Der Mann zog den Kragen seines grauen Trenchcoats höher.

Ihm war kalt an diesem Abend, und er verfluchte seinen Chef, der ihn Überstunden machen ließ. Er war auf dem Weg nach Hause. Einen Weg, der ihn durch einsame Straßen, einen spärlich beleuchteten Kienhorst- Park, und eine heruntergekommene Wohngegend führte, in der er seit seiner Scheidung wohnte.

Seine Frau hatte sich mit einem anderen Mann eingelassen, den sie heiraten wollte. Deshalb ließ sie sich von ihm scheiden. Sie waren fünfzehn Jahre verheiratet gewesen, fünfzehn Jahre, die nicht unbedingt immer einfach für ihn waren.

Der Mann zog den Kragen seines grauen Trenchcoats höher.

Ihm war kalt an diesem Abend, und er verfluchte seinen Chef, der ihn Überstunden machen ließ. Er war auf dem Weg nach Hause. Einen Weg, der ihn durch einsame Straßen, einen spärlich beleuchteten Kienhorst- Park, und eine heruntergekommene Wohngegend führte, in der er seit seiner Scheidung wohnte.

Seine Frau hatte sich mit einem anderen Mann eingelassen, den sie heiraten wollte. Deshalb ließ sie sich von ihm scheiden. Sie waren fünfzehn Jahre verheiratet gewesen, fünfzehn Jahre, die nicht unbedingt immer einfach für ihn waren.

Das Gericht sprach ihr das Sorgerecht für die Kinder, und einen Anteil seines Verdienstes zu. Was war nur aus der guten alten „Regelung nach dem Verschuldungsprinzipgeworden, überlegte er?

Sie betrügt mich, und ich muss blechen!

Eine ungerechte Welt!

Er musste jeden verdammten Tag arbeiten, auch am Sonntag, um den Unterhalt für seine getrennt lebende Familie zu bezahlen! Von Montag bis Sonntag schuftete ich in der Fabrik, manchmal so wie heute mit Überstunden. Überstunden, die ich nie bezahlt bekam!

„Wir brauchen sie, Kollege Weiß“, sagte der Vorarbeiter!

„Wenn sie nicht zur Sonderschicht erscheinen, fliegen sie raus. Es stehen draußen genug andere Bewerber, die ihren Job liebend gerne machen würden“, sagte sein Chef.

Was blieb mir also anders übrig, als die Überstunden unentgeltlich zu leisten?

Der Park war dunkel.

Eine Spottdrossel trällerte ihr einsames Lied.

Er lächelte.

Wie gerne wäre er am Tag spazieren gegangen! Hätte sich an den spielenden Kindern erfreut, den Männern im Park beim Boule- Spielen zugesehen, und sich mit Horst, seinem besten Freund seit vielen Jahren, zu einer Partie Schach, seinem Lieblingsspiel, verabredet!

Er verfluchte seinen Chef, der ihm all das nahm.

Plötzlich hörte er ein sirrendes Geräusch!

Ein Blitz schien durch seinen Körper zu fahren, ein stechender Schmerz machte sich breit.

Er fiel wie ein gefällter Baum zu Boden. Ein Pfeil steckte nahe seines Herzens, und Blut floss durch seinen geschlossenen Mantel.

Er hörte Schritte.

Eine vermummte Gestalt, deren Gesicht er nicht erkennen konnte, da eine Skimütze es ganz verdeckte, beugte sich über ihn. In der rechten Hand lag ein riesiger Bogen, in deren Sehne ein weiterer Pfeil steckte.

Die blauen Augen der vermummten Gestalt sahen ihn an. Pfeil und Bogen wurden wenige Schritte von ihm entfernt auf den Boden gelegt, weit genug, das er nicht ran kam. Wortlos wurde seine Hose aufgeknüpft, und sein Geschlechtsteil herausgeholt. Die Gestalt nahm hinter seinem Rücken ein großes Bowiemesser hervor, dessen zweischneidige Klinge selbst Knochen durchtrennen konnten; hielt mit angewidertem Blick sein bestes Stück fest, und mit schnellem und geübten Schnitt, trennte er das Teil von seinem übrigen Körper.

Blut spritzte einer Fontäne gleich, auf den nackten Boden, und versickerte im Erdreich.

Er schrie vor Schmerz laut auf.

Die Gestalt nahm das Glied, und steckte ihm ihn in den Mund. Ein schmerzvolles, halb ersticktes Wimmern kam aus seinem Mund.

„So geschieht es allen Vergewaltigern“, sagte die Gestalt.

Aber ich habe doch niemand vergewaltigt, durchschoss ihn ein Gedanke. Das muss ein Irrtum sein! Die Gestalt sah ihn an. Ein irre klingendes Lachen, durch die Maske gedämpft, erschallte.

„Alle Männer müssen büßen“, sagte die Gestalt.

Erst jetzt erkannte er, dass die Stimme weiblich war!

Er wurde ohnmächtig, und starb wenige Minuten später.

Die Gestalt steckte ihr Messer in eine sich im Rücken befindliche Scheide, blickte sich um, und vergewisserte sich, dass niemand sie beobachtete, und verschwand zwischen dem Gebüsch.

 

 

Anna war Polizistin!

Sie liebte ihren Beruf. Jeder Tag stellte sie vor neuen Fragen, neuen Herausforderungen, die sie versuchte, zu bewältigen. Und seit Sabine sie verlassen, und zu Gaby gezogen war, stürzte sie sich noch mehr in die Arbeit!

Sie wollte vergessen!

Vergessen, das Sabine ihre große Liebe war. Vergessen, das sie eine Hexe war! Denn ihre Religion, die Religion einer Hexe, war der Grund, weswegen Sabine sie verließ.

Sie wollte nicht mehr!

Alle magischen Utensilien hatte sie in den Müllcontainer geworfen, all ihre magischen Bücher verbrannt, und die Kirche in ihrem Viertel besucht, und vom anwesenden Priester im Beichtstuhl Absolution erhofft. Er erteilte sie ihr, doch immer noch fühlte sie eine große Leere in sich!

Nora und Gerlinde, die beiden anderen Hexen, mit denen sie im Auftrag der Göttin für andere Frauen arbeiten sollte, hatten versucht, sie anzurufen.

Sie ließ sich verleugnen!

Es war ein klarer Neumondabend, als sie, umnebelt von vier Gläsern schweren Rotweins und einer halben Flasche Wodka auf dem Sofa mit einer warmen Wolldecke, ein Geschenk Sabines, zugedeckt, nackt eingeschlafen war.

Sie träumte.

Sabine besuchte sie, küsste sanft ihre Wangen, berührte mit ihren Fingern ihren Hals, die Stelle, die Sabine so liebte, und hauchte ihr einen Kuss entgegen.

„Anna“, sagte sie. „Ich liebe dich! Aber ich musste gehen! Versteh das doch!!“

Das Telefon klingelte unbarmherzig laut. Sabine verschwand, und Anna wachte

schlaftrunken auf.

Es fiel ihr sehr schwer, den Hörer abzunehmen.

„Ja, hier ist Anna. Wer ist da?“

Sie vernahm ein hörbares Aufatmen.

„Endlich! Wo warst du so lange? Gerlinde und ich haben so oft versucht dich zu erreichen! Die Göttin braucht dich, und wir brauchen dich auch!“

Flehendlich sagte Nora: „Wir brauchen dich!“

„Aber ich will nicht mehr! Ich kann nicht mehr! Sabine hat mich wegen der Göttin verlassen. Sie hat mich verlassen, weil sie nicht mit einer Frau umgehen konnte, die Kontakt mit Geistern hat. Und bitte lasst mich von jetzt an in Ruhe! Lasst mich nur in Ruhe!“

Sie schrie ihren ganzen Schmerz heraus. Dann schmiss sie den Telefonhörer auf die Gabel. Tränen rollten über ihr Gesicht, und eine große Leere umschloss sie.

Sie hatte gehofft, das die Zeit alle Wunden heilen würde, das die Worte der Göttin ihr helfen könnten, die Trennung zu akzeptieren; vor allem, da sie wusste, das es eine Frau, ebenfalls eine Hexe, gab, die sie kennen lernen und lieben würde.

Aber nichts von all dem geschah!

Im Gegenteil! Jeder Tag ohne Sabine wurde für sie zur Qual! Sie rief bei Gaby an, wollte Sabine sprechen, und wurde jedes Mal gebeten, nicht wieder anzurufen. Sie versprach es, und zwei Stunden später rief sie wieder an!

Sie gab der Göttin und der Magie die Schuld, verleugnete alles, was sie wusste, alles, was sie konnte, um die Leere in sich zu verlieren. Und doch wurde es schlimmer! Sie litt!

Nur im Dienst konnte sie sich von ihrem Schmerz ablenken! Ihr Kollege, Obermeister Römer, spürte, das mit ihr etwas nicht stimmte, und versuchte, auf sie einzureden, doch endlich zu sagen, was mit ihr los sei.

Doch Anna konnte nichts sagen!

Hätte sie ihm sagen sollen, das sie Frauen liebte, wo er doch so voller Homophobie steckte, das es für eine ganze Stadt gereicht hätte? Das sie eine Hexe war, wo er als Mitglied der Mormonen, einer fundamentalistischen Sekte, doch dagegen wettern würde? Das Sabine sie verlassen hatte? Sie hörte schon, wie er „das kommt davon, wenn man in Sünde lebt“, sagen würde.

Nein, sagen konnte sie ihm nichts!

Das Licht in ihrem Wohnzimmer erlöschte, und ging nach wenigen Augenblicken wieder an.

„Meine Tochter“, hörte sie die vertraute Stimme der Göttin“. „Na, gefällt dir dein Selbstmitleid? Sie hat dich verlassen, na und? Das ist sicherlich traurig, aber nicht der Weltuntergang!“

„Was weißt du denn schon von wahrer Liebe“, sagte Anna.

Sie war wütend!

Wie konnte sie, die Göttin, es wagen, sie runterzumachen. Verdammt noch mal, dachte sie, ich liebe Sabine! Ich liebe sie so sehr, das es weh tut, sie zu verlieren! Aber darauf nimmt die Göttin keine Rücksicht! Hauptsache, wir erfüllen unsere Aufträge! Wie es in uns aussieht, kümmert sie doch kein bisschen!

