Die Nacht war kalt.
Sie spürte, dass jemand sie beobachtete. Vorsichtig blickte sie sich um, konnte aber niemand erkennen, so sehr sie ihre Augen auch anstrengte.
Sie zog den Kragen ihrer Lederjacke höher, und griff in ihre rechte Jackentasche. Sie fühlte den hölzernen Griff eines langen Küchenmessers, der in einem Lederfutteral steckte. Das Messer gab ihr das Gefühl von Sicherheit. Sie war oft in der Nacht unterwegs, auch, als sie in der Zeitung von dem Vergewaltiger las, der jungen Frauen in den frühen Morgenstunden auflauerte. In einer Zeit, in der die meisten Menschen den Schlaf der Gerechten schliefen, und, am nächsten Morgen erwarteten, die Zeitung vorzufinden, die sie ihnen gebracht hatte.
Sie drehte sich zu ihrem Fahrrad, das an einem Baum angelehnt stand, kontrollierte die Zeitungstasche, und nahm ihr Auftragsheft hervor.
Mit geübtem Griff sah sie, wohin sie zuerst musste.
Familie Weber!
Eine sehr nette Familie!
Die Tochter der Webers ging mit ihrer jüngeren Tochter Bettina in dieselbe Klasse, und ihr Freund Willy arbeitete im selben Betrieb wie Herr Weber.
Sie liebte es, diese Strecke zu fahren!
Gut beleuchtete Strassen, viele Häuser und draußen Hunde, die Wache hielten, und jedes Mal bellten, wenn ein Fremder vorbeikam.
Sie stieg auf ihr Fahrrad, und trat in die Pedale.
Der Schlag traf sie völlig unerwartet! Wie von einem Blitz getroffen, fiel sie zu Boden. Das Fahrrad kippte auf die Seite, und die Zeitungen auf den nackten und nassen Boden des Parks. Sie spürte einen rasenden pochenden Schmerz in ihrem Kopf, der drohte, ihren Schädel zu zerplatzen. Sie versuchte, ihre Augen zu öffnen, doch die versagten ihren Dienst. Verschwommen nahm sie eine untersetzte Gestalt in einem schwarzen Trainingsanzug war, die auf sie zukam. Sein Gesicht konnte sie nicht erkennen, war sie doch durch eine Wollmütze verdeckt, in denen zwei Augenschlitze eingeschnitten waren.
„Bitte, helfen sie mir“, sagte sie mühsam.
„Ich werde dir schon helfen, meine Süße! So sehr, das du nicht genug davon bekommen kannst!“
Die Stimme klang in ihren Ohren kehlig, und schien von weit her zu kommen.
Er beugte sich über sie, und hielt ein großes Messer an ihre Kehle.
Sie hatte panische Angst! Und sie vergaß das Messer, das in ihrer rechten Jackentasche steckte.
Wortlos entkleidete er sie. Drang in sie ein. Seinen keuchenden Atem nahm sie nur verschwommen war, ebenso den eiskalten Stahl seines Messers, das er in ihr Herz bohrte. Es dauerte nur Sekunden, bis sie ihr Leben ausgehaucht hatte.
Der Mann wischte sein blutiges Messer im Gras ab, und steckte es in eine mit Ornamenten verzierte Scheide. Dann stand er auf.
„Blöde Fotze, du hast bekommen, was du verdienst!“
Dann verschwand er in der Dunkelheit der Nacht.
Zwei Stunden später wurde die Leiche von Gabriele Kunze von einem Anwohner gefunden.

Anna wachte auf.
Sie hatte den sanften Duft von Noras Parfüm in der Nase, ein Duft nach Rosen und Jasmin. Sie lächelte.
Die vergangene Nacht war wundervoll gewesen.
Leidenschaftlich, und wundervoll zärtlich. So, als ob sie sich ewig kennen würden, verstanden sich ihre Körper. Wortlos, ahnend, was die andere wollte und brauchte. Noras Finger glitten über Annas Brüste, so, als ob sie schon immer Frauen geliebt hätte. Und Annas Finger verschafften Noras Möse die Entspannung, die diese, da war sich Anna sicher, seit langem vermisst hatte.
Und nun lag sie wieder in ihrem Bett. Allein mit der Erinnerung der vergangenen Nacht.
Sie war nach Hause mit ihrem altersschwachen Toyota gefahren, weil sie spürte, dass Nora allein sein wollte.
Sie wird wohl jetzt über uns und über sich nachdenken wollen
, überlegte sie. Sie wird sich fragen, ob es wohl mehr Neugier oder Begehren, oder Liebe war, die sie dazu brachte, mit mir zu schlafen. Es hat ihr gefallen, das sah ich in ihrem Gesicht! Und nun wird sie sich fragen, ob sie wohl eher bisexuell oder vielleicht nicht doch eher heterosexuell ist?
Sie lächelte.
Genau die selbe Entscheidung, vor der ich vor vielen Jahren stand
!
Ich war damals, als ich zur Schule ging, mit vielen Jungen ausgegangen und hatte auch erste sexuelle Erfahrungen gemacht. Und schon damals merkte ich, das die Jungen, so nett sie auch teilweise waren, mir nicht das gaben, was ich suchte
.
Bis ich Gaby traf.

Sie gab mir alles was ich suchte, und sie lehrte mich auch, meine maskuline Seite zu akzeptieren. Sie war eine Femme, eine feminin aussehende Frau. Sie hatte lange, dunkelblonde Haare, schminkte sich gerne, und trug figurbetonte Kleider, die sie auch tragen konnte.
Und da wusste ich, das ich lesbisch bin
!
Und nun steht wohl Nora vor dieser Entscheidung
!
Wie sie auch immer sich entscheiden wird, ich weiß für mich, das ich sie liebe
! Ich liebe ihren Körper und ich liebe ihre Seele. Ich liebe es, wenn sie lacht, und bin traurig, wenn sie weint.

 


Ein Blick auf ihren Wecker zeigte ihr, dass es Zeit war, aufzustehen, und zu frühstücken.
Auch ihr knurrender Magen deutete ihr dezent an, dass es Zeit wäre, etwas zu essen. Sie stand auf, wusch sich im Bad, und zog sich einen Morgenmantel aus grünem Frottee über ihren blauen Schlafanzug, der schon bessere Zeiten gesehen hatte. Sie ging in die Küche, und stellte die Kaffeemaschine an, nachdem sie den Filter und drei Esslöffel Kaffeepulver hineingetan hatte. Sie ging an den Kühlschrank, und holte gesalzene Butter, Marmelade und geschnittenen Käse heraus, den sie dekorativ auf einen kleinen Teller legte, und alles auf den Tisch neben ihr geliebten Kaffeetasse platzierte.
Das Telefon klingelte.
Das ist bestimmt Nora
, überlegte sie.
Sie will mir bestimmt sagen, das sie mich liebt, und wir ab heute ein Paar wären
!
Sie ging ins Wohnzimmer, wo ihr zweites Telefon stand, nahm den Hörer ab, und sagte: „Hallo, hier ist die unwiderstehliche Anna. Wer spricht dort, und will von mir verführt werden“, flötete sie verführerisch in den Hörer?
„Lass den Quatsch, Anna“, hörte sie eine männliche Stimme, die ihr nur zu vertraut war.
Max, ihr Halbruder!
Max, der als Polizist in Hamm arbeitete, und der ihrer Liebe zu Frauen immer ablehnend gegenüberstand. Sie hatten sich als Kinder zum letzten Mal gesehen, als ihre Mutter und sein Vater sich getrennt hatten, aber immer miteinander telefoniert oder sich geschrieben.
Max, der verheiratet und als Vater zweier erwachsener Jungen in einem kleinen Reihenhaus in Hamm lebte. Er rief sie an? Es war weder Weihnachten, noch Ostern oder ihr Geburtstag. Also muss etwas vorgefallen sein!
„Anna, ich brauche deine Hilfe“, begann er.
„Was ist den los?“
„Meine Frau will sich von mir trennen, und ich weiß nicht, was ich tun soll, um sie zu halten!“
Na endlich ist sie soweit, meinen Bruder den Supermachoarsch zu verlassen,
überlegte sie blitzschnell. Aber wenn du meinst, das ich dir helfe, sie wieder in dein Gefängnis zurückzuholen, dann hast du dich aber ganz schön geschnitten, mein lieber Bruder!
„Und warum“, fragte sie ihren Bruder?
„ Weil sie meint, das ich sie nicht respektieren würde, Anna!“
Sie hörte, wie er weinte, und ein spöttisches Lächeln durchzuckte ihr Gesicht.
Na, jetzt leidest du
! Aber all die Jahre musste deine Frau Jutta unter all deiner Einengung leiden! Sie durfte nicht studieren, weil du es wolltest! Sie durfte nicht alleine verreisen, weil du es ihr verboten hattest! Und sie durfte nicht das im Fernsehen sich anschauen, was sie wollte, sondern musste sich immer nach deinen Wünschen richten!
Und nun beginnt sie, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen
!
Bravo, Schwägerin
!
„Aber ich habe sie doch immer respektiert, Anna“, hörte sie die weinerliche Stimme ihres Bruders. „Ich habe sie immer dafür gelobt, wenn ihr Essen besonders lecker war, oder die Wohnung blitzblank aufgeräumt war. Oder die Art, wie sie meine Jungs erzogen hatte. Einfach klasse war das! Und das habe ich ihr oft genug gesagt!“
Du Idiot
, dachte sie!
Meinst du, dass das genügt
? Ja, so wie ich dich kenne, meinst du das wirklich! Du hast sie nie als Mensch gesehen, Max, sondern nur als deine Dienerin! Und nun hast du kein Dienstmädchen und keine Prostituierte mehr, die sich aus Dankbarkeit für ein liebes Wort von dir hinlegte, und die Beine breit machte, so das du in sie eindringen konntest. Geliebt und mit Respekt hattest du sie nie, Bruderherz. Du hattest sie immer nur benutzt!
„Und was soll ich tun“, fragte sie ihren Bruder?
„Rede du mit ihr! Überzeuge sie davon, das sie sich irrt!“
„Okay“, sagte sie.
Sie legte nach einer kurzen Verabschiedung den Hörer auf.
Ja, ich werde mit ihr reden, Bruderherz
! Aber anders, als du es erwartest! Ich werde ihr zureden, dich zu verlassen. Und, wenn sie keinen anderen Platz zum wohnen hat, werde ich ihr anbieten, bei mir zu wohnen.

