähe des Altars, zeichnete das Pentagramm in den nachtklaren Himmel, und sagte: „ Heil dir, Ort aller Mächte und magischen Kräfte! Große Demeter, Persephone, Kore, Ceres. Erdmütter und Schicksalsgöttinnen. Großer Ozean aus Glas. Wacht über unseren Kreis, und seid Zeuge, wie wir unser Ritual getreu eurem Erbe ausführen“.

Annas Mund berührten die Klinge ihrer Athalme. Sie ging zu der Stelle zurück, wo sie eben noch den Kreis im Osten verschlossen hatte, und versiegelte den Kreis mit einem Kuss.

Nora holte ihre Utensilien hervor, und legte alles auf den Altar. Das kleine Fläschchen mit dem giftgrünen Inhalt, den zwei Gänsefedern, und das Teelicht, das sie mit ihrem Feuerzeug anzündete.

„ Diana, Göttin der Frauen, des Waldes und der Tiere. Die du tausend Namen hast, und doch immer „die Eine“ sein wirst! Wir haben uns versammelt, weil du uns gerufen hast. Hier sind wir, und warten auf dein Erscheinen. Segne uns, Mutter alles Lebens!“

Anna legte ihre Athalme auf den Altar, hob ihre Hände gen Himmel, und sagte: „ Diana, Göttin der wir dienen. Hier sind wir, was ist dein Wunsch an uns?“

Gerlindes Hand wurde feucht, als sie in ihre Tasche griff, und das kleine, rote Fläschchen auf den Altar der Göttin legte. Etwas geschah mit ihr, etwas, was sie vorher noch nie erlebt hatte. Sie fühlte, wie die eine Kraft durch sie hindurchfloss, sie wie ein wärmender Mantel, der ganz aus reiner Liebe bestand, umhüllte, und ihr Gedanken schenkte, die sie noch nie vorher gekannt hatte!

„Göttin des Lebens und der Liebe. Wir sind drei Frauen, die du erwählt hast, anderen Frauen zu dienen. Sag uns, was wir tun sollen, wir sind bereit in vollkommener Liebe und vollkommenem Vertrauen!“

Der Kraftkegel, der ihre Energien hielt, war immer noch sehr stark, das spürte Anna.

Sie schlossen ihre Augen. Bilder verschiedener Formen und Farben erschienen vor ihnen. Bilder ihrer Vergangenheit und der Gegenwart, Bilder, die ihrer Seele Schmerz zufügten und sie heilten.

Bilder ihres Lebens!

Plötzlich verschwanden alle Bilder vor ihren inneren Augen, und es wurde dunkel um sie.

Das Licht wurde langsam wieder heller, und sie sahen die Göttin, die sie am Abend zuvor besuchte, und an diesen Ort geführt hatte.

„Ich danke euch, meine Töchter, dass ihr gekommen seid“. Die Stimme der Göttin war

melodisch weich, von dem Timbre, das Anna schon immer bei Frauen schwach gemacht hatte.

Die Göttin lächelte sie an, schien sie doch ihre Gedanken zu erraten.

„Ich habe euch erwählt, weil eine jede von euch ganz bestimmte Talente hat, die im Ganzen genommen, dazu beitragen werden, das Leben für viele Frauen besser zu machen. Aber nicht nur diese Gaben, die ihr schon habt, werden euch helfen, die Gefahren und Probleme, die auf euch warten, zu meistern, sondern auch die Gaben, die ich allen heute schenken werde. Und das Buch der „Macht der großen Drei“, euren Vorgängerinnen, die von einem sehr mächtigen Dämon vernichtet wurden, und das ihre Zaubersprüche, und die ihrer Vorgängerinnen geschrieben wurden. Ihre Erfahrungen, gepaart mit euren Talenten, werden euch helfen!“

Sie sah Nora an, umfasste ihre Hand, und sagte: „Nora, meine liebe Tochter! Du bist jung, doch du hast viel Erfahrungen sammeln können, im Umgang mit Geistern, Dämonen und Kräutern. Deine Mutter war dir eine gute Lehrmeisterin und Freundin! Sie war vor sehr vielen Jahren eine der Vorgängerinnen, die deine Aufgabe erfüllten. Und nun trittst du in ihre Fußstapfen!“

Ihre Hand löste sich von ihr, und legte sich auf Noras Wange, die sie sanft streichelte.