„Soso, das meinst du also“, sagte die Göttin, und blickte sie durchdringend an, so, als ob sie bis in die Tiefe ihrer Seele blicken würde. ! „Bist du da nicht in wenig ungerecht?“

„Ich? Wieso?“

„Weil du nur deinen Schmerz siehst, und nicht den Schmerz all der Frauen, die auf euch warten. Weil du meinst, das die Welt zusammenbricht, weil Sabine dich verlässt! Sie musste ihren Weg gegen, Anna! Und du den deinen! Du kannst versuchen, dich diesem Weg zu entziehen, davor wegzulaufen, aber du kannst nicht vor dir weglaufen, das weißt du, nicht war!“

Sie wusste, wen die Göttin meinte: Ihre jüngere Schwester Simone!

Simone, die mit vier Jahren starb, weil sie als große Schwester, damals 9 Jahre alt, nicht

aufgepasst hatte! Zeit ihres Lebens fühlte sie deswegen eine große Schuld in sich, einer

Schuld, vor der sie andauernd versuchte, wegzulaufen. Ihre Mutter half ihr schließlich, sich

davon zu befreien, indem sie sich der Schuld stellte, indem sie ihrer Mutter sagte, was wirklich geschehen war. Erst dann konnte sie mit der Selbstheilung ihrer Seele zu beginnen!

„Meine Tochter, wenn du einer Frau, die einen Liebeszauber von dir möchte, um eine Frau oder einen Mann an dich zu binden, hilfst; was sagst du ihr, was sie tun soll, wenn sie die abgebrannten Kerzen des Rituals ins Wasser wirft?“

„Drehe dich um, und blicke nie zurück. Lass der Göttin den Raum, ihre Energien wirken zu lassen“, erwiderte Anna.

„Siehst du“, erwiderte die Göttin ihr, „Genau das sollst du auch machen! Wenn Vergangenheit dich darin hindert, die Gegenwart zu leben, um in die Zukunft zu gelangen, dann musst du loslassen, Anna! Blick nach vorne, Anna! Denk an die Zeit mit Sabine, als eine schöne Zeit, die nun vorbei ist. Ihr beide geht nun unterschiedliche Wege, Anna! Sabine brauchte das „Normale“, etwas, was du ihr nie geben konntest! Und du liebst das Abenteuer, die Herausforderung, etwas, was du mit Nora und Gerlinde erleben wirst, und zwar mehr als dir lieb ist!“

Sie wusste, dass die Göttin recht hatte! Aber das wollte sie nicht!

Dafür war sie zu sehr von ihrem Sternzeichen der Schützin beeinflusst!

„Anna, es gibt eine Frau, die eure Hilfe braucht. Ihr wurde großes Unrecht angetan, und sie gibt dieses Unrecht durch Gewalt weiter. Sie braucht euch alle, Anna!“

Aber ich habe doch die Magie aufgegeben“, erwiderte sie. „Meine Utensilien sind auf dem Müllcontainer gelandet, und alle Bücher habe ich verbrannt. Und ich...“

„Und alles kannst du ersetzen, meine Tochter! Dein großes Wissen ist nicht in Büchern zu finden, sondern in dir! Und es liegt an dir, wie du dieses Wissen benutzt, Anna!“

Sie wusste, das die Göttin wieder recht hatte, und das sie sich nicht mehr dagegen stäuben konnte, eine Hexe zu sein. Sie konnte weder vor ihrem Wissen noch ihrem Gewissen davonlaufen! Sie fasste sich an ihre Stirn, wo sie die zunehmende Mondin spürte, die bei ihrer Initiation ihr eingemeißelt wurde. Sie spürte, wie eine neue Kraft durch ihren Körper floss.

Das Telefon klingelte erneut.

„Geh ans Telefon“, sagte die Göttin. „Es hat mit deinem ersten Einsatz zu tun“. Die Göttin verschwand

Sie nahm den Hörer ab.

„Na endlich, Anna“, hörte sie die vertraute Stimme ihres Kollegen, Obermeister Römer, der sie zu einem Einsatzort zum sichern der Spuren beorderte; weil wieder einmal nicht genug Kollegen seit der letzten Sparwelle des Berliner Senats da waren. Mit einem dicken Kopf zog sie sich, nachdem sie sich kurz geduscht hatte, ihre Uniform an, und fuhr wenige Minuten später zum Einsatzort in einem abgelegenen Park im Norden Berlins.

 

 

Nora und Gerlinde saßen in Noras Wohnung, und unterhielten sich angeregt. Sie wussten nicht, was sie tun sollten, da Anna sich weigerte, mit ihnen an ihrem ersten gemeinsamen Fall zu arbeiten, von dem sie noch nichts wussten.

Nora versetzte sich in Trance, und Gerlinde legte Tarotkarten, um den Willen der Göttin zu erfahren. „Sie sollten warten“, lautete die Botschaft! Warten darauf, das Anna sich mit ihnen in Verbindung setzen würde, denn nur mit Annas Hilfe könnten sie der Frau, um die es gehen würde, helfen!

„Das Warten macht mich ganz hibbelig“, sagte Gerlinde, und goss sich ein weiteres Glas Selters ein, das sie in einem Zug austrank. „Worauf sollen wir überhaupt warten? Das die gnädige Anna sich doch noch bequemt, hier aufzutauchen?“

 „Wer weiß“, erwiderte Nora, die an der blauen Kordel spielte, die ihr rotes Ritualgewand zusammenhielt, und die sie sich aus dem Kleiderschrank geholt hatte. Auch sie war nervös, doch sie zeigte es weniger als Gerlinde.

Ihre Mutter lehrte sie von jung auf an, sich zu beherrschen, ihre Emotionen in den Griff zu bekommen. Eine Fähigkeit, die ihr immer wieder geholfen hatte! Besonders, wenn es wie jetzt auf Geduld ankam!

Das Telefon klingelte.

Nora nahm den Hörer in ihre linke Hand, und sagte: „Hier bei Jepsen“.

„Bist du es Nora“, fragte Anna? „Ich habe nicht viel Zeit hörst du. Die Göttin hat uns unseren ersten Fall beschert, und ihr müsst zum Tatort kommen. Ich stehe grad hier. Alles andere können wir später besprechen, ja“.

„Okay, sag uns nur, wohin wir müssen“.

„In den Kienhorst- Park. Ich werde einen Kollegen bitten, euch zu mir zu führen. Ich werde ihm sagen, das ihr Profiler vom Bundeskriminalamt seid, damit alles reibungslos geht!“

„Gut“, sagte Nora. „Wir sind sofort unterwegs!“

„Was hat sie gesagt?“

„Das wir unseren ersten Fall haben“, sagte Nora, und lächelte dabei. „Wir sind also wieder ein Team, Gerlinde!“

Sie zogen ihre Jacken an, und liefen zu Gerlindes Wagen, einem leicht altersschwachen silbernen VW- Polo, und fuhren los. Etwa zehn Minuten später standen sie vor dem Eingang zum Park, wo eine junge dunkelhaarige Polizistin schon auf sie wartete. Sie stellten den Wagen am Straßenrand ab, und machten sich mit der jungen Polizistin, die sich als „ Oberwachtmeisterin Krüger“ vorstellte, auf den Weg zu dem Ort, wo ein Mensch sein leben gelassen hatte.

Bestimmt wieder eine Frau, die Opfer eines Sexualmörders geworden war, überlegte Gerlinde! So was passiert ja vielen Frauen! Und dann geben die Männer, die uns das antun, auch noch uns die Schuld! Als wenn wir etwas für ihre Gewaltbereitschaft könnten! Gewalt ist ihr Problem, nicht unsres!

Eine Gruppe von Menschen kam ihnen entgegen.

„Der arme Mann“, sagte eine ältere Frau zu ihrer Nachbarin. „So ein schreckliches Ende wünsche ich niemanden!“

„Was der gelitten haben muss“, sagte ein älterer Mann, der seinen Spazierstock beim gehen in den Boden rammte. „Die Schmerzen, nein, diese schlimmen Schmerzen!“

„Hast du gehört“, sagte Gerlinde zu Nora, die Mühe hatte, den schnellen Schritten der Polizistin zu folgen. „Das Opfer war ein Mann!“

„Ja, also muss der Täter eine Frau und unser nächster Auftrag sein“, sinnierte Nora.

Sie gelangten an den Tatort.

Anna hatte schon mit anderen Kollegen den Tatort abgesperrt, und dafür gesorgt, das die gaffenden Schaulustigen in einem gebührenden Abstand um den Tatort herum standen. Die Leute der Spurensicherung durchsuchten jeden Zentimeter  und fanden nur das Blut des Opfers, und das abgeschnittene Geschlechtsteil, das sie in eine Plastiktüte steckten.

Anna kam auf sie zu, und umarmte Nora und Gerlinde. Sie deutete auf die Leiche, die gerade in einem Zinksarg von zwei kräftigen Männern der Pathologie abtransportiert wurde, und sagte: „Tja, anscheinend ist unser erster Fall eine Frau, die Freude daran findet, wie Robin Hood in den Wäldern des Kienhorst- Parks herumzustreunen, und auf Männer mit einem Flitzebogen zu schießen. Und mit dem Messer kann sie auch gut umgehen, bei der Schnitttechnik!“

„Das glaube ich auch“, erwiderte Nora. „Was meinst du, können wir tun?“

„Erfahrungsgemäß treibt sich ein Täter der tötet, immer in der Nähe des Tatortes herum, weil er sehen will, wie die Polizei sich bemüht, ihn zu fassen. Nur, mit weiblichen Tätern hab ich keine Erfahrung“.

Was hältst du davon“, sagte Gerlinde, „wenn wir uns unter den Gaffern doch mal umsehen?

Schaden kann es auf jeden Fall nicht!“

Nora blickte Anna an. Die nickte. Sofort mischten sich beide unter die Schaulustigen.

Nora und Gerlinde teilten sich. Während Nora sich den nördlichen und den westlichen Teil

der Menge ansah, ging Gerlinde in den südlichen Teil, und sah sich jedes Gesicht intensiv an.