 

Sie nahm den Hörer ab, und rief bei ihrer Schwägerin an. Dann zog sie ihre schwarze Jeanshose und die dazu passende schwarze Jeansjacke an, und frühstückte zu Ende

„Carola, bevor wir mit den ersten magischen Übungen beginnen, möchte ich erst einmal sehen, was du über Göttinnen weißt“, sagte Gerlinde zu ihrer neuen Schülerin, die mit ihr in Gerlindes Küche saß.
„Also, dann leg los mit deinen Fragen“, sagte Carola, und blickte Gerlinde erwartungsvoll an!
„Welche Göttinnen kennst du?“
„Diana, auch Artemis bei den ollen Griechen genannt. Dann Nut, Bast und Isis aus Ägypten, sowie Demeter und Kore, Hera und Persephone aus Griechenland, und Aphrodite, die Göttin der Schönheit, der ich wohl am ähnlichsten bin“.
Carola lächelte, als Gerlinde sie tadelnd anblickte.
„Mensch, das war doch nur ein Witz!“
„Bitte, unterlass solche „Witze“ in Zukunft, Carola! Weder die Göttinnen, noch die Magie sind etwas, über das frau Witze machen sollte!“
„Ist ja schon gut“, sagte Carola, und spürte, wie ein kleiner Stich durch ihr Herz ging.
Sie hasste es, kritisiert und gemaßregelt zu werden!
Wie meine Mutter Rebecca
, überlegte sie! Original, wie meine Mutter und ihre bekloppte Kirche der Mormonen! Überall gemaßregelt und bevormundet! Ich dachte, als Hexe wäre ich wenigstens freier und hätte weniger Regeln. Ich dachte, ich könnte mehr Spaß haben, mehr ich selbst sein! Und was bekomme ich stattdessen? Wieder Regeln und Bevormundungen!
Sie blickte ihre Lehrerin an.
Ich liebe diese Frau
.
Ich weiß nicht warum, aber ich liebe diese Frau
!

Und dabei liebe ich keine Frauen!
Aber da ist etwas, was mich zu ihr hinzieht. Etwas, was ich mir nicht erklären kann. Etwas, was mehr ist, als nur ein Verhältnis wie zwischen Schülerin und Lehrerin
!
Und sie hat Geschmack
!
Sie schminkt sich dezent, und ihr beigefarbener Hosenanzug steht ihr ausgesprochen gut
!
„Gut, nehmen wir einmal Aphrodite“, riss sie Gerlinde aus ihren Träumen. „Was weißt du über sie?“
„Eigentlich sehr wenig, außer, das sie eine beste Freundin mit Namen Pallas Athene hatte, die Schutzpatronin von der Stadt Athen wurde!“
„Nun, viel ist das ja nicht“, erwiderte Gerlinde. „ Und sonst weißt du über sie nichts?“
Carola verneinte.
„Nun, dann solltest du über sie noch folgendes wissen“, sagte Gerlinde, und holte eine kleine schlanke und fast nackte Tonfigur aus einem kleinen Schrank, und legte diese auf dem Tisch.
„Diese Figur stellt die Göttin Aphrodite dar. Sie ist in späteren patriarchalischen Jahren zur Jungfrau Maria der katholischen Kirche geworden. Von Anfang an war sie die Göttin der Liebe und Schönheit, der Fruchtbarkeit und des Lebens und des Todes. Unter der Herrschaft des Patriarchats erlitt sie schwerste Demütigungen, weil sie angeblich aus dem Kopf des Zeus geboren wurde. Ihre beste Freundin, wie du es genannt hattest, Athene, war ihre Geliebte und die Göttin des Sieges, und stammte ursprünglich aus Afrika. Die Griechen hatten sie dann nach und nach zur „weißen“ Göttin umgewandelt, und übernommen. Sie ist die Göttin und Urheberin der Schrift, der Musik, und der Wissenschaften. In ihrer afrikanischen Heimat war Athene eine sehr junge, aber auch sehr starke Göttin. Sie wird auf den alten Abbildungen meist mit einem Schild aus Schildkrötenpanzer gezeigt, dem Sinnbild weiblicher Weisheit.
Sie verkörpert den Jungfrau- Aspekt der Göttin, und war immer lesbisch!“
„Lesbisch?“
„Ja, Carola, lesbisch!
Viele der Göttinnen waren und sind lesbisch! Sie verkehrten nur mit Männern, wenn sie ein Kind wollten, oder sie sich einem Mann gegenüber verpflichtet fühlten!“
„Aber haben nicht viele Göttinnen auch den Mutteraspekt in sich?“
„Ja, jede Göttin, auch die lesbischen und die Göttinnen der Amazonen, Carola! „Die Göttin wird oft in ihrer dreifachen Form als Jungfrau, Muttergöttin und weise Alte dargestellt, um die verschiedenen Lebensabschnitte von Frauen zu symbolisieren“.
Gerlinde ging erneut an ihren Schrank, und holte ein Bild hervor, das sie vor vielen Jahren einmal mit Ölfarbe gemalt hatte. Ein Frauenkopf inmitten eines grünen Waldes war zu sehen, Der Frauenkopf hatte drei unterschiedliche Profile zur Ansicht. Links war das sanfte Lächeln einer jungen, langhaarigen Frau, in der Mitte eine Frau, deren Alter schon erste Zeichen zeigte, und rechts das verrunzelte Gesicht einer weißhaarigen Frau mit randloser Brille.
Und deshalb haben wir Frauen jeden Aspekt der Göttin in uns“!
Sie blickte ihre Schülerin an.
„Also, auch in dir, Carola!“