„Und deshalb“, fuhr sie fort, „werde ich dir ihre Gabe schenken! Von diesem Augenblick an, kannst du mit Hilfe deiner Gedanken alles bewegen, was sich nach deinem Willen bewegen soll! Sei gesegnet, meine Tochter!“

Ein zarter Kuss der Göttin berührte ihren Mund und ihre Stirn. Nora erwachte wie aus einem wundervollen Traum. Zum ersten Mal verstand sie ihre Mutter! Sie, die ihr alles alte Wissen beibrachte, und Lehrerin, Mutter und Freundin in einer Person war. Die sie liebte, und deren Liebe sie erwiderte. Und deren Gegenwart ihr fehlte!

Sie war also eine von drei Frauen, die vor ihr daran arbeiteten, Frauen zu helfen! Viele Erinnerungen kamen wieder in ihr Gedächtnis, Erinnerungen, die längst in dem Computer ihres Gedächtnisses vergraben waren. Erinnerungen an zwei Frauen, eine Jüngere und eine Ältere, die oft ihre Mutter besuchten. Und dann verschwand ihre Mutter für Tage, Wochen oder Monate! Sie lebte dann bei einer Tante, die ihr verboten hatte, Magie zu betreiben, weil ihr Mann das nicht wollte!

Eines Tages braute sie in ihrem Zimmer einen Kräutersud, den sie ihrer Tante und deren Mann in der Nacht einflößte. Es war gerade Vollmond, also war die Wirkungskraft der Kräuter am stärksten!

Am nächsten Morgen, als ihre Tante aufwachte, sah Nora , das ihrer Tante über Nacht ein riesiger Vollbart gewachsen war, und ihr Mann statt seinen Haaren, eine riesige Glatze hatte.

„Wenn ihr mir noch einmal verbieten wollt, das zu tun, was ich will, dann werden die Folgen noch schlimmer sein! Ab jetzt darf ich doch Magie betreiben, oder“, fragte sie scheinheilig? Ihre Tante und deren Mann hatten plötzlich nichts mehr dagegen einzuwenden, wenn Nora Kräuter sammelte, oder mit Geistern sprach!

Ihre Mutter war, als sie ihr das nach ihrer Rückkehr erzählte, zum ersten Male richtig wütend auf sie gewesen!

„Nora“, sagte sie, und sah sie eindringlich an. „Du darfst Magie nie selbstsüchtig oder aus Spaß einsetzen! Die Göttin hat dir dieses Wissen gegeben, damit du dir und anderen Frauen helfen kannst, mit Problemen fertig zu werden. Also benutze sie das nächste Mal bitte verantwortungsbewusster!“

Sie hatte sich den Rat ihrer Mutter seither sehr zu Herzen genommen, und Magie nie wieder benutzt, um andere zu ärgern oder zu bestrafen! Sie gab ihrer Tante das Gegenmittel, das sie zubereitet hatte, und ihre Tante trank davon, ebenso wie ihr Mann, und der alte Zustand ihrer Haare war bald wiederhergestellt.

Die Augen der Göttin waren mittlerweile zu Anna gewandert, deren Augen feucht waren. Sie hatte geweint, und wusste nicht, warum?

„Du brauchst nicht zu weinen, meine Tochter“, sagte die Göttin, und strich ihr zärtlich durch

ihr kurzes rotes Haar. „Hab keine Angst, Anna! Steh dazu, was du bist und wen du liebst!

Anna, du bist eine Polizistin in den Jahren der mittleren Zeit. Einer Zeit, die geprägt ist von der Festigung der eigenen Persönlichkeit und des Wissens. Du bist eine Polizistin, und hast gelernt, logisch zu denken, um Täter überführen, und verhaften zu können. Und du bist eine Hexe, die ihr Wissen in einem Frauenkreis erlernt hat.“

Die Hand der Göttin löste sich von ihrem Kopf, umfasste mit festem Griff Annas Hand, und sagte: „Die Gabe, die ich dir schenke, ist die, aus deinem Körper gehen zu können, wann immer du es willst. Sei gesegnet, meine Tochter!“

Steh dazu, was du bist und wen du liebst“, hatte die Göttin zu ihr gesagt.

Aber konnte sie das?

Zeit ihres Lebens, seit sie für sich herausfand, dass sie Frauen liebte, hat sie gemerkt, wie die Gesellschaft auf sie reagierte. Ihre Eltern verstießen sie, ihre Geschwister luden sie nicht mehr zu Familienfeiern ein, und ein Grossteil ihrer Freunde ignorierten sie plötzlich.

Niemand auf ihrer Dienststelle wusste, dass sie Frauen liebte. Und hätten sie es gewusst, wäre sie wie ihre Kollegin Sandra gemobbt worden. Da war sie sich sicher.