Aber so sehr sie auch schaute, so intensiv sie auch versuchte, in die Gedanken und Gefühle

der Zuseherrinnen zu blicken, sie sah nichts, was für den Fall interessant gewesen wäre.

Enttäuscht blickte sie zu Nora.

Auch sie hatte keinen Erfolg!

Sie gingen beide zu Anna zurück, die sich gerade mit der Polizistin unterhielt, die sie zum Tatort gebracht hatte.

„Darf ich euch eine Kollegin von mir vorstellen. Annika, das ist Nora Jepsen, Nora, das ist Annika Krüger.“ Beide gaben sich die Hand. Nora fühlte die Wärme ihrer Hand, und wie sanft etwas an Energien zu Annika hinüber floss. Sie wusste nicht, wieso, aber schon lange hatte sie gelernt, nicht mehr nach dem „warum“ zu fragen.

Sie ließ ihre Hand los, und merkte, wie Annika versuchte, dieses loslassen hinauszuzögern. Sie fühlte sich plötzlich unbehaglich, als diese junge Frau sie mit ihren strahlend, hellblauen Augen ansah. Plötzlich ließ sie los!

Da war etwas, etwas, was ihr Angst machte. Etwas, was sie nicht kannte, nicht erklären konnte!

„Und das liebe Annika, ist Gerlinde ...?“ „Henkel“, warf Gerlinde ein. „Also, das ist Annika Krüger und Gerlinde Henkel“.

Beide gaben sich die Hand.

Ein Blitz an Empfindungen und Bilder durchfloss Gerlindes Gehirn. Sie sah Schreckliches!

Sie spürte, wie eine Welle von Angst, Hass und Gewalt sie umschloss. Bilder einer riesigen, behaarten Hand, die sich auf den Mund eines kleinen Mädchens drückten, das kaum älter als drei Jahre alt sein musste. Sie roch den Geruch von Alkohol und Tabak, hörte das Wimmern eines kleinen Kindes, und sah, durch ihre Augen, wie ein Pfeil auf eine Zielscheibe, und später auf einen Mann zuflog. Einem Mann, der dem männlichen Opfer wie aus dem Gesicht geschnitten zu sein schien! Und sie sah einen Dämon in ihr, der diabolisch lachte!

Annika lächelte sie an.

Sie lächelte zurück, doch ihr Lächeln gefror in ihrem Herzen.

Annika ging zu ihren Kollegen zurück, und unterhielt sich mit einem Mann, der gerade damit beschäftigt war, einen Gipsabdruck zu nehmen.

Gerlinde drehte sich um.

„Ich glaube, ich weiß jetzt, wer diesen Mord begangen hat“, sagte sie.

„Wer“

„Deine Kollegin, Annika, Anna“, erwiderte sie, und sah Nora und Anna an. „Ich habe ihren Schmerz und ihren Hass gespürt, Schwestern! Sie ist als Dreijährige vermutlich über Jahre sexualisierter Gewalt ausgesetzt gewesen, und hat wahrscheinlich eine gespaltene Persönlichkeit. Ich sah durch ihre Augen den Mord an dem Mann. Und ... “, sie zögerte. „Ich habe einen Dämon gesehen!“

„Bist du sicher?“

Anna konnte es nicht glauben!

Eine Kollegin, die sie all die Jahre kannte, die sie mochte, und die sie glaubte zu kennen, soll für diese Tat verantwortlich sein?

„Ist ein Politiker immer ehrlich?“

„Lass den Sarkasmus, Gerlinde! Wir glauben dir ja“. Nora sah, wie es in Annas Gehirn arbeitete, und spürte, das sie sich weigerte, das zu akzeptieren, was Gerlinde gesehen hatte. „Auch wenn manche es noch nicht glauben wollen!“

„Und was machen wir nun?“

Anna sah beide an. Ratlos, hilflos, blickte sie zu Annika, die gerade zum Einsatzwagen ging.

„Noch keine Polizei, denke ich! Die Göttin wollte mehr, als das wir den Fall nur aufklären, das hatte sie mir gesagt. Ich denke, wir müssen ihr helfen!“

Plötzlich war sie wieder da, die Stärke und Entschlusskraft, die so viele Menschen an ihr so schätzten.

„Was würdest du vorschlagen, Nora?“

„Sie mit ihrer verdrängten Vergangenheit konfrontieren, mit dem Hass und ihrer Tat. Erst dann kann sie anfangen, sich zu heilen. Und das geht am besten mit einer Rückführungstechnik, die meine Mutter mir beigebracht hatte.“

„Und was machen wir mit dem Dämon“, fragte Anna?

„Das kompliziert zwar alles, und wir müssen mehr aufpassen als sonst, aber ich denke, den kriegen wir auch noch aus ihr heraus!“

„Und danach ihre Seele durch ein Ritual der Göttin heilen“, warf Gerlinde ein. „Am besten das Rosenritual“.

Anna kannte dieses Ritual!

Sie hatte es oft benutzt, wenn eine ihrer Freundinnen durch einen Trennungsschmerz gehen musste, um der Freundin über den Schmerz hinwegzuhelfen.

„Und wie bringen wir Annika dazu, unsere Gaben anzunehmen? Sie ist eine sehr eigensinnige Frau, typisch Widder halt eben!“

Anna blickte zu Nora.

„Was meinst du, sollten wir dazu tun? Sollen wir sie kidnappen, betäuben und zwangshypnotisieren?“

„Ach, lass doch den Quatsch! Du weißt doch ganz genau, das so etwas schwarze Magie wäre, etwas gegen den Willen eines anderen Menschen zu tun! Nein, wir müssen versuchen, sie zu überzeugen. Und ich denke, dazu brauchen wir Deine Hilfe, Anna, denn zu dir hat sie Vertrauen!“

„Und wie soll ich das machen“, warf Anna ein?

Nora sagte es ihr.

 

 

Die Wohnung von Annika war funktional aber schmucklos eingerichtet. Im Wohnzimmer eine Couch, mehrere Sessel und ein kleiner Tisch. Ein Fernseher, ein Videorecorder und eine Hifi- Anlage, alles in schwarz gehalten, war der einzige „Schmuck“ ihrer Wohnung.

Kein Bild, kein Foto von sich oder ihrer Familie schmückte das Zimmer, nicht einmal eine Pflanze welkte vor sich hin.

Annika lag auf der Couch, hatte einen schwarzen Schlafanzug an, und war mit einer schwarzen Wolldecke zugedeckt.

Sie wollte schlafen, konnte aber nicht!

Die Stimmen in ihrem Kopf ließen ihr keine Ruhe.

Da war ein Georg, der sagte, das alle Männer Schweine wären, die alle Frauen vergewaltigen würden! Eine andere Stimme, Monika, sagte, das sie dazu ausersehen wäre, im Namen Gottes alle Männer zu töten, und das niemand ihr etwas anhaben könne! Das sie alle Frauen vor den Männern schützen müsse.

Und die Stimme von Heinz, ihrem Vater, der immer in ihren Träumen erschien, und zu ihr sagte: „ Du bist eine Frau, wertlos, und nur dazu da, mich zu befriedigen! Deine Mutter weiß das auch. Siehst du, wie sie zukuckt, wen  ich es mit dir treibe!“

Und dann sah sie vor ihrem innerem Auge ihre Mutter, die eingeschüchtert nach all den vielen Schlägen von ihm, bei einer Nachbarin Zuflucht suchte, wenn er sie nicht zwang, bei ihrer Vergewaltigung zuzusehen, um sie noch weiter zu demütigen.

Eines Tages konnte sie nicht mehr, und brachte sich vor den Augen ihres Mannes und ihrer Tochter um, als er sie wieder vergewaltigen wollte, und ihre Mutter zwang, zuzusehen.

Sie kam in die Psychiatrie, wurde ein Jahr später als „geheilt“ entlassen, und wurde, da sie minderjährig war, wieder zu ihrem Vater geschickt, der sie weiter vergewaltigte, bis er starb.

Niemand wusste, wie es passieren konnte, das er starb, war er doch so kräftig gebaut! Aber sie wusste es!

Denn sie hatte ihn getötet, und alles wie ein Unfall aussehen lassen!

Dann verdrängte sie alles! Vergaß, was seit ihrer Kindheit ihr angetan wurde! Vergaß, das sie ihn getötet hatte.

Sie kam in ein Heim, da niemand von ihren Verwandten sie aufnehmen wollte. Sie wurde erwachsen, und wollte Polizistin werden, um kleine Kinder zu beschützen.

Vor einem Jahr kamen diese Stimmen zum ersten Mal. Zuerst Georg, dann Heinz, und dann

Monika, und noch viele andere Stimmen. Stimmen von Mädchen und Jungen, Männern und Frauen, Stimmen, die alle zu ihr redeten. Stimmen, die immer in ihrem Kopf waren, Stimmen, an die sie sich oft nicht mehr erinnern konnte, wenn sie fort waren.

Die Türklingel läutete.

Sie raffte sich auf, zog ihren Morgenmantel und ihre ausgetretenen Hausschuhe an, und schleppte sich zur Wohnungstür. Ihr Kopf hämmerte wie wild, die Stimmen in ihr schrieen wie ein Chor, der noch nie etwas von Harmonie gehört hatte. Es viel ihr schwer, diese Stimmen zu unterdrücken, aber irgendwie schaffte sie es.

„Wer da“, fragte sie in die Sprechmuschel ihrer Gegensprechanlage hinein?

„Ich bin’s, Anna“, hörte sie die vertraute Stimme ihrer Kollegin. Eine Stimme, die ihr so gut tat, obwohl sie nicht wusste, ob sie selbst lesbisch oder heterosexuell oder überhaupt etwas war.

Sie öffnete die Tür, und blickte in das Gesicht von Anna, das sie so gut kannte und mochte.

Ihre kurzen roten Haare, ihr breites Gesicht mit dem eingemeißelten Mond an der Mitte der Stirn. Sie liebte es, die schmalen Lippen und die breite Nase Annas anzusehen, und ihre sportlich schlanke Figur bei der Arbeit zu beobachten.