Noras Atem war ungleichmäßig.
Ihr Bett, noch zerwühlt von der Liebesnacht mit Anna, lag einsam und verlassen da. Anna lag nicht mehr neben ihr, doch glaubte sie, Annas herbes Parfüm zu riechen.
Sie wälzte sich hin und her.
Sie war unruhig, spürte, dass eine Entscheidung von ihr erwartet wurde, eine Entscheidung, für die sie noch nicht bereit war. Plötzlich füllten sich ihre Tränensäcke mit Flüssigkeit. Sie weinte.
Verdammt
, überlegte sie! Was ist bloß mit mir los?
Die Nacht mit Anna war so wundervoll, so wild und verrückt
? Ich will sie, und doch wieder nicht!
Sie stand auf, und ging ins Bad, wo sie das Badewasser und etwas Rosenöl einfüllte. Sie band ihre Haare hoch, und blickte in den Spiegel.
„Wovor hast du nur so eine große Angst, meine Tochter“, hörte sie plötzlich die vertraute Stimme der Göttin im Raum. „ Liebst du sie denn nicht?“
„ Doch, große Mutter! Das ist es ja! Ich liebe sie! Körperlich, meine ich! Aber seelisch? Kann ich sie auch seelisch lieben? Was bin ich denn dann, wenn wir zusammen sind? Immer noch heterosexuell? Bi? Lesbisch? Oder was?“
„Ist es dir so wichtig, was du bist? Bist du nicht zuerst einmal ein menschliches Wesen? Ein Wesen, das liebt und hasst, Freude empfindet und leiden kann? Ist es da so wichtig, in welche Schublade du oder andere dich stecken?“
„Ja, mir schon“, erwiderte Nora!
„Meinst du, wenn Anna und ich ein Paar wären, das wie auf der Straße offen unsere Liebe zeigen könnten, so, wie ich es mit Nick tun konnte? Meinst du, eine Frau, die eine Frau liebt, bekommt deshalb einen Orden an die Brust geheftet, und ein anerkennendes „gut gemacht“ auf ihre Schulter geklopft? Lesben werden überall verachtet und gehasst! Und ich will nicht gehasst werden!“
„Hasst du Anna“, fragte sie die Göttin?
„Nein, natürlich nicht! Und auch nicht Gerlinde, oder jede andere Frau, die nicht heterosexuell ist! Aber es ist doch nun einmal so, dass die Gesellschaft alles hasst, was in irgendeiner Form anders ist. Sie hassen doch auch uns Hexen, wenn sie von uns erfahren würden! Wir könnten keine Stellenausschreibung in die Zeitung setzen, so nach dem Motto: „Hexenausbilderin hat noch Plätze frei“, oder „Haben sie Dämonen im Haus? Keine Angst, Rufen sie uns, und alle Dämonen, außer dem Bundeskanzler und die letzte Steuererhöhung werden für immer verschwinden!“
Sie lachte bitter auf
„Ich will nicht diskriminiert werden! Niemals!“
„Du hast gesagt, dass du Anna körperlich liebst, und nicht wüsstest, ob du sie seelisch lieben würdest. Nun, dann versuch es doch für dich herauszufinden, meine Tochter! Nur so kannst du für dich innere Klarheit findest! Frage dich doch einmal, was sie dir gegeben hat, und was du vermisst hast in jener Nacht? Und wenn du es weißt, dann handle auch danach!“
Das Wasser in der Badewanne hatte schon über die Hälfte der Fläche gefüllt. Der sanfte Duft der marokkanischen Rose stieg in ihre Nase hoch, und sie hörte, wie ihre Freundin Barbara mit langsamen Schritten auf das Bad zugeschlurft kam.
„Nora, bist du im Bad“, hörte sie die leicht kränkelnde Stimme ihrer besten Freundin?
„Ich bin gerade soweit, das Bad zu betreten, Barbara“, sagte sie, und stieg in den warmen weichen Schaum des Bades. „Wenn du Lust hast, komm doch mit hinein!“
„Au ja“, hörte sie die Stimme ihrer Freundin. Die Tür öffnete sich, und Barbara stand vor ihr, in einem rosafarbenen Frotteebademantel gehüllt, der ihre schlanken Fesseln nur unzureichend verbarg. Mit einer eleganten Bewegung entkleidete sie sich, und stieg zu ihrer Freundin ins Bad. Das Wasser schwappte leicht über den Rand, als sie sich setzte, und der übergetretene Schaum verteilte sich in kleinen Pfützen auf dem Boden.
„Wie früher, Nora! Weißt du noch, was wir damals für Wasserschlachten im Bad veranstaltet hatten, und wie meine Mutter immer schimpfte, weil sie das ganze Wasser wegwischen musste?“
„Und ob ich mich daran erinnere“, erwiderte Nora, und lächelte in seliger Erinnerung an vergangene Kinder- und Jugendtage.
Noras Hand griff zu einem Waschlappen, der auf dem Rand des Beckens lag, und seifte ihren Körper ein.
„Du siehst wunderschön aus, Nora“, sagte Barbara, nachdem sie lange wohlwollend Noras Körper und ihre festen Brüste betrachtet hatte. „Wäre ich ein Mann, könnte ich für nichts garantieren!“
Noras Gesicht nahm die reife Farbe einer Tomate an.
Sie dachte an Anna!
An Anna, und ihre wundervoll zärtlichen Finger, die lustvoll über ihren leicht üppigen Körper wanderten, und ihr soviel Freude und Entspannung verschafften, wie sie es noch niemals zuvor erlebt hatte!
Etwas in ihr liebte diese smarte Butch mit Namen Anna!
Etwas anderes machte ihr Angst!
Angst, dass sie mehr als nur Neugierde verspürt hatte, als sie mit Anna schlafen wollte!
Bin ich vielleicht lesbisch oder bi
, dachte sie?
„Was ist mit dir los“, unterbrach ihre Freundin ihre Gedanken? „Woran denkst du im Moment?“
„An nichts Besonderes“, erwiderte Nora, und vermied es, ihre Freundin anzusehen.
Barbara griff zu dem kleinen braunen Kofferradio, das auf einer kleinen Anrichte neben dem Bad stand, und drehte an den Knöpfen, bis leise Musik ertönte. Sie summte leise die Melodie des alten Schlagers, der gerade gespielt wurde, und nach kurzem Zögern fiel Nora in das Gesumme mit ein.
Der betörende Duft der Rose entspannte beide Frauen, und Nora verspürte, das sie plötzlich Lust verspürte, eine Flasche Champagner zu trinken. Doch weit und breit keine Flasche in Sicht.
Also werde ich wohl meinen Durst erst später löschen können
, überlegte sie. Na ja, dann werde ich mich erst einmal im Bad entspannen!
Der schwere Gong der Nachrichten im Radio ertönte.
Nora hörte nur mit halbem Ohr zu, zu sehr war sie in ihrer eigenen Welt, ihren eigenen Gedanken gefangen!
Anna ging ihr nicht aus dem Sinn!
Sie schloss die Augen, und stellte sich vor, mit Anna zu baden, und ihre sanfte Haut nah an
ihrem Körper zu spüren. Ein leiser Schauer des Begehrens durchflutete sie, und sie wünschte sich, das Anna bei ihr wäre.
Ich begehre dich, Anna
! Göttin, hilf mir, ich, eine Frau, die bisher nur Männer liebte, begehre eine Frau!
„Nun zu den Nachrichten aus Brandenburg
“, ertönte die sonore Stimme des Nachrichtensprechers. „Potsdam. Heute früh wurde die Leiche der Zeitschriftenzustellerin Gabriele K. in der Nähe einer Wohngegend in der Pestalozzistraße gefunden. Sie ist das fünfte Opfer eines Serienvergewaltigers und Mörders, der seit einem halben Jahr die Stadt Potsdam und den Landkreis Oder Spree unsicher machte. Die Polizei bittet um ihre Mithilfe, und darum, das sie unter der Nummer 0331 für die Vorwahl von Potsdam, und dann die Nummer 3467921 der Sonderkommission „Messer“ anrufen, um sachdienliche Hinweise zu geben. Es wurde eine Belohnung von 10000 € ausgesetzt.“
„Schrecklich, was für Gewalt in diesem Land gegen Frauen ausgeübt wird“, sagte Barbara, und Nora spürte den leisen Scheuer des Ekels, der über Barbaras Gesicht huschte.
„Meine Tochter“, hörte sie die vertaute Stimme der Göttin. „Diese Nachricht ist euer neuer Auftrag. Beeil dich, damit ihr das sechste Opfer verhütet werden kann!“
Nora blickte Barbara an.
„Mir ist gerade eingefallen, dass ich noch einen wichtigen Termin habe. Ich muss mich jetzt sofort fertig machen, und noch einige Freundinnen anrufen. Bleib ruhig noch im Wasser drin, und genieß das Bad!“
Nora stand aus dem Bad heraus, trocknete sich hastig ab, durchföhnte ihre Haare, und rief Anna und Gerlinde an. Eine Stunde später, sie hatte sich fertig angezogen und leicht geschminkt, fuhr sie mit den öffentlichen Verkehrsbetrieben zu der Stelle, wo sie das Wohnmobil abgestellt hatte. Sofort fuhr sie zu Gerlinde und Anna, die beide schon auf sie warteten, und als alle eingestiegen waren, fuhren sie in Richtung Potsdam.
Gerlinde spürte deutlich die Anspannung, die zwischen Anna und Nora war.
Und sie ahnte, was beide getan hatten.
Tu ihr bitte nicht weh, Nora
, dachte sie. Sie verdient es, das ihr nicht weh getan wird!
Sie fühlte, wie ihr Herz schwer wurde, und ihre Augen sich langsam aber sicher mit Tränenflüssigkeit füllten. Sie atmete kurz tief durch, und konzentrierte sich ganz darauf, dass niemand mitbekam, was in ihr vorging. Niemand, weder Nora, und schon gar nicht Anna, sollten wissen, wie sehr sie Anna liebte!
Und es gelang ihr.
„Was ist denn nun genau unser Auftrag“, fragte Anna?
„Zu verhindern, das eine weitere Frau in der Gegend von Potsdam vergewaltigt und ermordet wird! Und zu verhindern, das ein teuflischer Täter wieder einmal frei kommt, weil irgendein männlicher Gutachter ihn als „armen Teufel“ abtut, der Hilfe braucht!“
Nora lachte bitter auf.
„Hilfe! Und wer denkt an die Frauen, die Opfer? Wer an unsere Sicherheit?“
„Stimmt“, warf Gerlinde ein. „Vergewaltiger sind, wie eine Freundin das so treffend ausdrückte, die SS des Patriarchats! Und wir müssen diese SS vernichten, wo immer wir das können, um das Leben von Mädchen und Frauen sicherer zu machen! Wir dürfen nicht mehr Opfer sein, sondern wir müssen lernen, uns zu wehren!“
„Aber solange Frauen in ihrer Opferhaltung verharren, weil sie jahrtausendelang so sozialisiert wurden, wird sich wohl kaum etwas ändern“, sagte Anna, und blickte Gerlinde prüfend an.
Irgend etwas an ihr stört mich
, überlegte sie. Wenn ich nur wüsste, was? Ihre Transsexualität kann es nicht sein, und ihr Wissen über Magie auch nicht!
„Was meinst du, Anna“, unterbrach Nora ihren Gedankenfluss? „ Sollten wir den Frauen beibringen, sich zu wehren. Sollen sie mit ner Knarre in der Hosentasche oder im Rock versteckt, herumlaufen, oder wie Karate- Emma jeden bösen Buben flach legen?“
„Sag bloß nichts gegen Diana Rigg als Emma Peel“, erwiderte Anna! „Sie sah echt toll in ihren engen Latexklamotten aus!“
„Find ich auch“, sagte Nora, und lächelte Anna an. Wie zufällig berührte ihre Hand Annas Knie, und sie spürte, wie ein sanfter Schauer durch Annas Körper floss.
„Wie wollen wir vorgehen, wenn wir am Tatort sind“, fragte Gerlinde, der Noras Berührung einen weiteren Stich in ihr Herz bescherte?
„Ja, wie wollen wir vorgehen, Anna? Du bist doch die Fachfrau für Mord und Totschlag! Was sollen wir also tun, Mrs. Homes?“
„Nun, erwiderte Anna, und setzte eine gespielt ernste Miene auf. „Als erstes müssen wir sehen, ob wir irgendetwas da finden können, was dem Opfer oder dem Täter gehört hat. Dann wird Gerlinde versuchen, etwas über den Besitzer des Gegenstandes zu erfahren, und wenn wir was wissen, sehen wir weiter, Mrs. Watson!“
„Na, Anna, ob dir ein Sherlock Homes Kostüm stehen würde? Kariert macht dich nicht... „.
„.... schlanker“, vollendete Nora den Satz Gerlindes. „Aber bestimmt interessanter und mysteriöser!“
Eine ältere blonde Frau in einem eleganten Kostüm, die einen roten Kleinwagen fuhr, zeigte durch die Lichthupe an, dass sie vor dem Wohnmobil einscheren wollte. Nora ging vom Gas etwas runter, und die Frau setzte sich in die frei gewordene Lücke.
Sie sah durch das Hinweisschild, das sie den Stadtrand von Potsdam erreicht hatten.
„Achte auf die Eule, die du am gleich am Wegrand sehen wirst“, hörte sie die vertraute Stimme der Göttin. „Sie wird euch dorthin führen, wo das letzte Verbrechen geschah!“
Nora blickte sich um.
Aber sie sah keine Eule.
Weder am Straßenrand, noch auf einem der Bäume, die vereinzelt auf einer Grünfläche standen, und deren Äste sich langsam und gleichmäßig im Wind wiegten.
„Ich wollte euch noch etwas sagen, Leute“, begann Gerlinde. Ihre Stimme zitterte kaum merklich. „Ich habe eine junge Frau als Elevin angenommen, die sich für Magie interessiert. Aber unsere Arbeit wird darunter nicht leiden, das verspreche ich euch!“
„Was, du hast ne Schülerin“, entfuhr es Anna und Nora fast gleichzeitig!“
„Und, wie ist sie“, fragte Anna, die ihre Neugier nur schwer beherrschen konnte? Was kann eine Frau an Gerlinde nur finden, überlegte sie? Sicher, sie weiß ne Menge, aber ich und Nora auch! Und manche Dinge kann sie ihrer Schülerin nun einmal nicht beibringen, beim besten Willen nicht! Zum Beispiel Menstruationsmagie! Wie soll sie, die nie eine Mens bekommen wird, ihrer Schülerin beibringen, wie sie die Energien des Menstruationsblutes nutzen kann?
„Sehr wissbegierig und enorm aufnahmefähig“, erwiderte Gerlinde. „Aber etwas an ihr stört mich doch!“
„Und was“, sagte Nora?
„Als ich sie überprüfen wollte, weil sie ja auch von einem Dämon geschickt sein konnte, oder selbst einer gewesen sein könnte, berührte ich sie kurz. Ihr wisst ja, dass die Göttin mir die Fähigkeit geschenkt hat, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu sehen. Nun, und bei ihr sah ich absolut nichts! So, als ob ihr Blatt des Lebens total leer wäre!“
„Vielleicht ist sie doch ein gut getarnter Dämon“, meinte Anna. „Sei lieber etwas vorsichtiger bei ihr, bis du mehr über sie weißt! Sicher ist sicher!“
„Das denke ich auch, Gerlinde“, erwiderte Nora. „ Bevor du mehr über sie weißt, sag ihr auch besser nichts von uns. Oder weiß sie es schon?“
„Für wie dumm hältst du mich“, sagte Gerlinde empört. „Unsere Arbeit ist eine Sache, ihre Ausbildung eine andere!“
„Dann ist ja gut“, sagte Nora.
Sie beobachtete den Verkehr auf der Fahrbahn, der sich zügig dahinzog.
In der Ferne erblickte sie ein großes Schild. Es schien größer und größer zu werden, je näher sie kamen. Auf dem Schild war eine riesige Eule gemalt, und daneben stand:

Besuchen sie die Eulenweg- Wohnanlage in Glienicke! Großzügige Wohnraumausstattung und eine große Infrastruktur sichern ein komfortables Wohnen in grüner Atmosphäre.

Also ist dort der Tatort, durchzuckte Nora ein Gedanke.
„Kann eine von euch mal nachsehen, wo der Eulenweg ist“, fragte sie die anderen Frauen.
„Ich mach das am besten“, sagte Anna, und griff in die Seitentasche der Tür des Wohnmobils, in dem eine Reihe von unterschiedlichen Straßenkarten lagen. Wenige Augenblicke später hatte sie den Eulenweg gefunden, und dirigierte Nora sicher dorthin.
Sie waren angekommen.
Nachdem alle Frauen ausgestiegen waren, blickten sie sich um. Unweit des Wohnmobils sah Nora, wie eine alte Eule ihr klagendes Rufen in die kühle Nachmittagssonne hinausrief. Sie wunderte sich nicht, denn sie spürte, das, obgleich Eulen Nachttiere waren, die Göttin diese Eule ihnen geschickt hatte, um ihr zu zeigen, dass hier der Tatort war.
Nora blickte sich um.
Den schlanken doch stämmigen Birken sah man den jahrelangen Verfall durch die Umweltverschmutzung der untergegangenen DDR an, denn viele ihrer Blätter waren zerfressen und einige Äste verfärbt. In der Nähe sah sie eine Reihe von Einfamilienhäusern, die meisten mit gepflegten Gärten und Gartenanlagen. Eine Allee von Außenlampen verlief beiderseits der Straße. Nora bemerkte wohlwollend, dass die Pflasterung der Straße sehr gepflegt und sauber war.
Anscheinend halten die Leute hier sehr viel von Sauberkeit und Ordnung
, dachte sie, und hörte, wie eine Klingel dicht hinter ihren Ohren erschallte.
Sie drehte sich um.
Ein alter Mann fuhr mit einem klapprigen Fahrrad an ihnen vorbei, und grüßte sie wortlos.
„Wir sind angekommen“, sagte Nora. „Schwärmen wir aus, und sehen uns um.“
„Ich gehe am besten zu der Rasenfläche bei dem Baum in der Nähe des Tatortes“, sagte Anna. „Erfahrungsgemäß findet man da am meisten an Spuren“. Sie bewegte sich, vorsichtig auf dem Boden umblickend, dorthin.
„Und ich dann am besten zu dem Weg, der zu den Häusern führt“, sagte Gerlinde, und ging in die entsprechende Richtung.
„Gut, dann werde ich in der Nähe des Wohnmobils suchen“, sagte Nora, und blickte auf den Boden. Aber so sehr sie ihre Augen auch anstrengte, sie konnte nichts entdecken.
„Siehst du was, Anna“, rief sie Anna zu?
„Bis jetzt noch nichts“.
„Und du, Gerlinde?“
„Nada“, sagte Gerlinde etwas enttäuscht.
„Dann lass uns weiter suchen! Das gibt es doch nicht, das sich keine verwertbaren Spuren finden lassen!“
„Möge die Göttin dein Wort bald in Erfüllung gehen lassen, Anna“, erwidere Gerlinde.
„So sei es“, bekräftigte Nora diesen Wunsch!