Die Frauen in ihrem Wiccakonvent, waren die Einzigsten, die wussten, das sie Frauen liebte,

und sie vorbehaltlos akzeptierten. Kein Wunder, denn die meisten der Frauen ihres Konvents

war Lesben wie sie.

Sie hatte Angst, sich den beiden Frauen, die sie kaum kannte, soweit zu öffnen, das sie sich ihnen gegenüber outete. Nora, das wusste sie, war eine Hete, und Heten, egal ob in ihrer männlichen oder weiblichen Ausrichtung, haben meist Probleme mit Frauen wie sie. Davon war sie überzeugt.

Und Gerlinde?

Irgendwas stimmte nicht mit ihr, das fühlte sie. Sie war zu sehr Polizistin, als das sie ihrer Intuition nicht trauen würde. Irgendwie erschien sie ihr wie eine Frau, deren Sexualität nicht sichtbar war, und die noch verschossener war, als das Steuersäckel der Finanzministers. Aus ihr wurde sie nicht schlau.

Und sie sollte aus ihrem Körper gehen können, wann immer sie es wollte? Sie verspürte große Lust, es einmal auszuprobieren, aber etwas in ihr sagte ihr, dass diese Zeit noch nicht gekommen war!.

Warum gerade diese Gabe, fragte sie sich?

Und warum gerade sie?

Sie überlegte, fand aber keine Antwort.

Mittlerweile war die Göttin zu Gerlinde gegangen, deren Kopf sich zum Boden neigte. Sie fühlte sich unwürdig, im Kreis der anderen Frauen zu stehen.

Die Finger der Göttin legten sich unter ihr Kinn, hoben ihr Gesicht sanft an, und mit fast zärtlicher Stimme sagte die Göttin zu ihr: „Meine Tochter, es gibt keinen Grund, sich schlecht und unwürdig zu fühlen. Meinst du, ich hätte dich erwählt, wenn du es wärst?“

Gerlinde schüttelte den Kopf.

„Du bist das Bindeglied zwischen den Welten und den Geschlechtern! Zwischen dem Alten, und dem Neuen! Und deshalb gebe ich dir die Gabe, das alle Menschen, die du berührst, die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft offenbaren. Sei gesegnet, meine Tochter.“

„Umfasst alle eure Hände“, sagte die Göttin in einer Stimme, die voller Zärtlichkeit und doch voller Stärke war. „Und nun sprecht mir nach! Die Kraft der Göttin, für die Frauenmacht, die Frauenmacht, die nun erwacht. Sagt es zusammen dreimal, und dabei dreht ihr euch langsam um den Kreis.“

Die drei Frauen taten es ohne Widerspruch. Mit jeder Drehung, jedes Mal, wenn sie den Spruch sagten, spürten sie, wie ihre Energie in sie hineinfuhr.

Als sie die letzte Drehung, den Spruch zum letzten Mal gesprochen hatte, umhüllte sie ein

feiner, gasartiger Mantel aus reiner Energie. Wärme und Liebe umschloss sie, und sie hörten

aus weiter Ferne eine alte Weise, die schon gesungen wurde, bevor das Leben auf diesem Planeten begann.

Dann, wie von Geisterhand hinweggehoben, verschwand die Energie so schnell, wie er erschien.

„Meine Töchter, bevor ihr eure erste Aufgabe erfüllen könnt, braucht ihr noch drei Dinge. Dir Nora gebe ich den Schlüssel eines Wohnmobils,  mit dem ihr reisen werdet Nora wird, wenn es soweit ist, wissen, wo er zu finden ist.“

Plötzlich hielt Nora einen Schlüsselbund in ihren Händen.

„Und dir, Anna, gebe ich eine Börse, die für eure Bedürfnisse sorgen wird.“

Kaum sagte die Göttin das, hielt Anna in ihrer rechten Hand einen Beutel aus gegerbtem Leder, durch das eine lederne Schnur ging, der den Beutel zuhielt.

„Und dir übergebe ich das Buch der Schatten“, sagte die Göttin zu Gerlinde. „Nur, wenn ihr alles gemeinsam und zum Wohle aller benutzt, werden alle drei Gaben, sowohl die, die ihr von mir persönlich erhalten habt, als auch die, die ihr in euren Händen tragt; euch und den Frauen denen ihr dienen werdet, zum Segen gereichen.“

Sie blickte Anna als Hohepriesterin an.