Neben ihr sah sie noch zwei andere Frauen, Frauen, die sie am Tatort gesehen hatte, und die sich ihr als „Gerlinde Henkel“ und „Nora Jepsen“ vorgestellt hatten. Beide waren mit Jeans und Bluse gekleidet, ungeschminkt und gepflegt, wie sie anerkennend feststellte.

„Na, zu dritt? Was soll dieser Überfall zu so später Stunde?“

Ihre Stimme klang fest, und doch schwang etwas in ihr, das ihre Unsicherheit verriet.

„Habt ihr schon eine neue Spur wegen dem Mörder“, fragte sie?

Anna sah sie an.

Sie konnte immer noch nicht glauben, das ihre Kollegin eine Mörderin ist, obwohl alles dagegen sprach!

„Annika“, begann sie, „Meine Freundinnen meinen, das du etwas weißt. Und sie meinen, das du dich nicht bewusst daran erinnern kannst, und deshalb wollen sie dich fragen, ob sie dich hypnotisieren können, um dein verstecktes Wissen hervorzuholen!“

„Aber was soll ich denn wissen“ sagte Annika?“

„Du warst die erste am Tatort, wie mein Kollege mir erzählte“, begann Anna, und sah Annika durchdringend an, in der Hoffnung, eine Regung von Schuld zu finden. Doch alles, was sie sah, war ein höfliches Desinteresse an dem, was sie sagte.

„Na, wenn’s der Wahrheit dient, bitteschön! Ich bin bereit!“

Annika legte sich auf die Couch

„Na, wer von euch ist den Doktor Freud?“

Sie kicherte.

„Niemand von uns“, erwiderte Nora, und setzte sich auf den Boden, direkt neben ihr. Sie holte eine Kerze aus ihrer Jackentasche hervor, steckte sie in einen mitgebrachten weißen Gipsständer, und zündete die Kerze an.

„Blick auf die Kerze Annika“, erklang monoton ihre Stimme. „ Blicke in die Flamme, wie sie brennt. Deine Augen werden schwer, dein Körper wird schwer. Du wirst müder und müder.

Deine Augen schließen sich, dein Körper wird müder und müder, schwerer und schwerer, und

nun schläfst du!“

Sie wiederholte diese Sätze immer und immer wieder, und Annikas Körper erschlaffte.

„Annika. Hörst du meine Stimme“, erklang die monotone Stimme Noras?

„Ja, ich höre dich“, erwiderte Annika fast ebenso monoton.

„Wie werden jetzt ein wenig in deine Vergangenheit zurückgehen. Du wirst alles hören, und dich an alles erinnern, was du sagst, wenn du aufgewacht bist.“

„Ja“, erwiderte Annika

Nora setzte sich gerade hin, hob die Hände gen Himmel und sagte: „Ich, Nora Jepsen, Tochter der Göttin, und ihr unter dem Namen „Aradia“ bekannt, rufe die Geistführerinnen, um deine Tochter Annika in die Zeit zurückzuführen.“ Sie wandte sich nach Norden. „Komm Göttin, in deinem Aspekt als Hüterin der Geschichte“. Sie drehte sich nach Osten. „Komm Bewusstsein der Geburt, komm, und enthülle die Bilder in ihrem Geist“. Sie drehte sich nach Süden. „Komm Göttin des Wissens und der Weisheit. Erschrecke uns nicht, sondern helfe uns, die Wahrheit zu finden, wo immer sie zu finden ist“. Sie drehte sich zum Westen. „Und

hilf uns, dieser Seele zu helfen, Heilung für ihre Seele und ihren Schmerz zu finden“.

Sie blickte Annika an.

Der Segen der Göttin lag auf ihnen, das spürte sie.

Der Raum, erfüllt von kosmischer Energie, schien zu erstrahlen, als Nora zu reden begann: „Annika, wir beginnen mit dem Jahr 2003. Du bist 32 Jahre alt, und voller Energie in deinem Beruf. Deine Kolleginnen mögen dich, und dein Vorgesetzter hält große Stücke auf dich....“

So gingen sie Jahr zurück!

Und wieder ein Jahr!

Und noch ein Jahr!

Je weiter sie in Annikas Leben zurückgingen, desto unruhiger wurde Annika. Schweiß rann in Strömen ihr Gesicht herunter, und benetzte ihren schlanken, durchtrainierten Körper. Nora spürte, das sie dem Ziel näher kamen. Sie deutete Anna an, das diese ihr Diktiergerät herausholen, und anstellen sollte, damit Annika später mit eigenen Worten hören konnte, was sie verdrängte.

„Wir gehen jetzt in das Jahr 1980. Die Sowjetunion marschierte in Afghanistan ein, und an was erinnerst du dich?“

Annika wurde unruhig. Ihr Kopf drehte sich hin und her, so, als ob sie etwas aus ihrem Gedächtnis abschütteln wollte, etwas, an was sie sich nicht mehr erinnern wollte. Der Schweiß rann an ihr herunter, wie das Wasser des Niagara- Falls.

„An meinen Vater! Wie er in der Badewanne liegt und sich wäscht. Und sein erstauntes Gesicht, als ich den Fön ins Wasser werfe, und er wie ein Schwein beim abstechen zittert“. Sie lachte hysterisch. „Und wie er versuchte, aus der Wanne zu kommen. Einfach köstlich!“

„Wir müssen noch weiter zurückgehen“, sagte Gerlinde leise. „Ich hatte etwas sehr Schlimmes gespürt. Und den Dämon dürfen wir auch nicht außer Acht lassen!“

„Ich weiß“, sagte Nora, und blickte Annika ins Gesicht.

Sie machte sich Sorgen, ob sie das alles überstehen würde, und ob nicht das hervorrufen des Dämons, der sie zu diesen Taten trieb, sie töten könnte?

Sie hatte so etwas schon einmal erlebt, als ihre Mutter einer Freundin half; deren Tochter nicht nur von ihrer Krankheit, sondern auch von dem Dämon zu heilen, der auch noch in ihr wohnte, so wie es bei Annika der Fall war! Denn dort tötete der Dämon die Tochter, kurz, nachdem er sichtbar wurde!

Und beide Fälle ähnelten sich zu sehr, als das sie dieses Gefühl ignorieren konnte.

Auch die Tochter der Freundin ihrer Mutter, wurde vom Stiefvater über Jahre missbraucht! Auch sie hatte multiple Persönlichkeiten! Und auch sie hatte einen Dämon in sich, einen Dämon, der sich als eines ihrer vielen Persönlichkeiten tarnte.

Sie ging ein Jahr mit Annika zurück.

Annika wurde unruhig. Sie drehte ihren Kopf und ihren Körper immer wieder hin und her, her und hin, sie schwitzte so sehr, das Anna ihr Taschentuch nahm, um ihren Schweiß damit abzuwischen, was Nora aber unterband. Denn sie wusste, das nichts jetzt die Verbindung zwischen ihr und Annika stören durfte.

„Annika“, sagte sie monoton. „Was hat dein Vater mit dir gemacht?“

„Nein“, ertönte plötzlich Annikas Stimme so laut, das sie sich erschreckte. „Bitte, nein Papa! Tu das nicht! Ich will das nicht! Hörst du. Ich will das nicht mehr!“

„Was willst du nicht mehr“, fragte Nora monoton. Sie wusste, das sie diese Stimme so sprechen musste, obwohl alles in ihr aufgewühlt war, weil sie mit Annika und ihrem seit langem verdrängtem Schmerz mitlitt.

„Das er mich da unten berührt“. Sie deutete im Bereich der Scham. „Das er mit mir schläft“, und Mama so weh tut“, Ihre Stimme, bis eben noch die einer Erwachsenen, veränderte sich zu der eines kleinen, verängstigten Kindes. Sie weinte.

„Lass es raus, meine Tochter! Lass es raus! Es hilft dir“.

Annika weinte. Wie lange? Niemand wusste es! Niemand sah auf die Uhr, aber es musste sehr lange gewesen sein!

„Und dann? Hast du ihn dafür gehasst, was er dir angetan hat?“

„Ja“, erwiderte Annika. „Jedes Mal, wenn er zu mir kam, und mich vergewaltigte! Jedes Mal, wenn er Mama dazu zwang, mitanzusehen, was er mir und ihr antat! Jedes Mal, wenn er Mama und mich schlug, weil wir nicht das taten, was er wollte!“

„Und den Mann, den du im Wald mit einem Bogen getötet hattest? Hast du den auch gehasst?“

„Er war wie Papa“, erwiderte sie mit kindlicher Stimme. „Monika hat mir das gesagt! Und Sie hat auch gesagt, das ich ihn wie Papa töten sollte, weil er wie Papa wäre!“

„Gute Göttin“, entfuhr es Anna. „Dann ist sie ja wirklich verrückt!“

„Nein Anna“, erwiderte Nora. „Es ist der Dämon, der sie zu dieser Tat getrieben hat. Sie war nicht schuldfähig! Und verrückt schon gar nicht! Höchstens an ihrer Seele durch die sexualisierte Gewalt krank geworden!“

Sie drehte sich erneut zu Annika, deren Körper schlaff auf der Couch lag.

„Wer hat das gesagt“, fragte sie plötzlich und unerwartet?

„Monika“

„Wer sagte das noch einmal?“

„Monika“.

„Also, wer war das noch einmal?“

„Monika, aber das habe ich doch schon gesagt!“

Ein Zittern ging durch Annikas sportlichen Körper, und sie bäumte sich wie ein wildes Pferd auf. Rauch trat aus ihrem Mund, und eine schemenhafte Gestalt mit leuchtend roten Augen erschien. Annika blieb wie reglos schlafend liegen.

Annika nannte dreimal den Namen des Dämons, den sie kannte, und so musste er ihren Körper verlassen, wie das eherne Gesetz besagte, dem alle Dämonen unterworfen waren.

„Das hast du ja klug angefangen, Hexe“, erwiderte die Gestalt. „Aber meinst du, du könntest mich, Hanim, den Herrscher der Unterwelt und des Todes vertreiben?“

„Aber sicher meinen wir das, mein Süßer“, spöttelte Anna. „Eines unserer leichtesten Übungen!“

„Und so was wie dich verspeisen wir als Appetithappen zwischendurch, so als kleinen Snack, wenn du verstehst, was ich meine!“

Gerlindes ironische Art machte ihn wütend, etwas, was sie auch erreichen wollte! Sie wusste nur zu gut, das sie nur eine Chance gegen den Dämon hatten, wenn er unüberlegt handelte, er einen Fehler machte.