Annas Augen wurden schon fast schwindelig von dem intensiven Hinsehen auf die vielen Grashalme. Alles schien sich vor ihren Augen zu verwischen. Ein Halm sah wie der andere aus, und schien mit den anderen Halmen zu verschmelzen.

Ihr Rücken begann zu schmerzen, und so streckte sie sich etwas.

Ihr Fuß berührte etwas. Etwas Großes. Etwas aus Metall.

Sie bückte sich.

Eine alte rostige Radkappe, vom Zahn der Zeit schon überdeutlich gezeichnet, und seit mindestens einem Jahr hier auf dem Boden, wurde, nachdem sie etwas Gras beiseite schob, sichtbar.

Sie suchte weiter.

Sie hörte, wie Nora leise ein Lied summte.

Ein Lied, das alle drei Frauen verband, dass sie liebten, und als Mantra oft gesungen hatten, wenn sie unterwegs waren:

 

„Ancient mother, I hear your calling.

Ancient mother, I hear your crying.

Ancient mother, I feel your sorrow.”

 

Nora sang dann immer zwischen den Versen die Namen der verschiedenen Göttinnen:

 

„Artemis, Nut, Geridwen, Diana, Isis, Ishtar, Kali..... !“ All die Namen der Göttin, die doch immer nur „DIE EINE“ ist!

Göttin, hat sie eine schöne Stimme, dachte sie. Wie der helle Klang einer Glocke, wie die Stimme der Sirenen, die rufen. Ich wünschte, du würdest spüren, wie sehr ich dich will, meine süße Nora!

„Hast du was gefunden, Anna“, fragte Nora, die gerade mit dem Singen aufgehört, und auf sie zukam?

„Nein, bis jetzt nichts Auffälliges“, erwiderte sie.

„Gerlinde hat anscheinend auch nichts gefunden. Also müssen wir weitersuchen!“

Nora ging wieder zu ihrem Abschnitt zurück, beugte sich, und betrachtete intensiv den Boden. Und auch Anna sah wieder auf den Boden vor der alten Birke.

Sie erblickte einige Zigarettenstummel, die sie vorsichtig aufhob, und in ihre Jackentasche steckte. Man weiß ja nie, wozu das gut ist, überlegte sie. Vielleicht ist das ja eine Spur, die uns weiterbringt?

Sie spürte, dass jemand sie beobachtete.

Vorsichtig blickte sie sich um.

Nora war in den Boden ihres Abschnittes vertieft, und Gerlinde kehrte ihr den Rücken zu, als sie langsam die Allee in Richtung der Siedlung beschritt. Eine alte Frau war gerade dabei, ihre Wäscheleine mit einem riesigen Bettlaken zu füllen, das ihr die Sicht auf Anna verbarg. Zwei kleine Kinder spielten arglos auf dem Bürgersteig, und lachten.

Sie alle, da war sich Anna sicher, beobachteten sie nicht!

Und doch spürte sie etwas!

 

 

Gerlinde ging den Bürgersteig zum fünften Mal auf und ab.

Aber so sehr sie ihre Augen auch anstrengte, sie konnte nicht die geringste Spur entdecken.

Eine junge Türkin mit Kopftuch und einem, durch einen langen Mantel total verhüllten Körper kam, mit einem kleinen Jungen in der Hand, ihr entgegen. Ein kleines Mädchen, offensichtlich älter als der Junge, ging einige Schritte hinter den beiden her.

Sie blickte in das Auge des kleinen Mädchens, das leer und mit eingezogenem Kopf auf den Boden blickte.

So lernen Mädchen von klein auf an im Islam, das sie immer hinter den Männern zurückzustellen haben, dachte sie empört!

Es ist echt zum kotzen!

Aber vielleicht hat sie ja etwas gesehen, fragte sie sich? Ich wird sie am besten einmal fragen.

„Entschuldigen sie bitte“, begann sie. „Sie haben doch sicher von dem Mord an der Frau gehört. Haben sie vielleicht etwas gesehen?“

Wortlos, so als ob die Frau sie nicht verstanden hatte, oder nicht antworten wollte, schlängelte sich die Frau mit ihrem Sohn an ihr vorbei. Ihre Tochter, die ihr immer noch folgte, blickte sie an, und begann zu weinen.

Sie hat etwas gesehen, überlegte sie blitzschnell!

Die Kleine hat etwas gesehen! Und sie hat Angst, etwas zu sagen!

Sie rief der Mutter hinterher: „Darf ich ihre Tochter etwas fragen?“

Die Türkin drehte sich um, nahm ihren Sohn fest in ihre Hand, so dass dieser vor Schmerz aufschrie, und ging in schnellen Schritten auf ihre Tochter zu. Sie schrie etwas in einer Sprache, die Gerlinde nicht verstand. Ihre Tochter zuckte zusammen, während sie sich willenlos von ihrer Mutter abführen ließ.

Als sie erneut an ihr vorbeigingen, hatte Gerlinde das Gefühl, als ob die Türkin sie hasserfüllt ansehen würde.

Warum wohl?

Offensichtlich hatte sie mich verstanden, überlegte sie. Aber warum der Hass in ihren Augen?

Sie blickte ihnen nach.

Als das kleine Mädchen sich zu ihr umdrehte, und versuchte, sie anzulächeln, schlug ihre Mutter, die das bemerkt hatte, ihr auf den Kopf.

Gerlindes Magen verkrampfte sich!

Wie kann sie nur ihre Tochter schlagen, ja, weiß sie denn nicht, das die Kinder die Zukunft sind! Das Kinder der sichtbare Beweis des Lebens und jeder Mensch dankbar sein sollte, wenn sie ein Kind hat, das sie lehren kann, ein selbstständiger Mensch zu werden!

Ihre Gedanken wanderten in ihre Vergangenheit zurück. Eine Vergangenheit, die sie zu oft verdrängt hatte, um diesen Schmerz nie wieder zu spüren.

Rebecca!

Ihre Tochter Rebecca!

Die Tochter, an die sie so oft mit Liebe dachte, und aus deren Leben sie von ihrer Exfrau gewaltsam entfernt wurde! Die Tochter, an deren Leben sie nie teilhaben durfte, weil ihre Mutter, eine gläubige Mormonin wie sie es damals war, auch wenn sie in einem männlichen Körper steckte, nicht mit ihrer damaligen Transsexualität umgehen konnte.

Was wohl aus ihr geworden ist, überlegte sie?

Bestimmt ist sie mit einem Mormonen verheiratet, hat fünf Kinder, und ist übergewichtig, weil sie den ganzen Frust über ihr Leben, so, wie viele andere Mormoninnen, mit Essen und Tranquilizer kompensiert! Ach, was wäre wohl, wenn sie den Weg der Göttin kennen würde? „Ich vermisse dich so, meine Tochter“, sagte sie leise.

„Hast du was gefunden, Gerlinde“, hörte sie die Stimme Noras, die sie aus ihren Gedanken und ihrem Schmerz herausriss.

Sie drehte sich um, und blickte Nora ins Gesicht, die dicht vor ihr stand.

Ich kann verstehen, das Anna sie anziehend findet, überlegte sie. Sie hat all das, was sich Anna von einer Frau wünscht. Sie ist feminin, als Frau geboren, und sehr attraktiv!

Ein erneuter Stich ging durch ihr Herz.

„Warum quälst du dich so, meine Tochter“, hörte sie die vertraute Stimme der Göttin? Lebe!“

„Wie sieht es bei dir aus, Gerlinde“, hörte sie Noras Stimme, die auf sie zugekommen war?

„Bis jetzt habe ich noch nichts gefunden, Nora“, sagte sie. „Allerdings kam eben eine Türkin

vorbei, deren Tochter mich so ansah, als ob sie etwas gesehen haben könnte“.

„Bist du sicher“.

„Eben nicht! Es ist nur so ein unbestimmtes Gefühl!“

„Dann such weiter, Gerlinde. Vielleicht findest du ja doch noch etwas?“

Sie ging, und Gerlinde suchte weiter auf dem Boden.

Aber nichts war zu sehen!

Kein Hinweis, keine Spur, und schon gar nicht der Pass des Täters!

Plötzlich war ihr, als ob sie beobachtet wurde.

Sie blickte sich um, konnte aber nichts Auffälliges entdecken.

Überall nur Bäume und Gras, vereinzelte Häuser und einsame Straßenlaternen. Kein neugieriger Blick aus einem der Fenster. Keine Gestalt die hinter einem Baum oder einem Gebüsch, und doch hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden!

 

 

Ein eisiges Frösteln lief an Noras Rücken hinunter.

Ein Frösteln, das ihr seltsam vertraut vorkam. Sie spürte es immer dann, wenn jemand sie beobachtete.

Vorsichtig drehte sie sich um, als sie von Gerlinde sich entfernt hatte, und sah, wie Gerlinde sich umblickte.

Sie spürt es also auch, kombinierte sie. Sie drehte sich zu Anna um, die irritiert um sich blickte. Also merkt es Anna auch, dachte sie, und rief: „Anna! Gerlinde! Kommt mal bitte her“.

Beide Frauen liefen mit eiligen Schritten auf sie zu.

„Hast du was gefunden“, riefen Gerlinde und Anna fast gleichzeitig. Anna grinste über diese unfreiwillige Synchronisation der Stimmen, und bemerkte: „ Vielleicht sollten wir mal als Duett auftreten, Gerlinde?“

„Ja“, pflichtete Gerlinde ihr bei. „Als die „Swinging Witches“, oder als die „morbiden Sisters“.

Nora lachte.

Ich finde es gut, das beide sich so gut verstehen, dachte sie. Wenn ich da an früher denke? Als Gerlinde uns gesagt hatte, das sie mal ein Mann war. Wie wir beide ausgeflippt sind, und erst die Göttin uns durch einen Traum zeigen musste, das Gerlinde genauso ihre Tochter ist wie Anna oder ich!

„Gefunden habe ich auch nichts. Aber ich habe die ganze Zeit das Gefühl, als ob wir beobachtet werden, kann aber niemands entdecken.“

„Genau wie ich“, sagten Anna und Gerlinde fast gleichzeitig.

„Sagt mal, für was übt ihr eigentlich“, fragte Nora, und grinste?