„Und nun, meine Töchter, geht nach Hause, und regelt eure Angelegenheiten. Beim nächsten

Neumond werdet ihr mit eurer Arbeit beginnen. Nutzt die Zwischenzeit, um mit euren Kräften zu lernen, richtig umzugehen.“

Plötzlich verschwand sie in den Nachthimmel, so schnell, wie sie gekommen war.

 

 

„Wenn ich es nicht eben selbst erlebt hätte, würde ich es nicht glauben“, sagte Nora. Ihre Hände waren durch die immense Anstrengung, die Energien für das Ritual aufzubauen und zu halten, weiß geworden. Ihr Blut schien sich aus ihrem Körper verflüchtigt zu haben. Sie ging auf Gerlinde und Anna zu, die sie wortlos umarmte. Keine von ihnen war in der Lage, auch nur ein Wort zu sagen.

Dann, niemand konnte nachher sagen, wie lange, sagte Anna, dass es wohl das Beste wäre, die Energie wieder der Erde zurück zu geben. Alle stellten sich hin, und stellten sich vor, dass sie ein Baum wären, deren Wurzeln bis tief in die Erde reichten. Sie stellten sich vor, wie die Energien, die bis eben noch durch ihre Körper geflossen waren, langsam die Äste und den Stamm herunter, in die Wurzeln bis zur Erde flossen. 

Dann stellte sich Anna an die Stelle im Osten, an der sie zum Schluss den Schutzkreis geschlossen hatte, umarmte Nora, und verabschiedete sie mit den fünf heiligen Küssen, und sagte zu ihr : „Sei gesegnet!“

Gerlinde stand im Kreis, ihre Tränen flossen. Sie war so ergriffen von dem, was sie erleben durfte. Sie wurde als eine von drei Frauen von der Göttin berufen, um anderen Frauen gemeinsam mit ihren Schwestern zu helfen.

Ihre Schwestern?

Ja, meine Schwestern, dachte sie voller Freude.

Sie blickte Nora und Anna an! Friede und Liebe durchfloss durch sie. Ich werde Teil eines Frauenteams sein, von der Göttin gesegnet, und inmitten großartiger Frauen, dachte sie bei sich.

Anna deutete ihr, das sie zum Ende des Schutzkreises kommen sollte. Sie ging mit leicht beschwingten Schritten. Sie war seit langem wieder glücklich, und zeigte es auch.

Anna umarmte sie, und küsste sie auf fünf verschiedenen Teilen ihres Körpers zum Zeichen ihrer Segnung. „Sei gesegnet“, sagte Anna, und Gerlinde trat aus dem Kreis heraus.

Mit schnellen, geübten Händen räumten alle drei wie ein eingespieltes Team alle Steine und magische Utensilien fort.

Niemand sollte sehen, das sich hier an dieser Waldlichtung drei Hexen und eine Göttin getroffen hatten.

„Kann ich eine von euch mitnehmen“, fragte Anna?

„Ich habe ein Wagen“, antwortete Gerlinde, während Nora ausrief: „Gerne, wenn es für dich

kein Umweg ist?“

Sie tauschten ihre Telefonnummern aus, wobei sie feststellten, das Anna und Nora nicht allzu weit auseinander, und Gerlindes Wohnung genau zwischen ihnen lag.  Wenige Minuten später fuhren ein VW Polo und ein Toyota in die Innenstadt hinein.

 

 

Sie hielten vor Noras Wohnung. Nora stieg aus, verabschiedete sich von Anna, und sah, wie sich eine der Gardinen in ihrem Wohnzimmer bewegte.

Nick war zu Hause.

Sie umarmte Anna, die ausgestiegen war, um ihr, galante Butch die sie war, aus dem Wagen zu helfen.

„Möge die Göttin dich segnen, Schwester“ sagte sie, und Nora erwiderte: „Möge die Göttin dich sicher nach Hause begleiten!“ Anna stieg wieder ein, und winkte ihr zu.

Der Motor von Annas Wagen schnurrte, und sie sah ihr nach, wie sie fortfuhr. Plötzlich fühlte sie sich einsam und erledigt.

Sie blickte erneut nach oben.

Schweiß rann ihr über die ungeschminkte Stirn. Sie wusste nicht, wie sie ihm sagen sollte, das sie nicht mehr mit ihm jeden Tag zusammen sein konnte, das sie eine Aufgabe hatte, die wenig Zeit für ihn ließ?

Wie er wohl reagieren wird?

Ihre Schritte wurden langsamer, als sie zum Fahrstuhl gelangte. Die Türe öffnete sich, und sie stieg ein. Sie drückte auf einen der vielen Knöpfe, und langsam setzte sich der altersschwache Fahrstuhl in Bewegung. Als die Tür sich in der vierten Etage öffnete, stand Nick wütend vor ihr.