Dämonen waren mächtig!

Sie konnten jede Gestalt annehmen, und die Menschen so täuschen.

Sie hatten auch Annika getäuscht, in dem sie ihr vormachten, das eine Frau ihr die Befehle gab. Dabei hatten Dämonen kein Geschlecht, so wie Menschen das kennen! Sie sind Wesen des Bösen, ohne Geschlecht und Form, nur aus Äther bestehend, das sich jeder Form anpassen konnte.

Und sie hatten alle noch nicht richtig gelernt, mit ihrer neuen Aufgabe und ihren von der

Göttin geschenkten Fähigkeiten richtig Gebrauch zu machen. Und, das fiel ihr auch noch ein, sie hatten nicht das Buch der Schatten bei sich. Das Buch, in dem ihre Vorgängerinnen magische Rezepte und Anrufungen hineingeschrieben hatten, die ihnen bei ihrer Arbeit mit anderen Frauen, und ihrem Kampf gegen Dämonen geholfen hatten.

Was für eine Närrin war ich doch, schalt sie sich, das ich nicht an das Buch der Schatten gedacht habe! Aber mir passiert sehr selten ein Fehler zweimal! Und wenn wir das hier überleben, werde ich das Buch der Schatten an mich binden, so fest, das ich es nie wieder vergessen werde!

Die Augen des Dämons wurden röter. Wütend blickte er sie an, und sagte: „Sie gehört mir, und wenn ich genug Menschen mit ihr getötet habe, dann könnt ihr sie haben, und ich suche mir jemand anderes, mit dem ich das gleiche fortführen werde!“

Lächelnd blickte er Gerlinde an.

„Vielleicht dann mit dir? Bei deiner Vergangenheit bestimmt nur eine Weiterführung!“

Er sah zu Anna.

„Oder mit dir? Du hast so viel Gewaltpotential in dir, das es eine wahre Verschwendung wäre, sie nicht zu nutzen!“

Sein Blick wanderte zu Nora, die immer noch neben Annika saß, und ihn ansah, als würde sie sich an etwas erinnern.

„Oder in dich? Wir kennen uns doch schon, nicht war? Ich habe dir schon einmal die Tour vermasselt, warum nicht ein zweites Mal?“

Ja, jetzt erinnerte sich Nora wieder!

Es war der selbe Dämon, die damals die Tochter der Freundin ihrer Mutter getötet hatte!

Plötzliche Wut stieg in ihr hoch, eine Wut, durch Hass geboren, die ihn töten wollte. Gerlinde sah, wie sich die Hände verkrampften, bereit, hervorzustoßen und schrie: „Nein, nicht Nora! Du spielst ihm dadurch nur in die Hände!“ Ihre Stimme wurde ruhiger, entspannter, und sie sagte zu Nora: „ Wenn du wütend wirst, fängt er an, Macht über dich zu bekommen, das, was er will!“

Sie wusste nicht, woher sie das wusste, den der Umgang mit Dämonen war bisher nicht alltäglich für sie, obgleich sie schon etwas Erfahrung mit ihnen hatte. Ein Gefühl, tief aus dem Innersten ihrer Seele kommend, sagte ihr jedoch, das es stimmte!

Nora entspannte sich, ihr Atem, eben noch schnell und stoßend, wurde ruhiger und entspannter.

Hanim lachte.

„Du hast mich durchschaut, Hexe! Aber haben die anderen auch dich durchschaut? Wissen sie, wer du wirklich bist?“

„Sie wissen, wer ich bin, und nur das zählt“, erwiderte Gerlinde ruhig. „Und sie wissen, das wir drei dich gleich vernichten werden!“

„Und wie wollt ihr drei Anfängerinnen das machen“, sagte Hanim, und lächelte spöttisch. „Ihr habt nicht die Macht dazu!“

„Doch, du kleiner Stinker“, erwiderte Nora, und erhob sich, „die haben wir!“

Ihr fiel plötzlich etwas ein, das ihre Mutter ihr einmal gesagt hatte, nämlich, das ein gereimter Spruch sehr machtvoll ist.

Sie deutete den beiden anderen Frauen, sich in einen Kreis zu stellen. „Sprecht mir nach“, sagte sie zu den andern Frauen, die ihr sofort folgten.

Die Wahrheit siegt,

der Dämon flieht,

der Dämon fort von diesem Menschen und diesem Ort,

und bleibt von diesem Ort für immer fort!

Sie wiederholten diesen Zauberspruch immer und immer wieder, ihre Stimmen wurden schneller und schneller. Und je schneller der Spruch gesprochen wurde, desto unsichtbarer wurde der Dämon, bis er ganz verschwand.

„Wir werden uns wiedersehen, das verspreche ich euch“, hörten sie die Stimme des Dämons aus der Unterwelt.

„Ich glaube auch, das ein letztes Wort noch nicht gesprochen ist“, meinte Anna, und Gerlinde nickte wortlos.

„Göttin, bin ich froh, das wir diesen Dämon erst einmal los sind! Gut, das mir noch rechtzeitig das eingefallen war, was meine Mutter mir über Zaubersprüche beigebracht hatte! Wir wären alle echt aufgeschmissen gewesen!“

Anna und Gerlinde kamen auf sie zu, und umarmten sie.

Es tat ihr so gut, die Wärme und Zuneigung der beiden Frauen zu spüren!

Anna blickte auf Annika.

„Und was machen wir jetzt mit ihr? Schließlich hat sie einen Menschen getötet! Und sie muss eingesperrt werden, sonst ist sie eine Gefahr für alle!“

„Sag mal, hast du eben nicht zugehört“, sagte Gerlinde! „Sie hat keine Schuld an dem Mord! Das war der Dämon, der sich in ihrem Geist festgesetzt hat, und sie dazu trieb. Nun ist der Arsch weg, und sie muss sich jetzt nur auf den Missbrauch ihres Vaters konzentrieren, um den zu verarbeiten. Und sie muss begreifen, das sie zwar den Typ im Park getötet hatte, aber keine Schuld daran trägt!“

„Gerlinde hat recht, Anna! Annika braucht eine Therapie viel mehr, als ein „wegsperren“. Meinst du, das würde ihr helfen, wenn sie im Knast oder in der Klapse wäre? Du weißt doch, wie es da zugeht! Da gibt es nur Pillen und Ruhigstellen, nicht wirkliche Hilfe. Eine Freundin von mir, ebenfalls eine Wicca, leitet eine Station für psychisch Kranke in einer Klinik. Sie hat viel Erfahrung mit Missbrauchsopfern, und ich bin sicher, sie würde Annika aufnehmen!“

„Und was ist mit der Gerechtigkeit? Immerhin starb durch sie ein Mensch“, Anna war wütend. Alles, was sie bisher glaubte, sah sie in Frage gestellt? Sie war Polizistin geworden, weil sie an Gerechtigkeit glaubte! Das Menschen, für das, was sie getan hatten, auch zur Verantwortung gezogen werden müssten!

Und nun sollte sie jemanden laufen lassen?

Jemand nur in Therapie schicken, statt für eine lange Zeit wegzuschließen, und die Gefahr für die Gesellschaft zu verringern! Eine Mörderin! Alles in ihr sträubte sich dagegen!

„Gerechtigkeit, liebe Anna“, sagte Nora, „ist nie nur für eine Seite bestimmt. Auch für Annika, die so lange leiden musste, und die wieder einmal, diesmal von einem Dämon, benutzt wurde, um Menschen zu töten. Was meinst du, wäre Gerechtigkeit für sie? Lebenslänglich eingesperrt und wenn überhaupt, dann von unqualifizierten Therapeuten behandelt zu werden? Die weder Ahnung noch Interesse an Missbrauchsopfern haben? Oder lieber doch eine qualifizierte Hilfe für sie, so das sie gesund wird? Ins Gefängnis kann sie ja noch immer kommen, Anna! Nur steht die Hilfe für sie zumindest für mich an erster Stelle!“

„Anna, sie hat recht“, sagte Gerlinde. „Stell dir einmal vor, was Annika im Knast alles als Polizistin erleben müsste! Wie sie von Mitgefangenen und Wärtern behandelt wird! Das ist schon für eine gesunde Frau schwer, aber für eine Frau, die das Opfer von Gewalt wurde, und nur deshalb von diesem Fiesling von Dämon benutzt werden konnte, die reinste Hölle! Ich finde, das sie zuerst eine Behandlung braucht, und dann kann immer noch darüber nachgedacht werden, ob sie in den Knast kommt. Aber dann wäre zumindest ihr zustand stabil genug, Anna!“

„Okay“, sagte Anna, dann machen wir es so!“

Anna blickte auf Annika, die in einem tiefen Schlaf gefallen zu sein schien.

Sie lag so friedlich da, so unschuldig! Und doch hatte sie einen Menschen getötet! Einen Menschen, der ihr nichts getan hatte, nur, weil ein Dämon ihr befahl, Männer zu töten!

Warum?

Warum Männer?

Warum nicht ein Mann, der Frauen tötete? So, wie es doch tagtäglich überall in der Welt

geschieht!

Ob da System dahintersteckt?

Nora setzte sich wieder hin.

„Annika, hörst du mich?“

Annikas Körper bewegte sich, unruhig, wie nach einem Alptraum.

„Hörst du mich, Annika“, fragte Nora noch einmal?

„Ja, ich höre dich“, erwiderte sie genauso tonlos wie Nora.

„Das ist gut! Ich werde jetzt langsam von Zehn bis Eins zurückzählen. Und wenn ich bei Eins angekommen bin, klatsche ich ganz laut in meine Hände, und du wirst aufwachen, und dich erinnern, über was wir gesprochen haben. Also, ich fange an. Zehn... Neun... Acht.. Sieben... Annikas Atem wurde kräftiger und gleichmäßiger. Ihr Puls, den Nora fühlte, war kräftig und gleichmäßig. Es wird keine körperlichen Rückstände für Annika geben, das wusste sie. Aber wie wird es mit ihrer Seele sein?