„Dafür, dass wir uns klonen lassen, um aus zwei Personen eine zu machen, um die Bevölkerungsexplosion etwas aufzuhalten“, sagte Anna.

„Stimmt genau“, erwiderte Gerlinde. „Und das wird eine Person mit meinem sinnlichen Körper und Annas sprudelnder Intelligenz sein. Die Menschen werden sich danach reißen, so wie wir auszusehen!“

Plötzlich fingen beide Frauen an zu lachen, und Anna legte ihren Arm um Gerlindes Schulter.

„Ich sag ja, euch zwei kann niemand alleine lassen. Es kommt nur Blödsinn dabei raus!“

Nora grinste, als sie das sagte.

Ich liebe diese beiden verrückten Frauen, dachte sie. Und ich danke der Göttin dafür, das wir zusammen sein können!

„Aber lass uns jetzt einmal zurück zu dem kommen, weswegen wir eigentlich hier sind“. Noras Stimme wurde plötzlich ernst. Sie sah vor ihrem Auge die Sendung im Fernsehen, und sie dachte an all die Frauen, die durch dieses Monster ihr Leben und ihre Würde verloren hatten.

„Du hast recht, Nora“, sagte Anna!

„Dann lass uns darüber nachdenken, wer uns beobachtet“, meinte Gerlinde.

„Gut“, sagte Nora. „Dann lass uns ins Wohnmobil gehen, und etwas trinken. Vielleicht finden wir die Antwort?“

Nora drehte sich um, und öffnete die breite Tür des Wohnmobils. Sie hob ihr rechtes Bein,

und stieg auf die kleine Treppe des Wohnmobils. Anna und Gerlinde folgten ihr. Wenige

Augenblicke später saßen alle drei Frauen um den Tisch auf einer kleinen Eckbank, vor sich ein Glas Orangenlimonade und eine Flasche, die sie kurz vorher aus dem Kühlschrank geholt hatten, und schwiegen.

Sie dachten nach

„Meinst du, dass ein Dämon dahintersteckt“, fragte Nora die anderen Frauen nach einer Weile?

„Kann schon sein“, erwiderte Anna. „Aber bis wir das genau wissen, sollten wir vorsichtig sein.“

Gerlinde sagte nichts.

Sie hing ihren Gedanken nach, Gedanken, die sich um den neuen Fall drehten.

Gedanken, die ihr so unglaublich vorkamen, das sie es nicht wagte, sie Anna und Nora mitzuteilen, aus Angst, sich lächerlich zu machen.

Was ist, wenn die Augen, die uns beobachteten, keine Menschenaugen sind, überlegte sie? Und auch nicht die Augen von Dämonen? Sondern die Augen eines Tieres oder eines Baumes? Ich muss es herausbekommen, bevor ich es beiden sage. Ich muss mir absolut sicher sein, das es ein Baum ist!

„Ich muss mal kurz was nachprüfen gehen“ sagte sie zu Anna und Nora! „Vielleicht können wir dann klarer sehen?“

„Wo gehst du hin“, fragte Nora?“

„Zum Baum am Tatort“, erwiderte Gerlinde, und vermied es, beide Frauen anzusehen.

Sie öffnete die Tür, und ging hinaus.

„Was sie wohl hat“, fragte Anna? „Warum diese Geheimnistuerei? Wenn sie eine Spur hat, kann sie mit uns doch darüber reden?“

„Na, du kennst sie doch, Anna! Sie geht nie ein unnötiges Risiko ein, und sie will sich vermutlich erst sicher sein!“

„Na, vielleicht sollten wir dann so lange warten, bis sie sich sicher ist, und mit uns reden möchte. Und inzwischen könnten wir ja über etwas anderes reden!“

Sie berührte sanft Noras Hand, die sie mit ihren Fingerspitzen streichelte. „Über uns!“

 

 

Gerlinde war aus dem Wohnmobil ausgestiegen. Vorsichtig blickte sie sich um. Einige Kinder spielten auf dem Bürgersteig „Himmel und Hölle“, während andere Kinder, meist Jungen, mit einem Fußball auf einem leerstehenden Rasengrundstück kickten.

Sie lächelte.

Ach ja, die Kindheit, dachte sie. Für viel die schönste Zeit ihres Lebens, für andere die wahre Hölle. Ich wünschte, als Kind hätte ich das erste, und nicht das zweite gehabt!

Sie drehte sich um, und ging in Richtung des Baumes, in dessen Nähe die schreckliche Tat geschehen war.

Sie umfasste die stämmige Birke, und sagte: „Guten Tag, Baum des Lebens und der Reinigung. Ich heiße Gerlinde, und bin eine Tochter der Göttin. Vor kurzem wurde hier eine Frau getötet und vergewaltigt. Wenn du etwas gesehen hast, so bitte ich dich, mir ein Zeichen zu geben, damit ich meine Freundinnen in dem Wohnwagen rufen kann, und wir unsere Magie verbinden, um mit dir sprechen zu können. Ich bitte dich herzlich, mir eine Antwort zu geben.“

Sie spürte die Energien, die der Baum sich aus der Erde holte, und sie spürte die Gedanken, die ihr von dem Baum zuflossen.

„Meine Schwester“, schien der Baum zu sagen. „Ich habe etwas gesehen. Und wenn du deine Schwestern rufst, werde ich euch alles sagen, was ich weiß. Ich heiße übrigens Baruta, und stehe hier seit vielen Jahren. Wenn du etwas Nüsse hättest, die du in den Boden dicht an meinen Wurzeln einpflanzen würdest, und dazu noch etwas Süßes, wäre ich dir sehr

dankbar“.

„Ich werde sehen, was ich tun kann“, erwiderte Gerlinde, und löste ihre Umarmung.

„Bis bald, Baruta!“

Sie drehte sich um.

Ein Blick auf ihre Uhr verriet ihr, dass diese Umarmung etwas über eine halbe Stunde gedauert hatte.

Was wohl die beiden sagen würden, wenn sie erfahren, wer unser Augenzeuge ist? Ich glaube, die zwei werden überrascht sein, überlegte sie.

Sie öffnete die Türe des Wohnmobils, und sah, wie Nora und Anna sich küssten.

Ein Stich ging durch ihr Herz.

„Hallo, ich habe neue Ergebnisse mitgebracht“, sagte sie laut, damit niemand spürte, wie sehr diese Küsse sie schmerzten.

Nora und Anna gingen wie von der Tarantel gestochen, sofort auseinander.

„Es ist nicht so, wie du denkst, Gerlinde“, beeilte sich Nora zu sagen, und bemerkte, wie Anna sie wütend ansah.

„Wie etwas ist oder nicht, geht alleine euch zwei etwas an. Ich bin nur gekommen, weil ich einen Augenzeugen der Tat gefunden habe“.

„Du hast was“, fragte Anna!

„Und wer ist es“, warf Nora ein?

„Ein Baum“, sagte Gerlinde, und lächelte, als sie die bestürzten Gesichter Annas und Noras sah.

„Und deswegen warst du draußen, und hast den Baum gefragt?“

„Genau, Anna! Weil ich mich nicht lächerlich machen wollte, wenn ich mich irren sollte!“

„Worauf warten wir dann noch Schwestern, fragen wir den Baum“, sagte Nora.

„Der Baum heißt Baruta“, erwiderte Gerlinde. „Und er mag Nüsse und was Süßes. Haben wir etwas, was wir ihm geben könnten?“

„Nüsse sind im Schrank, und Marsriegel und Schokolade haben wir auch noch etwas. Ich denke, das müsste reichen für Baruta!“

„Gut“, sagte Gerlinde, dann packen wir es am besten in unsere Taschen, und geben ihm das, was er wünscht!“

„Vor oder nachdem er uns gesagt hat, was er weiß“, fragte Nora? „Ich hab noch nicht so oft mit einem Baum gesprochen, und ich möchte die gesellschaftlichen Regeln der Bäume nicht verletzten“.

„Üblicherweise bekommt der Baum erst dann etwas von uns, wenn er uns etwas gegeben hat. Aber ich denke, hier können wir Baruta auch schon vorher etwas geben, da es eine Weile dauert, bis die Nüsse und der Süßkram in ihm hochsteigen kann, und die letzten Äste erreicht haben.“

„Gut, dann machen wir das so“ entschied Anna, nachdem sie Noras leichtes Nicken bemerkt hatte.

Nora packte, da sie in der Nähe der Schränke stand, alles an Nüssen und Schokolade zusammen, was sie hatten; und gemeinsam verließen sie das Wohnmobil, um zu Baruta, dem Baum, der alles mit angesehen hatte, zu gehen.

 

 

Anna, Gerlinde und Nora stellten sich in einem Kreis um den Baum.

Leise summten sie ein Mantra; und zum Ende jeder vollendeten Strophe näherten sie sich dem Baum. Noras Hände umfassten den Baum, Anna und Gerlinde folgten ihr.

Sie verbanden ihre Seelen mit dem Baum, und spürten Barutas Wärme, die langsam aus dem Boden zu ihnen hochstieg.

„Baruta“, sagte Nora, „  wir sind hier, um dich zu fragen. Eine Frau ist hier gestorben. Eine junge Frau, die Zeitungen ausgeteilt hatte. Hast du etwas gesehen?“

„Ich habe, Töchter der Göttin“, spürten Nora, Anna und Gerlinde die Antwort der Birke.

„Und was hast du gesehen?“

„Ich habe gesehen, wie ein Mann eine Frau von ihrem Fahrrad gerissen hat. Er war etwas klein und ein wenig dick, und sein Gesicht war nicht zu sehen, denn er trug eine dunkle Mütze mit zwei Löchern auf seinem Kopf. Er fuhr einen Lieferwagen, auf dem ein Schweinekopf und ein Rinderkopf waren.“

„War außerdem noch etwas Besonderes an dem Wagen?“

Nora spürte, wie die Birke nachdachte.

Fragend blickten sie Anna und Gerlinde an. Nora zuckte leicht mit ihren Schultern.

Sie entschloss sich, zu warten, bis Baruta wieder redete. Und kurze Zeit später, spürte Nora, wie Baruta sich regte.

„Ich glaube, der Mann hatte nach Vanille und Krokus gerochen“, spürten alle drei Frauen die Antwort Barutas.

„Gibt es sonst noch etwas, an was du dich erinnern kannst?“

„Nein, Schwestern!“

„Ich danke dir, Schwester“, sagten Noras Gedanken, und die Frauen lösten ihre Umarmung. Sie ließen die Energien Barutas wieder in die Erde fließen, und schwiegen.

„Jetzt müssen wir nur noch nach dem Wagen suchen, und dann wird es leicht sein, den Täter dingfest zu machen.“

„Okay, dann lasst uns in den Gelben Seiten der Stadt Potsdam ansehen“, sagte Anna. „Es muss ein Fleischerwagen gewesen sein, und die haben oft genug ihre Embleme auch in ihren Werbungen!“

„Am besten ist, wir fahren zur nächsten Telefonzelle“, sagte Gerlinde, und blickte sich um. Aber sie sah weit und breit keine Telefonzelle. Werder eine, die ganz, noch eine, die kaputt war!

Sie gingen zu ihrem Wohnmobil, und stiegen ein.

Anna setzte sich hinter das Steuer, drehte den Zündschlüssel um, und schaltete die Kupplung. Mit einer langsamen Bewegung setzte sich das Wohnmobil in Bewegung. Nora, die auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte, blickte sich während sie die einzelnen Straßen passierten, nach einer Telefonzelle um.