„Wo warst du, verdammt noch mal? Ich sitze hier, und mache mir Sorgen, während du in der Weltgeschichte herumreist! Sag mal, hast du kein Verantwortungsgefühl mir gegenüber?“

Er redete, schimpfte und fluchte auf sie ein. Sie hörte seine Worte nicht mehr.

Wortlos ging sie an ihm vorbei in ihre Wohnung, deren Türe weit geöffnet war. Nick stand hinter ihr, und redete wie verrückt auf sie ein. Noch bevor er eintreten konnte, schloss sie vor ihm die Tür, und ließ den Schlüssel innen stecken.

„Deine Sachen kannst du morgen abholen, Nick! Ich will nicht mehr! Diese andauernden Vorwürfe von dir, diese andauernde Kontrolle, dieses „brav zu Hause sitzen“, um sich um dich zu kümmern. Ich will nicht mehr, hörst du!“

„Aber Schatz, ich habe mir doch nur Sorgen um dich gemacht!“

„Wohl eher Sorgen darum, das ich bei jemand anderes sein könnte! Und ich sage dir, ich war bei jemand anderes!“

„Wusste ich es doch“, sagte er. Seine Fäuste ballten sich.

Sie hatte es gewagt, sich ohne sein Wissen mit anderen Männern zu treffen! Wer weiß, was sie alles zusammen angestellt haben? Eiskalte Wut stieg in ihm hoch. Er wollte sie schlagen. Zum allerersten Mal schlagen.

Er schlug wie wild gegen die Tür.

„Lass mich rein, Nora! Wir müssen darüber reden!“

„Nick, ich habe jetzt keine Lust zu reden. Geh jetzt bitte.“

„Nicht, bevor wir nicht geredet haben!“

„Also, gut! Ich öffne die Tür“

Nick hörte, wie sie langsam der Schlüssel im Türschloss drehte. Die Tür öffnete sich.

„Komm rein“, sagte Nora, und setzte sich im Wohnzimmer auf die breite Couch aus Rattan. Nick folgte ihr. Er hatte sich mittlerweile etwas beruhigt, war aber immer noch wütend genug, so dass ein Funke reichen würde, ihn zur Explosion zu bringen.

„Nick“, begann Nora, „Mir wurde eben klar, das ich mich in der letzten Zeit durch dich oft eingeengt gefühlt habe. Das ich dich nicht heiraten wollte, weil du mir nicht die Freiheit und die Luft gabst, die ich zum Leben brauchte. Alle Dinge, die mir wichtig waren, musste ich vor dir verschweigen, und heimlich tun, weil...“

„Du dich mit anderen Männern treffen wolltest!“

Er schlug sie.

Seine Schläge trafen sie unerwartet. Sie hob die Arme, um sich vor seinen stakkatoartig auf sie einprasselnden Schläge zu schützen. Sie verspürte zum ersten Mal in ihrer Beziehung mit Nick panische Angst.

So kannte sie ihn nicht.

Sonst war er immer freundlich und zuvorkommend gewesen. Das hatte sie damals, als sie ihn kennen lernte, so anziehend an ihm gefunden. Sie wurden schnell ein Paar, doch jeder behielt seine eigene Wohnung! Nick wollte immer, dass sie zusammenziehen sollten, wollte sie heiraten, aber etwas in ihr sagte ihr, das dieses ein Fehler wäre!

Und nun wusste sie, warum.

Er war ein Tyrann, für den nur sein Willen zählte.

Warum war ich bloß so dumm, das nicht zu merken? Anscheinend macht Liebe wirklich blind!

Nick hörte nicht auf, sie zu schlagen.

Seine Schläge und Tritte trafen sie überall.

Sie sank zu Boden. Er trat weiter.

„Denke an die Gabe, die ich dir gegeben habe“, hörte sie von Ferne die Stimme einer Frau. „Setze sie ein, Nora!“

Gabe?

Was für eine Gabe?

Ach ja, natürlich! Die Gabe, die mir die Göttin gegeben hatte! Die Gabe, Dinge bewegen zu können, allein durch die Kraft meines Willens.

Sie konzentrierte sich auf Nick. Ihre Gedanken wanderten zur Wand, an der die Bilder ihrer Mutter hingen. „Bitte Mama, hilf mir“, flüsterte sie. Plötzlich flog Nick wie von Geisterhand gezogen an die Wand, und alle Bilder ebenfalls. Er stöhnte vor Schmerz auf. Er stützte sich auf, wollte aufstehen, doch seine Beine versagten ihm ihren Dienst.