„Sechs... Fünf... Vier. Drei“, Nora zählte in gleichmäßigen Abständen, und beobachtete Annika, deren Körper sich sichtlich entspannte. „Zwei... Eins“. Sie klatschte ihr Hände so laut zusammen, das Gerlinde zusammenzuckte.

Annika erwachte.

„Was ist mit mir? Hab ich so lange geschlafen? Oh Mann, habe ich dann aber schlecht geträumt!“

„Was hast du geträumt“, fragte Anna, die ihre Neugier kaum zähmen konnte.

„Lauter zusammenhangloses Zeug! Das mein Vater mich jahrelang missbraucht hatte, das ich ihn umgebracht hatte. Und dann war da noch ein Mann, den ich mit einem Pfeil getötet haben sollte, und das war unser Parkopfer. Ach ja, und dann war da noch ein Wesen in mir, das mir das gesagt haben sollte!“ Sie lachte kurz auf. „Also, absoluter Quatsch, Leute!“

Anna und Nora sahen sich an.

Sie hatte alles mitbekommen, aber sie konnte es noch nicht wahrhaben, nicht glauben! Es würde schwerer als erwartet sein, sie damit zu konfrontieren, überlegte Nora. Wenn ich doch nur den Schlüssel zu ihrem Unterbewusstsein hätte, so das sie sich selbst daran erinnern könnte, was sie getan hatte?

„Annika, wir haben dich in deine Kindheit durch Hypnose zurückgeführt. Und da sagtest du, das dein Vater dich und deine Mutter oft missbraucht hatte, und das du den Mann im Park getötet hast. Es war kein Traum von dir, es war deine Erinnerung! Wenn du willst, kannst du dir alles auf Band anhören?“

Annika nickte.

Anna gab ihr das Diktiergerät, nachdem sie das Band zurückgespult hatte.

„Möchtest du, das wir bei dir bleiben, oder sollen wir nebenan in die Küche gehen“, fragte Nora, und berührte sanft ihre Schulter?

„Anna soll bitte bei mir sein“, sagte sie.

„Okay, dann gehen wir zwei Hübschen schon mal in die Küche“, sagte Gerlinde, und sie und Nora gingen, und schlossen langsam die Türe.

Anna, die sich neben Annika auf die Couch setzte, sagte: „ Willst du es wirklich anhören, Annika?“

„Ja, ich will die Wahrheit wissen! Hab ich wirklich einen Menschen auf dem Gewissen?“

„Nun, eigentlich zwei, wenn du deinen Vater mitrechnest, aber das war wohl eher die Konsequenz seiner Taten, die er gesät hatte. Für mich ist das auch okay! Das andere mit dem Mann im Park nicht! Aber vielleicht verstehst du, wenn du das Band gehört hast, das du ihn zwar getötet hattest, aber nichts dafür konntest!“

„Aber wenn ich ihn getötet habe, dann ist es doch meine Schuld, oder?“

„Normalerweise schon, aber dieser Fall liegt etwas anders! Annika, wir drei Frauen sind

Hexen. Hexen, die Frauen helfen!“

Annika blickte sie an. Sprachlos, an ihrem Verstand zweifelnd.

„Doch Annika! Ich bin weder meschugge noch reif für die Klapse! Ich bin eine Hexe, und Nora und Gerlinde ebenfalls! Und Gerlinde war die jenige, die uns auf dich aufmerksam machte, den sie kann in die Vergangenheit und in die Zukunft sehen. Und sie sah, was mit dir los war!“

Annika drückte den Knopf, und wenige Augenblicke später, hörte sie Noras und ihre Stimme, und die verdrängte Erinnerung kehrte zurück, Stück für Stück. Eine Erinnerung, die sie tief in dem Innersten ihrer Seele vergraben hatte, und ihr immer noch schmerzte!

Sie hörte auch, wie sie die Ermordung des Mannes im Park gestand, und wer sie dazu getrieben hatte.

Sie konnte es immer noch nicht glauben, was sie da mit ihrer eigenen Stimme sich sagen hörte!

Sie weinte, und Anna gab ihr ein Taschentuch, womit sie ihre Tränen abwischen konnte.

Dann hörte sie eine dritte Stimme, die Stimme des Dämons.

„ Das ist Hanim, der Dämon, der in dir Platz nahm, zwischen all deinen anderen multiplen Persönlichkeiten, und brachte dich dazu, den Mann zu töten!“ Sie legte den Arm um Annikas Schulter. „Siehst du, obwohl du ihn getötet hast, warst du nicht schuld! Es war die Person, die du als „Monika“ kanntest, und von der du glaubtest, das sie eine deiner vielen Multiplen wäre“.

„Was ist mit ihm? Ist er...?“

„Nein, Annika! Leider nicht! Ich bin sicher, wir werden ihn wiedersehen, aber dich wird er in Ruhe lassen, und das für immer! Dafür haben wir gesorgt!“

Dann hatte Annika genug, und drückte den „Stopp- Knopf“.

„Wenn du mir vor wenigen Monaten gesagt hättest, das ein Dämon in mir ist, ich hätte an deinen Verstand gezweifelt. Und wenn du gesagt hättest, das du eine Hexe bist, hätte ich dir eine Jacke ohne Ärmel geschenkt!“

Sie grinste verlegen.

„Was wollt ihr jetzt mit mir tun?“

 „Das haben wir schon besprochen, aber wir wollten erst mit dir darüber reden. Wir wollen nichts tun, was du nicht auch willst!“

„Aber ich habe jemanden getötet, Anna! Ich glaube an Gerechtigkeit, und deshalb muss ich ins Gefängnis, um für meine Tat zu büßen!“

„Hab ich was anderes gesagt? Nora meint, das du zuerst eine gute therapeutische Hilfe brauchen würdest, und das erst dann, wenn du soweit stabil bist, vielleicht auch vor Gericht und ins Gefängnis kommen könntest!“

Das wollt ihr wirklich tun?“

„Ja, weil wir so nett sind“, erwiderte Anna, und lächelte Annika an.

Sie mochte Annika!

Annika war eine Frau mit guten Instinkten und einem starken Sinn für Gerechtigkeit! Sie hätte es bei der Polizei weit bringen können, wenn ihr Vater nicht begonnen hätte, ihr und ihrer Mutter Gewalt anzutun!

Sie umarmte Annika, und sagte: „Na, ich denke, jetzt holen wir erst einmal die anderen Frauen herein. Oder was meinst du?“

Annika nickte, und einen Augenblick später waren alle wieder im Wohnzimmer versammelt. Gerlinde hatte einen Köcher mit fünf Pfeilen und einem langen Bogen auf ihrem Schoß. Sie hatte alles im Vorratsschrank in der Küche gefunden, als sie zufällig auf der Suche nach etwas Essbaren war, das wenig Kalorien hatte, aber doch satt machte. Die Sachen waren hinter einem großen Kartoffelsack versteckt, und wären Gerlinde nicht aufgefallen, wenn nicht ein wenig von dem Köcher hervorgelugt hätte, über das sie fast gestolpert wäre.

Schweigend saßen alle da, konnten kein Wort sagen!

Dann sagte Nora: „Wir sollten das Ritual noch beenden, und der Göttin der Weisheit und des Wissens danken, das sie uns allen geholfen hatte, Annika helfen zu können, sich der Wahrheit

ihres Lebens zu stellen!“

„Ja“, sagte Anna. „Danken wir der Göttin!“

 

 

Eine halbe Stunde später.

„So, was machen wir jetzt“, fragte Nora?

Annika antwortete: „ Anna hat mir von eurem Vorschlag erzählt, das ich zuerst eine Therapie machen soll. Ich bin unter einer Bedingung damit einverstanden. Wenn die Therapeutin sagt, das ich stabil genug bin, möchte ich mich selbst anzeigen dürfen, und ins Gefängnis gehen!!

„Wenn du das willst, okay!“

Gut, dann ruf bitte deine Freundin an, um einen Platz für sie zu bekommen“, sagte Anna zu Nora, die schon den Hörer griff, und bei ihrer Freundin anrief..

Sie redeten nur kurz.

Nora erzählte ihrer Freundin, Barbara, kurz um was es ging, und Barbara erklärte sich sofort bereit, sie zu helfen. Annika solle bitte einige Sachen einpacken, und sofort in die Klinik kommen, meinte Barbara. Sie würde derweil schon die Krankmeldung für Annikas Dienststelle vorbereiten, so das sie ihr Gehalt erhalten würde.

„Ich regele das schon mit dem ollen Zausel“, sagte Anna, und lächelte Annika an.

Danke, ihr drei!“

„Dafür sind wir ja da“, erwiderte Nora, und umarmte sie.

„Was machen wir mit dem Amazonengerät“, fragte Gerlinde, und deutete auf den Bogen mit den Pfeilen?

„Am besten, wir lassen es hier, und wenn Annika zur Polizei geht um sich anzuzeigen, und sie alles mitnimmt, verschafft es ihr auf jeden Fall bessere Karten!“

Gerlinde legte die Sachen zurück in den Speiseschrank, und kam zurück. „Okay, dann lass uns Annika beim packen helfen!“

Zehn Minuten später, alles was Annika brauchte, war in zwei Sporttaschen verstaut, verließen alle ihre Wohnung, und stiegen die Treppe hinunter. Anna öffnete die Haustür, und der milde Duft einer schönen windarmen Nacht umhüllte sie.

Nach wenigen Schritten standen sie vor Gerlindes Wagen.

Gerlinde öffnete den Kofferraum ihres Wagens, und verstaute Annikas Taschen. Annika und Anna nahmen im hinteren Teil des Wagens Platz, und Nora wollte sich auf den Beifahrersitz setzen, als sie sich umsah, und jemand sah, den sie lange nicht mehr gesehen hatte.

Nick, ihren Ex- Dauerverlobten!

Nick, der sie geschlagen hatte, den sie nur durch die neue Kraft, Dinge bewegen zu können, die ihr die Göttin schenkte, besiegen konnte!

Er stand an der gegenüberliegenden Hausseite, und blickte zu ihr rüber. Sie sah den Hass in seinen Augen, einen Hass, den sie vorher noch nie bei ihm bemerkt hatte!

Was wollte er hier, fragte sie sich?