Da!

War da nicht in dieser kleinen Seitenstraße ein Telefonhäuschen?

Sie strengte ihre jungen Augen weiter an.

Sie fuhren an der Seitenstraße vorbei.

„Halt an“, schrie sie zu Anna. „Da hinten ist ein Telefonhäuschen!“

Langsam setzte Anna das Wohnmobil zurück, um in die Querstraße, die zur Seitenstraße führte, einzubiegen. Plötzlich bemerkte sie das runde rote Schild, in deren Mitte sie einen weißen Querbalken sah.

„Mist, wir können da nicht reinfahren“, sagte Anna. „Am besten ist wohl, wenn wir den Wagen hier stehen lassen, und die paar Schritte dorthin laufen!“

Sie hielt das Wohnmobil an, zog den Zündschlüssel heraus, und legte die Kupplung in den Leerlauf. Sie öffnete die Fahrertür, und stieg aus. Nora und Gerlinde folgten ihr.

Plötzlich fuhr ein Lieferwagen an ihnen vorbei.

Gerlindes Herz stockte, und entspannte sich sofort wieder, als sie erkannte, dass es ein Wäschereiwagen war, der an ihnen vorbeifuhr.

„Na, meinst du, dass du das nächste Opfer dieses Irren wirst“, sagte Anna, und lachte!

Du bist gut, Anna, dachte Gerlinde! Wir sind in der Stadt eines mörderischen Frauenkillers,

und du machst auch noch Witze!

Wenige Minuten später waren sie an der Telefonzelle angelangt.

Zwei der vier Scheiben waren zerbrochen, und der Hörer des Telefons war, das sahen sie schon von weitem, herausgerissen worden, und verschwunden.

Nora öffnete die Tür.

Der permanente Geruch nach Urin, und einige leicht zerfledderte Telefonbücher, die an einer

Kette hingen, waren das Einzigste, was sie erblicken konnten, wenn man einmal von den

Graffitischmierereinen absah.

Nora betrat, mit leicht zugehaltener Nase und angewidertem Gesicht, die Zelle. Eines der Bücher waren die gelben Seiten der Stadt Potsdam. Nora blätterte sie durch. Schnell fand sie die Seiten der Fleischereifachgeschäfte, und lächelte innerlich über die oft einfallslose Werbung.

Einige Augenblicke später entdeckte sie die Werbung einer Metzgerei. Ein prachtvoller Schweinskopf stand eng angelegt neben dem mächtigen Kopf eines Rinderbullen, in dessen Nüstern ein riesiger Ring steckte. Sich griff in ihre Jackentasche, und holte einen kleinen Block und einen blauen Kugelschreiber hervor, und schrieb die Adresse auf.

„Hast du die Adresse“, fragte Anna?

Nora nickte, und sie sah, wie Gerlinde erleichtert aufatmete.

„Gut, dann lass uns sofort hinfahren“, sagte Anna!

Wenige Augenblicke später fuhr das Wohnmobil in Richtung Babelsberg.

 

 

Sie hatten das Wohnmobil in der Nähe des Geschäftes geparkt.

Nah genug, um alles beobachten zu können, und doch weit genug, um selbst nicht bemerkt zu werden.

Sie sahen, wie eine Kundin der Metzgerei gerade die Tür öffnete, und auf die belebte Straße trat. Sie zog den Kragen ihres grauen Trenchcoats in die Höhe, so dass ihr Hals vor dem böigen Wind geschützt war, der säuselnd durch die Straßen pfiff.

Eine junge, leicht korpulente Frau mit einer Schürze aus Leinen, bediente eine Kundin, die gerade zu ihr etwas sagte. Die Verkäuferin drehte ihren Kopf nach rechts, wo sich eine große Schiebetür befand, die halb offen war.

Ein Mann erschien. Klein, dick, und mit schütterem blondem Haar. Er trug einen sauberen weißen Kittel und eine blutverschmierte Gummischürze. Die Frau sagte etwas zu ihm. Er zuckte zusammen, senkte seinen Blick zum Boden des Geschäftes.

„Vielleicht wäre es gut, wenn wir wissen könnten, was die da besprechen“, meinte Gerlinde? „ Die Lady scheint den Typen ja echt fertig zu machen!“

Anna stieß Nora an.

“, Ich glaube, das ist der Täter”, stieß sie aus. „Die Beschreibung von Baruta, unserem Baumzeugen, passt doch auf ihn!“

„Ja, und auf Tausend andere“, erwiderte Nora. „Wir müssen erst einmal genau wissen, ob die beiden die Einzigen im Geschäft sind, oder ob noch andere da arbeiten, auf die diese Beschreibung zutrifft!“

„ Da wird es wohl am besten sein“, sagte Anna, „ wenn ich wieder einmal als Gespenst von Babelsberg unterwegs bin!“

Sie blickte Nora und Gerlinde an, die lautlos nickten.

Anna begann, sich in Trance zu versetzen.

Sie visualisierte vor ihren geistigen Augen einen Ball, groß und rund. Dann wurde der Ball rot, blau und grün. Sie stellte sich vor, ein riesiger Baum zu sein, deren Wurzeln von der Erde durch das Wohnmobil in ihren Körper floss. Ihre Augen wurden schwer. Ihre Arme wurden schwer, ihr Körper wurde schwer. Der Atem wurde immer flacher, bis er kaum noch zu hören war. Ihr Körper sackte in sich auf dem Beifahrersitz zusammen. Ihr Geist löste sich aus dem

Körper, und ging durch die verschlossene Tür des Wohnmobils.

Wenige Augenblicke später sahen Gerlinde und Nora, wie Annas Geist durch die Mauer der Metzgerei verschwand.

„Viel Glück, Anna“, flüsterte Gerlinde leise. „Komm gesund zurück“.

Nora hörte ihre Worte nicht, und bemerkte auch nicht, wie Gerlinde verstohlen ihr

Schutzpentagramm aus massivem Silber berührte, das sie an einer ledernen Kette immer bei

sich trug.

„Komm gesund zurück, Anna“, flüsterte sie erneut!

 

 

Anna blickte sich um.

Der Raum war sauber und kahl.

Blank geputzte milchige Fliesen klebten an den Wänden. In der Mitte standen zwei große Tische mit abwaschbaren Platten, an deren linken oberen Ecke jeweils ein riesiger Messerblock mit Messern unterschiedlicher Größe stand. Einige Schritte vor ihr war eine große Eisentür, die gerade von einem schmächtigen jungen Mann geöffnet wurde, der ein halbes Schwein auf seinem Rücken trug. Ein eisiger Hauch von Kälte folgte ihm.

Der Kühlraum!

Der junge Mann warf das halbe Schwein elegant auf den Tisch, rückte es zurecht, nahm ein Messer aus dem Messerblock, und begann, mit Hilfe einer Säge und des Messers, das halbe Schwein zu zerkleinern.

Der Mann aus dem Laden erschien.

„Norbert, kannst du, wenn das Schwein zerlegt ist, noch die Mettwurst vorbereiten? Ich muss noch mal kurz weg!“

„In Ordnung, Meister, erwiderte der Angesprochene. „Soll ich die Wurst mit oder ohne Senfkörner machen?“

„Ohne! Du weißt doch, das die Chefin Senfkörner nicht leiden kann!“

„Und da ihr der Laden gehört, müssen wir das tun, was sie will, egal, was die Kunden auch wollen“, erwiderte Norbert grinsend.

Anna spürte, wie Norberts Chef etwas erwidern wollte, und sie sah, wie er sich auf die Lippen biss.

Ein kleiner Feigling, dein Chef, mein Kleiner, überlegte sie. Und ich verwette meinen fetten Arsch, das du, weil du dich nicht wagst, gegen deine Göttergattin dich zu wehren, du dir in der Nacht Frauen schnappst, diese vergewaltigst und tötest, das aber eigentlich lieber mit deiner Frau machen willst!

Dafür gab’s in der Kriminalgeschichte mehr als genug Beispiele!

Sie beobachtete, wie der kleine dicke Mann in einen anderen Raum verschwand. Sie folgte ihm, und sah, wie er sich einen Schlüssel griff, der an der Wand auf einem Haken hing. Er öffnete eine Tür, und gelangte durch sie in die Garage, wo ein Lieferwagen der Metzgerei stand. Sie folgte ihm, als er auf den Lieferwagen zuging, diesen aufschloss, und den Motor laufen ließ.

So schnell sie konnte, kehrte sie zu dem Wohnwagen und in ihren Körper zurück, und sagte: „Nora, mach schnell! Er will wegfahren!“

Nora drehte den Motorschlüssel um.

Sie sah, wie der Lieferwagen der Metzgerei aus der Einfahrt in den fließenden Verkehr rechts einbog. Ein leises Brummen des Motors zeigte ihr an, das der Motor angesprungen war, und nachdem ihr ein Blick in den Außenspiegel versicherte, dass sie sich in den fließenden Verkehr einscheren konnte, fuhr sie los.

Der Lieferwagen fuhr schnell und sicher. Nora hatte Mühe, ihm zu folgen.

Dann, sie hatten die Innenstadt schon längst verlassen, und waren aufs flache Land gefahren, scherte der Lieferwagen plötzlich aus, und bog in einen kleinen Feldweg ein, deren

ungepflegtes Aussehen Nora verriet; das seit langem niemand hier etwas getan hatte.

Sie bogen ebenfalls in den Feldweg ein, und drosselten die Geschwindigkeit. Langsam, mit den leisen Pfoten einer Katze, fuhren sie vorwärts, und blickten sich um.

Es war in der Zwischenzeit schon etwas dunkel geworden. Die ersten gelblich-violetten Farbtöne, die eine klare Nacht ankündigten, wurden sichtbar, als sie nach links in einen noch kleineren Waldweg einbogen.

Nichts war zu sehen, außer ein altes Bauernhaus, dessen Dach undicht und zerfallen war. Der

Lieferwagen hielt auf den Bauernhof zu, und hielt an. Der Mann stieg aus, und verschwand in dem zerfallenen, und schon von weitem übel riechendem morschem Holz, dessen grüne Farbe

vom Zahn der Zeit zeugte.

„Sollen wir ihm nachgehen, um zu sehen, was er da treibt“, fragte Gerlinde?

„Besser nicht“, erwiderte Anna. „Was ist, wenn er jeden Moment herauskommt, und wir ihm direkt in die Arme fallen?“

„Dann könnten wir zeigen, wie gut wir auf einhundert Meter im Sprint sind“, sagte Nora, und lächelte bei der Vorstellung, wie sich Gerlindes voluminöser Körper in diesem Falle verhalten würde.

Der kleine Mann kam aus dem Bauernhof heraus. In der Hand hielt er eine kleine Plastiktüte.

„Da ist bestimmt die Maske und das Messer drin, mit dem er seine Opfer tötet“, sagte Anna. „Ich fresse einen Besen, wenn es heute Nacht nicht wieder einmal losgeht!“

Nora und Gerlinde stimmten ihr wortlos zu.

„Das bedeutet also, dass wir den Typen die ganze Zeit überwachen müssen“, sagte Anna.