„Was war das, verdammt noch mal?“

„Magie, Nick“, erwiderte sie, und lächelte spöttisch.

Sie spürte, dass Nick Angst vor ihr hatte, und diese Angst gab ihr Mut.

„Nick, ich bin eine Hexe. Meine Mutter war eine, ebenso ich. Ich habe mich nicht mit Männern getroffen heute Abend, sondern mit zwei Frauen. Sie sind Hexen, genau wie ich. Ich hatte Angst, dir zu sagen, das wir uns noch weniger als sonst sehen können, und als du mich so am Fahrstuhl empfangen hattest, wusste ich, das ich mich von dir trennen muss. Also geh bitte, und nimm deine Sachen vorher mit. Ich will dich hier nicht mehr sehen, Nick!“

„Aber ich ...“

„Es gibt kein aber, Nick! Du gehst, und zwar mit deinen Sachen! Du weißt ja, was für Mächte in mir ruhen. Ich werde sie benutzen, wenn du auch nur ein einziges Mal in meiner Nähe sein wirst!“

„Ist ja schon gut“, sagte er. „Ich verschwinde ja schon.“

In Windeseile packte er seine Anzüge, Hemden und Socken, neben seinem Rasierapparat und all den vielen kleinen Dingen, die Männer so glauben zu brauchen, in seinem Koffer und eine große Reisetasche, und ging zur Tür.

„Hast du nicht was vergessen“, sagte Nora spöttisch?

Wortlos drückte er ihr ihren Wohnungsschlüssel in die Hand, und ging.

Er war weg, hoffentlich für immer

Erleichtert atmete sie auf. Sie ging ins Badezimmer, und betrachtete sich im Spiegel. Ihr Gesicht war verquollen, ihre Lippe blutig, und ihr Körper von blau-violetten Hämatomen übersäht.

Alles tat ihr weh.

Sie ging zum Spiegelschrank, und holte eine Dose hervor, deren Inhalt sie auf all die blauen

Flecken einschmierte, die ihr Schmerz bereiteten.

Kurze Zeit später hörte der Schmerz auf.

Sie ging zum Fenster, und sah in den nachtklaren Himmel. Der Mondin leuchtete in ihrer vollen Macht, und schien in ihr Wohnzimmer hinein.

„Was wohl die anderen zwei heute Abend machen?“

Sie dreht sich um, und ging in ihr Schlafzimmer, wo eine ruhige und erholsame Nacht auf sie wartete.

 

 

Annas Wagen hielt in der Tiefgarage ihrer Wohnung.

Sie stieg aus, und gelangte mit schnellen Schritten zum Fahrstuhl, der sie in Windeseile nach oben brachte. Die Fahrstuhltür öffnete sich, und sie stieg aus. Mit wenigen Schritten gelangte sie zu ihrer Tür, die sie öffnete.

„Ich bin wieder da, Schatz“, sagte sie.

Eine Stille wie in einem Grab empfing sie.

Niemand schien zu Hause zu sein!

Sie zog ihren Ledermantel aus, und hängte ihn an den Kleiderhalter im Flur. Sie hatte Hunger, und ging in die Küche. Der Kühlschrank, ein überdimensionales Etwas, der mehr Strom fraß als ein mittleres Kernkraftwerk produzieren konnte, war über und über mit Bildern von Sabine, ihr und Sabines Schwester mit Magnethaltern vollgesteckt.

Sie öffnete den Schrank, und nahm sich etwas Schweinebraten heraus, der noch vom Mittagessen übrig geblieben war. Sie schmierte sich etwas mittelscharfen Senf darauf, schnitt eine Scheibe von dem selbstgemachten Brot ab, und aß beides mit langsam kauenden Zahnbewegungen.

Wo steckte sie nur?

Normalerweise hinterließ sie mir immer einen Zettel, wenn sie fortging, manchmal mit einer Telefonnummer für Notfälle. Und meist war der Zettel in der Küche an den Kühlschrank geheftet, und so sichtbar, dass er sofort ins Auge fiel.

Warum jetzt nicht?

Sie blickte auf das Telefon und den da neben stehenden Anrufbeantworter. Der blickte. Zwei Nachrichten waren für sie und Sabine drauf!

Sie wischte ihre Hände an einer roten Papierserviette ab, und ging zum Anrufbeantworter.

„Sie haben zwei Nachrichten“, ertönte eine melodische weibliche Stimme. „Nachricht eins“, sagte die Stimme, und kurz danach war ein leises Piepen zu hören.