 „Wir müssen los, Nora“.

Die Stimme Gerlindes riss sie aus ihren Gedanken. Sie stieg ein, schnallte sich, nachdem Gerlindes voluminöser Körper auf dem Fahrerinnensitz saß, und sich angeschnallt hatte, ebenfalls an, und sie fuhren los.

Noras Blick wanderte zu Nick, der immer noch stand, und ihr hasserfüllt nachblickte.

Der Wagen fuhr um die Ecke. Nick lächelte. Seine Augen wurden rot wie Blut, und leuchteten.

„Du wirst noch vor mir knien, und um Vergebung bitten, Baby! Und du wirst bald kein Teil der Macht der drei Hexen mehr sein! Dafür werden wir schon sorgen!“

Sein Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen, als er sagte: „ Und wenn nicht, dann werden

wir euch alle töten!“

Ein leeres Taxi fuhr die Straße entlang. Er winkte es zu sich, und fuhr fort.

 

 

Sie saßen alle in der Küche von Noras Wohnung. Die Tassen voll duftendem Kaffee vor ihnen, und auf dem Tisch ein Teller mit selbstgebackenem Gebäck.

Gerlinde, die gerade von der Toilette zurückgekehrt war, sagte: „ Na, ich hoffe, das Annika das Richtige tut, wenn sie sich später selbst anzeigt. Ihr wisst ja alle, das oft Frauen in diesem Land für die gleiche Straftat viel härter bestraft wird. Ich hoffe nur, das ihre Selbstanzeige ihr ne Menge Pluspunkte bringt!“

„ Warum soll es nicht das Richtige sein“, warf Anna ein? „Sie will Verantwortung für ihr Leben übernehmen! Etwas, was ihr bis zu diesem Zeitpunkt unmöglich war!“

„Aber ist das wirklich alles so einfach“, warf Nora ein? „Muss nicht auch berücksichtigt werden, das es nicht ihr eigener, freier Wille war, sondern das Werk von Hanim, der sie dazu trieb?“

„Ja, aber er konnte das alles nur tun, weil sie innerlich dazu bereit war! Sie hatte ihren Vater getötet, hasste Männer, die sie alle als Vergewaltiger betrachtete, und so hatte Hanim leichtes Spiel, sie zu benutzen.“

Sie blickte Gerlinde an. Sie erinnerte sich, was der Dämon zu Gerlinde gesagt hatte. „...Bei deiner Vergangenheit bestimmt nur eine Weiterführung...“

Was meinte er damit?

Was für eine Vergangenheit hatte sie, die so schlimm war, das sie nichts darüber mit uns sprechen wollte?

Dieser Gedanke ließ ihr keine Ruhe!

Schon als sie sich kennen lernten, hatte sie das Gefühl, das etwas mit Gerlinde nicht stimmte, obwohl sie von außen ganz normal wirkte. Aber etwas war anders bei ihr! Etwas passte nicht so richtig! Etwas, was sie nicht benennen konnte, aber fühlte!

Durchdringend blickte sie Gerlinde an, die ihrem Blick auswich.

„Sag mal, was meinte eigentlich der Dämon, damit, als er deine Vergangenheit ansprach? Warst du mal im Knast oder in der Klapse?“

Gerlinde blickte zu Boden.

Das hatte sie befürchtet, obwohl sie sich vorgenommen hatte, den beiden Frauen die ganze Wahrheit über sich zu sagen. Sie setzte sich aufrecht, so das ihr Rücken schmerzte, und sagte: „Du hast Recht, da gibt es etwas, was ich euch schon längst hätte sagen sollen. Ich habe mich nur nicht getraut, weil ich panische Angst hatte, wie ihr vielleicht reagieren würdet. Nein Anna, ich war weder in der Klapse noch im Knast, wie du es nanntest, obwohl ich viele Jahre in ärztlicher und psychologischer Behandlung war.“

Sie stand auf, und ging zum Fenster der Küche, denn sie wusste, das sie die Blicke der anderen Frauen nicht ertragen konnte, wenn sie ihre Beichte beendet hatte. Sie griff mit ihrer rechten Hand nach dem linken Ringfinger, an dem ein kleiner goldener Ring mit einem  Türkis steckte, ein Geschenk einer ehemaligen Geliebten, den sie nervös drehte.

„Na sag schon, was mit dir war“, forderte Anna. „Sonst sterbe ich noch an Herzversagen!“

Gerlinde lächelte ein wenig, der Anflug eines Lächelns, der zeigte, wie sehr sie Annas direkten Humor liebte.

„Na, das will ich nun wieder auch nicht“, sagte sie, und blickte weiter aus dem Fenster, während sie sprach: „ Ich war früher einmal, vor so vielen Jahren, das es schon fast Geschichte ist, transsexuell gewesen.“

Wäre eine Stecknadel in diesem Moment zur Erde gefallen, hätte es ein donnerndes Geräusch gegeben!

Die Küche war still. Niemand sprach vor lauter Überraschung ein Wort. Gerlinde, weil sie die

Reaktion der anderen Frauen abwartete, Nora, weil sie nicht wusste, was sie sagen sollte; und Anna, weil sie sprachlos war.

Dann, nach einer Zeit, die Gerlinde wie eine Ewigkeit vorkam, blickte Anna sie an, und fragte: „Heißt das, das du einmal als Mann geboren wurdest?“

„Nur, was den Körper angeht“, entgegnete Gerlinde. „Nur, was den Körper angeht, Anna! Was mein Sein und meine Seele angeht, so fühlte ich mich immer als Frau!“

Anna stand auf, und ging zur Toilette, wo Nora und Gerlinde sie brechen hörten. Gerlinde blickte Nora an, die ihrerseits wiederum zu Gerlinde blickte, in der Hoffnung, die richtigen Worte zu finden, um sie aufzumuntern.

Aber was sollte sie sagen?

So eine Situation hatte sie vorher noch nie erlebt?

Alle Frauen, mit denen ich zusammenarbeitete, waren als Frauen geboren worden. Manche Lesben wie Anna eine ist, und manche wie ich, die Männer lieben. Aber keine Frau war wie Gerlinde!

Sie spürte, wie sie begann, auf Gerlinde wütend zu werden.

Verdammt, warum musste sie das auch sagen?

Hätte sie nicht ihre Klappe halten können?

Aber nein, alle Welt muss ja wissen, das sie mal ein Mann war! Damit sie im Mittelpunkt steht, oder warum hat sie das sonst gesagt?

Ihr Zorn auf Gerlinde wuchs mehr und mehr, ein Zorn, den diese spürte.

„Wenn ihr wollt, gehe ich. Denn Zorn und Mitleid, Verachtung und Hass, habe ich genug in meinem langen Leben ertragen müssen! Und ich will nicht mehr!!“

Sie nahm ihre Tasche, die sie sich über ihre rechte Schulterseite überhängte, und wollte gehen.

„Wo willst du hin“, kam es wütend aus Nora heraus? „Zuerst uns beide schocken, und uns dann damit stehen lassen! Ne, nicht mit mir! Wir warten jetzt erst einmal, bis Anna von der Toilette runter ist, und dann reden wir!“

Nora setzte sich, und deutete Gerlinde, das sie das Selbe tun sollte.

„Was für einen Zweck sollte es haben, zu reden? Ihr habt doch euer Urteil schon längst gesprochen, so wie ihr euch verhalten habt!“

„Na hör mal, wir erfahren eben so ganz nebenbei, das du mal ein Mann warst, das du quasi eine Art „Mogelpackung“ bist, das du nicht als Frau geboren wurdest!“

Und trotzdem hatte die Göttin sie als ein Teil unseres Teams bestimmt!

Verdammt, überlegte Nora, warum nur? Sie wusste doch alles über sie! Hätte sie uns denn nicht darauf vorbereiten können, so das wir uns daran gewöhnen könnten? Aber nein, wir kriegen von ihr gleich durch Gerlinde ein technisches KO verpasst!

Sie hörten das Rauschen der Toilettenspülung, und, wie sich die Tür öffnete. Anna stand vor ihnen mit versteinertem Gesicht, die Hände eng in den Hosentaschen ihrer Jeans anliegend, und blickte Gerlinde mit so einer Eiseskälte an, das selbst ein Eskimo ins schwitzen gekommen wäre!

„Ich glaube, es ist besser, das du gehst“, sagte sie monoton, ihre Beherrschung mühsam kontrollierend.

„Das wollte ich auch“, erwiderte Gerlinde, „aber Nora wollte unbedingt, das wir miteinander reden!“

„Aber ich nicht mit dir! Geh bitte!“

Wortlos stand Gerlinde auf, grüßte ebenfalls wortlos ihre Mithexen, und schloss leise hinter sich die Tür.

Sie weinte.

Also, genau wie überall, dachte sie! Zuerst werde ich akzeptiert, und dann, wenn ich es ihnen sage, diese Wahrheit über mich, von der ich wünschte, nie betroffen zu sein, werde ich ausgegrenzt und abgeschoben!

Und ich hatte gehofft, das, weil die Göttin mich erwählte, es diesmal anders wäre. Wir waren heute wie eingespielte Team! Eine jede von uns wusste, was zu tun war! Und jetzt ist es vorbei!

„Es ist erst vorbei, meine Tochter, wenn es tatsächlich vorbei ist“, hörte sie die vertraute Stimme der Göttin sagen! „Lass ihnen noch etwas Zeit, mit sich die neue Situation auszumachen, sich daran zu gewöhnen. Übrigens habt ihr heute alle gut zusammen gearbeitet, und sowohl mir als auch euch gezeigt, das ihr das Zeug zu einem guten Team habt, wie ihr das nennt!“

Sie hatte recht!

Sie hatten das Zeug dazu! Jede hatte ihre Gaben und etwas bekommen, was sie nur gemeinsam nutzen konnten! Das „Buch der Schatten“, das sie heute so sehr gebraucht hätten! Die Geldbörse, die nie leer wird, und das Wohnmobil, für die Reisen außerhalb ihrer Stadt Berlin!

Sie trocknete ihre Tränen und ging mit der Hoffnung, das am nächsten Morgen die Welt schon anders aussehen würde.