„Das Problem ist nur, das, wenn ich mich andauernd aus meinen Körper transferiere, das ganz schön an die Substanz geht, und ich das nicht unbegrenzt durchhalten kann. Also müssen wir uns was anderes ausdenken!“

„Was hältst du davon, wenn eine von uns sich in die Nähe der Wohnung schleicht, und die andere hier draußen Wache im Wagen schiebt?“

„Gerlinde könnte im Wagen sein, und du dich hineinschleichen, Nora. Denn wenn er dich erwichen sollte, kannst du dich durch die Gabe, die dir von der Göttin geschenkt wurde, immer noch wehren“, sagte Anna, und blickte Nora zärtlich an.

Nora wich ihrem Blick aus.

„Ist was“, sagte Anna, und blickte Nora fragend an?

„Nichts“, erwiderte Nora ausweichend. „Was soll denn sein?“

„Nun, es sah so aus, als ob es da etwas geben würde“.

Ohne auf Annas Bemerkung einzugehen, stieg Nora aus.

Irritiert blickte ihr Anna nach.

Was soll das, dachte sie?

Wenn sie nichts mehr von mir will, soll sie es doch sagen! Verdammt, kann sie denn nicht mit mir reden? Bin ich den so furchtbar?

„Manchmal bist du schon ganz schön kompliziert, meine Tochter“, hörte sie die vertraute Stimme der Göttin, die nur zu ihr sprach. „Und manchmal wollen Menschen anderen Menschen nicht weh tun, weil ihnen an den Menschen etwas liegt!“

„Also war ich für sie nur ein Experiment! Etwas, um ihre lesbischen Anteile kennen zu lernen.“

„Nein, meine Tochter! Du bist für sie viel mehr als das! Sie weiß nur noch nicht, ob sie dich auch seelisch liebt, und dazu hat sie noch Angst, diskriminiert zu werden, wenn ihr ein Paar währet! Lass ihr Zeit, für sich selbst die Antwort zu finden, hinter der sie voll und ganz stehen kann. Und dann wird sich alles klären!“

Anna sah, wie Nora im Dämmerlicht des frühen Abends verschwand.

Wir sollten uns für unseren nächsten Auftrag vielleicht etwas technisches Equipment kaufen, damit wir uns verständigen können, überlegte sie?

„Was willst Du machen, Anna“, fragte sie Gerlinde?

„Ich gehe an die Einfahrt, und sehe, ob sich was tut“.

„Wäre es nicht besser, Nora zu sichern, die sich alleine in der Nähe des mutmaßlichen Mörders befindet?“

„Wer von uns beiden ist der Profi“, sagte Anna, die mühsam ihren Ärger über Gerlindes

unausgesprochene Kritik verbergen konnte. „Du oder ich?“

„Du natürlich“, entgegnete Gerlinde.

„Dann ist ja gut!“

Sie stieg aus dem Wohnmobil aus, und ging zur Einfahrt der Metzgerei.

Vielleicht hat Gerlinde doch recht, und ich sollte Nora absichern, überlegte sie.

Nora!

Du bringst mich zum lachen, und wegen dir bin ich irritiert und verwirrt. Ich wollte mich nie in eine Hete verlieben, denn aus bitterer Erfahrung weiß ich ja, das es selten ein Happy End für solche Beziehungen gibt! Und nun ist sie verwirrt, weil sie nicht weißt, was sie will oder ist! Und wenn sie Zeit brauchst, soll sie die auch haben!

Sie war an dem verschlossenen Tor der Einfahrt angekommen.

Sie bemerkte dass sie dieses Schloss leicht knacken konnte, und holte ihre Sammlung von Dietrichen hervor, und zwei Sekunden später öffnete sie die leicht quietschende Tür. Vorsichtig schloss sie diese wieder, und blickte sich um.

Durch ein Fenster des Treppenhauses der Wohnanlage sah sie, wie Nora sich vorsichtig in Richtung der Wohnungstür der Inhaberin der Metzgerei bewegte. Sie erblickte Anna, und Anna deutete ihr an, dass sie auf sie warten sollte.

Schnell, aber doch nahezu lautlos lief Anna die Treppen des Hauses hoch, bis sie bei Nora angekommen war.

„Was hast du vor“, flüsterte Anna?

„Hören, ob sich bei denen was tut“.

„Das ist verdammt gefährlich hier“, erwiderte Anna. „Wenn uns irgendjemand sieht, dann sind wir wegen Hausfriedensbruch dran, und mit etwas Glück auch noch wegen Einbruchs!“

„Und was schlägst du statt dessen vor?“

„Das wir von hier ne Fliege machen, und uns unten im Hof der Einfahrt verstecken, wo wir früh genug mitbekommen können, wann er verduften wird!“

Plötzlich hörten beide ein lautes Poltern.

„Du Jammerlappen, du Nichtskönner! Was vergeude ich mit dir nur meine Zeit?“

Die weibliche Stimme, die diese Worte ausgestoßen hatte, wurde laut und schrill.

„Ja Liebling“, hörten beide Frauen die Stimme eines Mannes, vermutlich die des Ehemannes.

„Verschwinde aus meinen Augen, bevor ich mich vergesse!“

Sie hörten das klatschen zweier Backpfeifen und das Stöhnen eines Mannes.

„Bist du noch nicht verschwunden? Aber dalli, mein Freund!“

„Wir müssen hier raus“, sagte Anna, und riss Nora mit sich in den toten Winkel einer Ecke. Gerade noch rechtzeitig!

Die Türe öffnete sich, und der Mann, der sich gerade eine Jacke übergeworfen hatte, rannte die Treppe herunter. Er ging in den Laden.

Anna rannte sofort in den Hof der Einfahrt, und Nora, die ihr folgte, sagte: „Meinst du, er wird jetzt was tun?“

„Bei der Frau wundert es mich nicht, dass er seinen Hass auf seine Frau nicht bei ihr, sondern bei anderen Frauen auslebt. Denn gegen die ist selbst Herkules ein armes Würstchen!“

Anna öffnete leise die Eingangstür der Einfahrt, und lief mit Nora zum Wohnmobil.

Nora setzte sich auf den Fahrersitz, und Anna saß neben ihr.

„Was ist los“, fragte Gerlinde?

„Es geht jetzt los“, sagte Anna. „ Seine Frau hat ihn heruntergeputzt. Und so wütend, wie er in den Laden seiner Frau gegangen ist, wird er garantiert eine Frau töten wollen!“

„Meinst du etwa, nur weil seine Frau mies zu ihm ist, hat er das Recht, als Ersatz anderen

Frauen das Leben zu nehmen?“

Gerlinde war bei ihren Worten wütend geworden.

Wie konnte Anna nur so denken, dachte sie?

Weiß sie denn nicht, das er andere Möglichkeiten gehabt hätte? Scheidung! Sie verlassen?

Eine Geliebte? Das Geschäft zu ruinieren! Er hätte niemand zu töten brauchen! Nur weil Männer mit starken und selbstbewussten Frauen nicht zu Rande kommen, meinen sie, das Recht zu haben, diese oder andere Frauen als Ersatz zu töten?

Das Tor der Einfahrt der Metzgerei öffnete sich.

Der kleine dicke Ehemann der Inhaberin der Metzgerei öffnete das Tor, und verschwand in die Dunkelheit des Hofes. Wenige Augenblicke später fuhr der Lieferwagen der Metzgerei aus der Einfahrt heraus und in die leere Straße ein.

„Na, dann los“, sagte Anna, und Nora stellte den Motor an.

 

 

Sie waren schon eine Stunde unterwegs, doch nichts geschah.

Ziellos schien der Metzgermeister umherzufahren, und hielt nur kurz an einem Autobahnrastplatz an, wo er auf Toilette ging.

Gerlinde dachte, während Anna und Nora den Wagen intensiv beobachteten, über das nach, was Anna auf ihre Frage geantwortet hatte, als sie begonnen hatten, den Wagen zu verfolgen.

„Natürlich hat er in keinster Weise das Recht, einem anderen Menschen etwas anzutun, nur weil seine Frau ihn so mies behandelt! Nur haben viele Gerichtsurteile gezeigt, dass Männer oft einen Frauenhass deshalb haben, weil sie von einer Frau, meist der Mutter oder der Ehefrau, schlecht behandelt wurden. Es entschuldigt in keinster Weise die Tat, macht sie aber für mich erklärbar!“

Ihre Gedanken wanderten in ihre Kindheit zurück.

Zu ihrem Vater, der sie, ihre Schwester und ihre Mutter dauernd schlug und vergewaltigte. Zu den Männern der Mormonen, die sie ausschlossen, weil sie das öffentlich machen wollte. Zu dem Richter, der sie für viele Jahre ins Gefängnis brachte, weil sie ihren Vater nach all den Jahren des Martyriums getötet hatte. Und zu ihrer Familie, die sie deswegen verstoßen hatte!

Ist das wirklich so einfach, Anna, überlegte sie?

Ist es nicht viel komplizierter?

Ist es nicht eher wie eine „Spirale der Gewalt“?

Mann unterdrückt Frau, Frau unterdrückt Kind, das wiederum Frau oder Mann wird, und auf Grund eigener Erfahrungen dann das eigene oder das andere Geschlecht mies behandelt? Der Selbsthass vieler Frauen, der Frauenhass vieler Frauen resultiert doch daraus! Eine Gesellschaft, die Frauen immer noch als zweitrangig und unwichtiger als Männer ansieht, ist doch prädestiniert dafür, einen Frauenhass zu haben. Und Frauen, die daraus ausbrechen wollen, wie Lesben, erleben doch, wie sehr sie diskriminiert werden!

Der Lieferwagen hielt in der Nähe einer dicht bewaldeten Wohngegend an.

Das Wohnmobil innerhalb eines großen Abstandes ebenfalls.

Die Lichter des Lieferwagens gingen aus, und Nora sah, wie der Wagen sich langsam weiterbewegte, ohne dass der Motor angestellt worden war.

Der Lieferwagen verschwand im Dickicht eines Gebüschs.

„Mach die Lichter aus“, sagte Anna!

„Warum?“

„Weil wir nicht auffallen dürfen, meine Liebe“, sagte Anna in leicht sarkastischem Unterton.

„Meinst du, dass er uns bemerkt hat“, fragte Gerlinde?

„Schon möglich“, erwiderte Anna. „Aber auch wenn nicht, bin ich mir sicher, dass wir hier richtig sind. Er wird auf sein Opfer warten. Entweder war er schon früher hier, und hat sein Opfer ausgespäht, oder es waren alles Zufallsopfer. Die falsche Frau zur falschen Zeit am falschen Ort!“

Nora schaltete alle Lichter aus, auch das, das das Innere des Wohnmobils erleuchtete.

„Sicher ist sicher“, sagte sie, und bemerkte, wie Anna zustimmend nickte.

Anna, warum ist das alles nur so kompliziert mit uns?

Warum konntest du kein Mann sein?

„Weil sie eine Frau ist, die Frauen liebt, Nora“, hörte sie in ihrem Ohr die vertraute Stimme

der Göttin. „ Und weil du bisher nur Männer liebtest, und deine Identität und deine gesellschaftliche Anerkennung dadurch bekamst. Und nun kommt eine Lesbe, und verwirrt dich und deine Sicherheit! Und du weißt nicht, wie du damit umgehen willst! Dabei ist es doch so einfach, meine Tochter! Liebst du ihren Körper, begehrst du nicht sie und ihre Seele, bist du nicht lesbisch oder bisexuell! Wenn dem so ist, solltest du aber so ehrlich sein, und es ihr sagen.“

„Und wenn dem nicht so ist?“

„Dann, meine Tochter, gibt es nur noch eines zu sagen: „Herzlichen Glückwunsch, du bist lesbisch oder bisexuell!“

„Wenn das nur so einfach wäre! Ich weiß ja selbst nicht, was ich fühle!“

„Dann finde es heraus, meine Tochter!“

Eine alte Frau fuhr mit einem klapprigen Damenfahrrad an ihnen vorbei. Sie sang einen alten Schlager, vermutlich, um ihre Angst zu bekämpfen. Die Angst vor der Dunkelheit, die Angst vor dem Serienvergewaltiger und Mörder, der in aller Munde war.