„Hallo Schatz“, hörte sie Sabines Stimme aus dem Band sprechend. „Ich habe dich heute verlassen. Ich kann nicht mehr mit dir leben. Deine Magie und deine Hexensachen sind mir einfach zu viel. Ich kann nicht mehr, Anna.“

Sabine weinte, und dann hörte sie, wie sie den Hörer auflegte.

Sie löschte die Nachricht!

„Nachricht Nummer zwei“, ertönte die Stimme. Es piepste erneut.

„Ich vermisse dich, Anna! Aber ich komme nie mehr zu dir zurück. Ich bin bei Gaby, wir sind jetzt zusammen. Sie ist keine Hexe, hat mit all dem nichts zu tun und, sie liebt mich!“

Sabine klang monoton, so wie die Stimme einer Lautsprecherdurchsage auf einem Bahnsteig.

„Aber liebst du sie, Sabine?“

Anna fühlte sich leer und einsam.

Sabine war fort! Gegangen, weil sie nicht damit umgehen konnte, das es viel mehr gab, als sie als rational denkender Mensch sich vorstellen konnte! Wie es ihr wohl jetzt ergeht? Gaby war eine gute Freundin. Das zwischen den beiden muss schon länger laufen, dachte sie. Sabine hatte nur auf den richtigen Augenblick gewartet, um zu gehen.

Warum hatte sie nie mit mir darüber geredet? Warum musste sie es mir so sagen?

Sie weinte.

Die große und starke Butch, in der Magie bewandert, die nichts so schnell aus der Ruhe brachte, weinte!

Sie ging in den Flur, stellte sich vor dem Spiegel, und trocknete ihre Tränen mit ihren Fingern

ab.

„Du siehst echt Scheiße aus, Anna, wenn du heulst! Weißt du das?“

Sie konzentrierte sich auf Sabine, während sie weiter in den Spiegel sah.

„Diana! Göttin der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft! Hilf mir, zu sehen, wie es der Frau, die ich liebe, geht!“

„Meine Tochter, sie hatte ihre Entscheidung getroffen! Nehme ihre Wahl hin, und quäle dich nicht! Es wird die Zeit kommen, da wirst du eine Frau treffen, die keine Angst mehr vor mir hat! Eine Frau, die auch eine Hexe ist! Ich weiß, wie weh es dir tut, dass sie dich verlassen hatte! Aber sie musste gehen!“

Sie hörte die Stimme der Göttin.

Langsam begann sie, sich daran zu gewöhnen, dass die Göttin zu ihr kam oder mit ihr sprach!

Nur wäre es toll, dachte sie, wenn ich vorher etwas darauf vorbereitet werden würde, damit

ich mich nicht jedes Mal dabei erschrecke oder heule.

„Aber ich liebe sie nun einmal! Wir waren so lange zusammen! Fünf lange, wundervolle Jahre! Jahre, die sie nun einfach wegwirft, nur, weil sie nicht damit umgehen kann? Ich kapiere es einfach nicht! Und dabei bin ich nicht blond!“

Sie grinste.

Sie liebte solche Scherze! Witze, die mit den gängigen Vorstellungen der deutschen Gesellschaft spielten, sie lächerlich machten!

„Ist es Liebe von ihr, wenn sie wegläuft, statt mit dir zu reden? Ist es Liebe, sich eine andere Frau zu suchen, die keine Hexe ist, nur weil sie damit nicht umgehen konnte was du bist? Ist es Liebe von ihr, dir weh zu tun?“ Eindringlich mahnend klang die Stimme der Göttin!

Anna blickte in den Spiegel.

Sie sah sich und Sabine, als sie sich kennen lernten.

Anna hatte sich gerade von Karin getrennt, und ertränkte ihren Kummer mit einigen anderen Freundinnen in einer Bar. Es war schon dunkel, als die Tür aufging, und die, wie sie damals meinte, hinreißenste Femme der Welt den Raum betrat.

Ihre Augen trafen sich.

Plötzlich schien die Bar außer Sabine und ihr leer zu sein.

Die Musikbox spielte eine alte Schlagerschnulze aus den 60igern. Sie ging auf Sabine zu, deutete sanft einen Handkuss an, und fragte sie, ob sie Lust zum tanzen hätte. Sabine bejahte, und so tanzten sie eng umschlungen. Anna spürte immer noch den zarten Duft ihrer Haut, ihr Parfüm und das sinnliche Rascheln ihres Kleides.

An diesem Abend tanzten sie noch lange miteinander!