„Das wird es, meine Tochter“, hörte sie leise die Stimme der Göttin in sich wiederhallen. „Das wird sie!“

 

 

„Das ist ja ein starkes Stück“, begann Anna zu schimpfen!

„Finde ich auch“, entgegnete Nora. „Warum hat sie uns das nicht gleich gesagt?“

Anna blickte Nora an.

Ihr Temperament, ihre Art, Dinge praktisch anzugehen, und ihr trockener Humor, gepaart mit ihrem Lächeln, verzauberte sie immer wieder aufs neue!

Lass dich bloß nicht auf ne Hete ein, ertönte eine warnende Stimme aus ihrem Kopf. Das bringt nur Ärger!

Aber ich mag sie doch nur! Ich will doch nichts von ihr.

Jaja, und der Papst ist evangelisch! Mach dir doch nicht selbst was vor, Schwester! Du fängst an, dich für Nora zu interessieren. Aber vergess nicht, das sie eine Hete ist, und ich dich gewarnt habe!

Ich werde schon dran denken, antwortete sie in ihren Gedanken ihrer unsichtbaren Freundin und Beraterin.

„Was ist“, fragte sie plötzlich Nora unvermittelt? „Wo warst du mit deinen Gedanken?“

„Wo anders, entschuldige bitte“, erwiderte Anna, und blickte zur Seite. Sie konnte sie nicht ansehen, aus Angst, das Nora etwas von ihren Gedanken mitbekommen könnte.

„Also, was machen wir jetzt“, fragte Nora?

„Was meinst du?“

„Na, bist du schwerhörig oder vergesslich? Ich meine natürlich mit Gerlinde. Um die geht es doch die ganze Zeit!“

Anna überlegte einen Moment, und dann fragte sie Nora: „Könntest du mit einer anderen Frau zusammen arbeiten, die dir nicht alles relevante über sich gesagt hat? Könntest du ihr vertrauen, so wie wir uns alle vertrauen müssen, um zusammen zu arbeiten? Könntest du ihr private Dinge anvertrauen, Dinge, die nur eine Frau verstehen kann, die auch als Frau geboren wurde, die so sozialisiert wurde?“

„Nein“, erwiderte Nora mit fester Stimme! „Aber eins frage ich mich die ganze Zeit?“

„Und was?

„Die Göttin beruft doch nur Frauen für diese Aufgabe. Priesterinnen der Göttin, Frauen, die durch ihr Leben gezeigt haben, das sie ihr dienen. Und sie hat Gerlinde in dieses Team berufen. Warum, frage ich mich?“

„Stimmt“, erwiderte Anna. „Warum beruft die Göttin eine Frau in ein Frauenteam, die früher mal ein Mann war? Das muss doch einen Grund haben!“

„Wenn wir den Grund nur wüssten“, sagte Nora. „Ich habe sie gemocht, sie passte ins Team! Und hätte sie nichts über ihre Vergangenheit gesagt, ich hätte es nicht erahnt!“

„Ich schon“, erwiderte Anna. „Ich spürte gleich zu Beginn, das etwas Merkwürdiges an ihr war. Ich konnte es nicht erklären, aber als sie sich uns gegenüber offenbarte, verstand ich es!“

Sie blickte Nora an. Ihre Handknöchel traten hervor, als sie sagte: „ Sie ist nicht so wie wir! Sie ist anders!“

 

 

Es war eine klare Nacht.

Eine Nacht voller Träume!

Träume, die den Träumenden neue Perspektiven lehrten, ihre Weisheit und ihr Wissen vergrößerten.

Es war die Nacht der Göttin!

Nora lag ruhig atmend in ihrem Bett. Ihr Atem floss gleichmäßig wie der stete Strom eins Flusses dahin. Sie schlief und träumte.

Sie träumte, das die Göttin sie in einen Mann verwandelt hatte, und sie als Mann ihr ganzes Leben sein sollte. Am Anfang gefiel es ihr sogar, war ein Experiment, ein Spaß, das ihr neue Möglichkeiten zu eröffnen schien.

Doch sie sehnte sich danach zurück, wieder eine Frau zu sein. Ihren Körper zu spüren. Die vertrauten Rundungen ihres Körpers, den sie so sehr liebte! Und sie begann, diesen männlichen Körper zu hassen, wollte wieder Frau sein!

„Siehst du meine Tochter“, hörte sie die Stimme der Göttin aus dem Nirgendwo ihres Traumes sprechen. „Genau das ist es, was Gerlinde ein Teil ihres Lebens durchmachen musste! Sie war immer eine Frau! Und deshalb, und weil sie durch ihr Leben einiges lernte, und eine Brücke zwischen den Geschlechtern sein kann, habe ich sie zu euch geschickt. Und ihr habt bei eurer ersten Aufgabe doch gut zusammen gearbeitet.“

„Ja, das haben wir“, bestätigte Nora im Traum. „Aber jetzt ist alles anders, seit wir es wissen, wer sie einmal war!“

„Was ist anders?“

„Na, jetzt sehen wir sie nicht mehr als Frau, Anna und ich! Und wir können nicht mehr so offen und vertraut miteinander umgehen, wie vorher!“

„Und, hat sich Gerlinde verändert, oder nicht eher ihr euch?“

Nora überlegte.

Es stimmt! Eigentlich war Gerlinde immer noch der selbe Mensch gewesen. Ruhig, ausgeglichen, nett und kompetent, was die Magie anging. Nur sie und Anna sahen sie jetzt anders, weil sie einen Aspekt aus Gerlindes Leben kannten, der ihnen bis dahin verborgen geblieben war.

„Ist es wichtig, wer Gerlinde mal war? Oder ist es nicht viel wichtiger, wer sie jetzt ist?“

Die Stimme der Göttin war eindringlich und brachte das Problem auf den Punkt: Was zählte war die Gegenwart und die Zukunft, nicht so sehr die Vergangenheit!

 Das Telefon klingelte.

Nora wurde wach, der Traum, ein Mann zu sein, die Stimme der Göttin, alles verschwand.

Schlaftrunken blickte sie auf die Uhr.

Kurz nach Mitternacht, zeigten ihr die Leuchtziffern ihrer Uhr an.

Hoffentlich hat der Anrufer einen guten Grund, sonst reiße ich ihm die Gedärme aus dem Leib, dachte sie, und grinste. Sie liebte solche Scherze! Für jede Art von schwarzem Humor war sie immer zu haben gewesen, wie ihre vielen Verwandten, Freunde und Kollegen leidvoll zu berichten wussten!

Sie nahm den Hörer ab.

„Ja, wer ist da“, ertönte schlaftrunken ihre Stimme.

„Ich bin’s, Anna“; ertönte, ebenfalls schlaftrunken, die Stimme der Polizistin. „Stell dir vor, ich hatte eben einen Traum gehabt, in dem ich ein Mann war. Und ich sollte ein Mann bleiben, und dabei ...“.

„Du brauchst nicht weiter reden, Anna! Ich hatte auch diesen Traum, und die Göttin machte mir klar, das Gerlinde eine Frau ist, und ihre Vergangenheit als Mann unwichtig. War das auch bei dir so?“

„Genau“, erwiderte Anna. „Ich glaube, wir sollten Gerlinde anrufen, und uns bei ihr entschuldigen. Wir haben beide wohl etwas überreagiert, als wir sie so vor den Kopf gestoßen hatten. Für die Göttin ist sie eine Frau, also sollten wir sie auch so sehen!“

„Ja“, erwiderte Nora. „Aber wir sollten sie erst anrufen, wenn wir richtig wach sind, findest du nicht auch?“

„Okay, aber wer von uns sollte das tun?“

„Am besten wir beide“, erwiderte Nora. „Oder noch besser, wir kreuzen unangemeldet bei ihr auf, und sagen ihr, wie dumm wir waren, und das es uns leid tut!“

„Gut, und um wie viel Uhr sollen wir das machen?“

„Was hältst du von Nachmittag gegen drei Uhr? Da sind wir alle bestimmt ausgeschlafen genug!“

Okay“, erwiderte Anna. Sie verabschiedeten sich, und legten sich in ihre Betten. Sie schliefen traumhaft und alptraumlos ein, und erwachten erholt und erfrischt.

Der nächste Tag.

Sie gingen zu Gerlinde, die ihnen mit verweintem Gesicht die Tür öffnete.

„Gerlinde, wir sind beide gekommen, um uns bei dir zu entschuldigen. Wir lagen falsch, und natürlich gehörst du zu uns“, sagte Nora, und umarmte sie.

Gerlinde spürte ihre Herzlichkeit und Wärme, und wusste, das sie es ernst meinte.

„Dito“, sagte Anna, und umarmte sie ebenfalls.

Ihre Umarmung tat ihr gut, aber sie spürte auch, das Anna etwas reservierter zu ihr war als Nora. Nun, vielleicht braucht Anna etwas mehr Zeit, überlegte sie? Wenn dem so ist, okay, dann soll sie die Zeit haben! Hauptsache ist, das irgendwann einmal alles so ist, wie es in einem guten Team sein sollte: Gemeinsam auf ein Ziel hin arbeiten, und die Unterschiede genauso wie die Gemeinsamkeiten akzeptieren!

„Na ihr zwei, dann kommt erst einmal rein! Ich hab gerade frischen Kaffee aufgegossen und noch etwas Torte im Kühlschrank. Ich denke, jetzt ist ein Grund zum feiern!“

Sie traten ein, und setzten sich in Gerlindes geräumiges, mit vielen Erinnerungsstücken geschmücktem Wohnzimmer, und redeten. Harmonie breitete sich aus, und zum ersten Mal hatten alle drei Frauen das Gefühl, zu einem wirklichen Team zusammen zu wachsen, dem Team der „Macht der drei Hexen“

 

 

ENDE der 2. Folge 

 

Wird Nick, der Ex- Verlobte Noras, den drei Hexen schaden?

Wird Anna mit der ehemaligen Transsexualität Gerlindes zurechtkommen?

Wird sich Anna outen?

Wird sie ihre große Liebe entdecken?

Und, was wird das nächste Abenteuer der drei Frauen sein?

Wenn Ihr diese und andere Fragen beantwortet haben wollt, dann schaut wieder einmal herein, bei der nächsten Folge von „DER MACHT DER DREI HEXEN“.

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