Karin war vergessen, die Trauer war vergessen, es zählte nur das hier und jetzt! Sie schliefen in dieser Nacht miteinander! Sie wurden ein Paar, das versteckt lebte! Anna konnte sich ein Coming out als Polizistin nicht leisten, und Sabine wollte ihrer Familie nicht sagen, das sie Frauen liebte.

Sie sagte Sabine nie, das sie eine Hexe ist, das es für sie das Normalste von der Welt ist, mit Geistern Kontakt zu haben. Und dann eines Tages, wurde Sabine zufälligerweise Zeugin, wie sie mit ihrer verstorbenen Mutter sprach, die sie als Geist besuchte.

Das war zu viel für sie!

„Und seither war euer Vertrauen zueinander gestört“, hörte sie die Stimme der Göttin. „Und weder sie noch du hattest etwas unternommen, um daran etwas zu ändern!“

Sie hatte recht!

Ich hätte schon lange sehen können, das wir nicht mehr das glückliche Paar waren, wie zum Beginn unserer Beziehung, dachte sie. Die Anzeichen waren sichtbar! Ich sah sie nur nicht, wollte sie vielleicht auch nicht sehen!

Ihr Blick löste sich vom Spiegel.

Sie wollte sehen, wie es Sabine jetzt ging, und erhielt durch die Göttin einen Blick in ihre eigene Seele!

Sie zog sich aus, und legte sich ins Bett schlafen.

Wer wohl die neue Frau sein wird, die ich kennen lernen soll?

Ihre Augen wurden müde, und sie schlief ein.

„Ich werde dich immer lieben“ Sabine“, murmelte sie im Schaf. „Du wirst immer einen Platz

in meinem Herzen haben!“

 

 

Gerlinde lag in ihrem Bett.

Sie fror!

Was wird die Zukunft mir bringen, überlegte sie? Welche Abenteuer und Gefahren werden wir drei zu bestehen haben? Und, werden wir alle es überleben?

Sie hatte panische Angst vor der Zukunft!

Nicht so sehr wegen der Gefahren die auf sie möglicherweise warteten, sondern vor allem davor, wie die anderen beiden Frauen reagieren würden, wenn sie die Wahrheit über ihre Vergangenheit erfahren würden?

Würden sie genauso handeln, wie die Frauen aus ihrem letzten Konvent, die sie deswegen ausgeschlossen hatten? Würden sie sich voller Abscheu von ihr abwenden? Ihr die Freundschaft kündigen? Sie verlassen?

„Mach dir keine Sorge, meine Tochter“, hörte sie die vertraute Stimme der Göttin!

„Sie werden dich lieben! Und sie werden dich kennen lernen! Als Frau kennen lernen! Wenn du es ihnen sagen willst, dann tu es! Es ist auf jeden Fall besser, als das sie es selbst herausfinden. Lass ihnen etwas Zeit, sich daran zu gewöhnen, Gerlinde! Besonders Anna wird viel Liebe und Geduld von dir brauchen! Nur Mut, meine Tochter!“

„Und wenn sie ...?“

„Wenn sie was?“

„Na, wenn sie doch Probleme damit haben?“

„Du glaubst nur an das Schlechte im Mensche, nicht war, meine Tochter! Aber das ist ja auch kein Wunder, bei den Erfahrungen, die du gemacht hast! Du musst lernen, den Menschen mehr zu vertrauen. Einige werden dein Vertrauen missbrauchen, aber es wird auch Menschen geben, die deines Vertrauens wert sind! Und dazu gehören Nora und Anna!“

Sie sollte lernen, zu vertrauen?

Wie konnte sie das, wenn ihr Vertrauen und ihre Hoffnung jedes Mal zerstört wurde?

Aber sie musste es wohl oder übel, das spürte sie!

Sie nahm sich vor, den beiden Frauen, Nora und Anna, zu vertrauen, und ihnen die Wahrheit über sich zu sagen.

Plötzlich fühlte sie sich wohlig warm und legte sich hin.

Schnell schlief sie ein, und merkte nicht, wie die Göttin, die neben ihrem Bett stand, lächelte.

Die Mondin zog einsam am nachtklaren Himmel ihre Bahn. Sie wusste, das, was auch geschehen mag auf dem Trabanten Erde, es Hexen gab, die alles was in ihrer Macht stand, taten, um sie für Frauen etwas sicherer zu machen!

 

Ende der 1. Folge

 

 

 

 

Wird Gerlinde ihr Versprechen einhalten, und sich Nora und Anna gegenüber outen?

Wie werden beide reagieren?

Sagt Anna, das sie Frauen liebt?

Wird Noras Ex, Nick, sie noch weiter belästigen?

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