„Was haltet ihr davon, die Polizei zu rufen, damit die ihn auf frischer Tat ertappen kann“, fragte Gerlinde, die wie immer auf Nummer Sicher gehen wollte?

„Damit die uns alles versauen, wenn die mit Blaulicht und Sirene hier ankommen, und der Täter wieder frei kommt?“

„Du musst doch nicht so sauer auf deine ehemaligen Kollegen sein, Anna“, sagte Nora beschwichtigend.

Plötzlich hörten sie Hilfeschreie. Die Hilfeschreie einer Frau.

„Es ist soweit“, sagte Anna, und sprang aus dem Wohnmobil. Nora und Gerlinde folgten ihr.

Sie liefen in Richtung der Schreie, die aus dem kleinen Wäldchen zu kommen schienen. Wenige hundert Meter weiter sahen sie, wie die vermummte Gestalt des Metzgermeisters, die ganz in schwarz gekleidet war, versuchte, die Beine der Frau, die sie vor kurzem noch auf dem Fahrrad sahen, auseinander pressen wollte. In der Hand hielt er einen abgerundeten Holzknüppel, der von einem Präservativ umhüllt war.

„Darum gab es also keine Spermaspuren“, sagte Anna. „Das Schwein hat den Knüppel benutzt, um eine Vergewaltigung vorzutäuschen!“

„Oder um sie ohne Spuren zu vergewaltigen, und sie so zu demütigen“, sagte Gerlinde atemlos.

Ihr fiel das Laufen schwer, hatte sie doch so viel an Gewicht mit sich zu tragen.

„He, sie da“, rief Nora, „hören sie damit auf, oder sie werden feststellen, das Frauen sich auch wehren können“.

Der maskierte Metzgermeister drehte sich um.

„Ist ja toll! Ne Menge Fotzen, die ich zur Hölle schicken kann“, sagte er.

„Ach, haben sie aber eine gewählte Ausdrucksform, Herr Metzgermeister“, sagte Gerlinde. „Bestimmt bekommen sie dafür von ihrer Frau auch genug Streicheleinheiten!“

Der Maskierte wurde wütend.

Er vergaß die Frau, über die er vor wenigen Augenblicken noch herfallen wollte, und die zusammengekauert und ängstlich auf dem Boden lag, unfähig, auch nur den geringsten Muskel zu bewegen um zu fliehen. Sein einziges Augenmerk lag bei Gerlinde, die ihn beleidigt hatte, und ihn an den Menschen erinnerte, den er am meisten hasste: seine Frau!

„Stirb, Fotze“, schrie er, und stürzte sich auf Gerlinde, die, was niemand ihr zugetraut hätte, mit einer blitzschnellen Bewegung seinem Angriff auswich, und ihn an seinem Hals mit einem gezielten Handkantenschlag zu Boden streckte.

„Schlaf gut“, sagte sie, und ging zu Anna und Nora, die sie fragte: „Und was sollen wir jetzt tun, Schwestern?“

„Deine heißgeliebten Bullen rufen“, sagte Anna, und griff in die Innentasche ihrer schwarzen Jeansjacke, wo sich ihr Handy befand. Während sie die Polizeidienststelle davon informierte,

das der Serienmörder gefasst sei, ging Nora zu der vor Angst kauenden Frau, und beruhigte sie.

Gerlinde stand bei dem Maskierten.

Plötzlich fühlte sie, wie Neugierde in ihr hochstieg.

Warum macht er das alles, fragte sie sich?

Was treibt ihn dazu, Frauen zu töten und zu vergewaltigen? Ist es wirklich seine Frau, wie Anna vermutet?

Sie berührte leicht seine Schulter, die offen sich ihr entgegenstreckte.

Plötzlich wurde es in ihr dunkel.

Sie sah einen Mann, der auf eine Frau einschlug, und einen kleinen Jungen, der das beobachtete! Sie hörte die Worte des Mannes, die er zu dem Jungen sagte: „ Denk immer daran, mein Sohn, das Männer über Frauen bestimmen, und nicht umgekehrt! Wenn ein Mann das zulässt, ist er kein Mann mehr!“

Sie ließ die Schulter los.

Das also war es, was ihn immer getrieben hatte, überlegte sie!

Dieses verquere Männerbild, das sein Vater ihm vermittelt hatte! Seine Frau war also nur der Auslöser, aber die Ursache liegt in diesem Männerbild, das ihm von klein auf an vermittelt wurde! Ein frauenfeindliches Bild, das davon lebt, das Männer die Macht über uns haben müssen, um sich als Männer definieren zu können! Das ist krank! Pervers und krank!

„Die ehemaligen Kollegen kommen in wenigen Augenblicken“, sagte Anna, die neben Gerlinde stand, was diese nicht bemerkt hatte. „Hast du was über den Typen herausbekommen?“

„Ja“.

„Und was?“

„Er hat das fortgeführt, was sein Vater ihm von klein auf an beigebracht hatte. Er ist weder verrückt noch geistig krank. Er wusste genau, was er tat!“

„Na, das wird die Gerichte aber freuen!“

Nora kam mit der Frau, der sie ihren warmen Wollmantel aus dem Wohnmobil geholt hatte, auf Anna und Gerlinde zu.

„Na, ist er immer noch bewusstlos?“

Aber sicher doch“, sagte Gerlinde. „Oder meinst du, er hätte auch nur die geringste Chance gegen einhundertzwanzig Kilo Lebendgewicht gehabt?“

„Nee“, eher wohl mit einem Autobus“, frotzelte Anna, deren Anspannung sich langsam legte.

„Vielen Dank für deinen hinreißenden Charme, meine Liebe“, sagte Gerlinde, und grinste. „Es ist doch immer wieder erhebend zu sehen, wenn wahre Qualität rechtzeitig erkannt wird!“

„Darf ich euch Monika Jensen vorstellen. Sie war mit dem Fahrrad gerade nach Hause zu Mann und Kindern unterwegs, und möchte sich bei uns für die Hilfe bedanken“, sagte Nora.

„Aber das ist doch nicht nötig“, sagten Anna und Gerlinde fast gleichzeitig.

„Unsere Lesbian Sisters sind wieder unterwegs“, sagte Nora grinsend.

„Und diesmal ohne Massenpublikum“, fügte Anna hinzu.

„Dafür aber mit gutem Ergebnis“, sagte Gerlinde, und drückte Monika die Hand. „Ich heiße Gerlinde, das ist Anna, und Nora kennst du ja schon.

Anna blickte Nora und Gerlinde fragend an. Wortlos nickten alle zwei. Monika“, begann Anna die Angesprochene anzureden. „Es ist wichtig, das niemand erfährt, wer wir sind. Und deshalb möchten wir dich bitten, dass du der Polizei sagst, dass er dich angegriffen hat, und du dich gegen ihn gewehrt hast. Würdest du das für uns tun?“

„Und was ist mit der Belohnung“, fragte Monika? Die steht euch doch zu!“

„Die wollen wir aber nicht! Nimm du sie doch, oder wenn du sie nicht willst, spende sie an ein Frauenhaus oder einer Organisation, die sich mit missbrauchten Kindern oder vergewaltigten Frauen beschäftigt!“

„Gute Idee“, erwiderte Monika. „Genau das werde ich tun!“

Sie hörten in der Ferne die Sirenen der herbeieilenden Polizeiwagen, die mit einer rasenden Geschwindigkeit herankamen.

„Zeit zu verduften“, sagte Anna, und drückte Monika leicht. „Pass gut auf dich auf“, sagte sie

„Ihr auch“, erwiderte Monika, und schrie plötzlich auf.

Der maskierte Metzgermeister stöhnte, und rieb sich seinen schmerzenden Hals.

Anna drehte sich um, und drückte mit ihrem rechten Zeigefinger auf einen Punkt an seinem Hals. Sofort sackte er wie ein nasser Sack ein.

„Das reicht für ne Weile, Monika“, sagte sie, und lief Nora und Gerlinde nach, die sie kaum noch sehen konnte.

 „Auftrag erledigt“, sagte Nora, und lächelte.

Schweigend saßen sie in ihrem Wohnmobil, wartend darauf, das die Polizei ihre Tatortarbeit gemacht, und verschwunden war, damit auch sie diesen Ort ohne Aufsehen zu erregen, verlassen konnten!

Zwei Stunden später war es dann soweit, und sie fuhren los.

Noras Hand ging zum Radio des Wohnmobils, wo sie am Senderknopf drehte. Sie hatte Lust auf etwas Musik, die ihr helfen sollte, die innere Anspannung zu lösen. Sie hatten zwar ihren Auftrag erfolgreich beendet, und einen Vergewaltiger und Mörder geholfen, dingfest zu machen, aber sie wusste, dass etwas noch unerledigt war.

Anna!

Was soll ich nur machen, dachte sie?

Ein Teil von mir begehrt sie, möchte auch die Anna kennen lernen, die nicht an Sex interessiert ist! Während ein anderer Teil panische Angst davor hat, eine Lesbe zu sein.

Was bin ich?

Im Radio ertönte ein Klavierkonzert von Tschaikowski. Die vollen, gewaltigen Töne spiegelten ihre innersten Gefühle von Aufgewühltheit wieder, das spürte sie genau.

„Sag mal, kannst du nicht was Moderneres einstellen“, fragte sie Anna? „Jazz oder Schlager vielleicht?

„Aber wenn es mir gefällt?“

„Wir sind zu dritt hier, und da zählt nicht nur dein Geschmack!“ Anna drehte sich zu Gerlinde um, die am Tisch des Wohnmobils saß, und im Buch der Schatten vertieft war, dass sie sicherheitshalber mitgebracht hatte. „Sag mal, Gerlinde. Was würdest du denn am liebsten hören?“

„Mir ist es gleich! Hauptsache, es gefällt euch beiden, und es gibt keinen Streit deswegen!“

„Keinen Streit? Wer streitet denn hier“, rief Anna wütend aus? „Nur weil ich meine Meinung sage, streite ich?“

Anna wurde wütend!

Was will ich denn, dachte sie?

Ich wollte doch nur etwas anderes hören, weil ich Klassik nicht mag. Und anstatt meine Meinung zu bestätigen, wirft sie mir vor, das ich streiten würde! Streiten! Ich? Wegen Musik? Niemals!!!

„Doch Anna, du streitest“, sagte Gerlinde ruhig! „Was ist denn so schlimm dabei, wenn Nora klassische Musik hören will? Vielleicht braucht sie das bei ihrer momentanen Gemütslage?“

„Bei meiner Gemütslage“, fragte Nora? „Was meinst du damit?“

„Nora, mir ist aufgefallen, dass du in deinem Innersten mit etwas kämpfst. Ich weiß zwar nicht, um was, und es geht mich auch nichts an, aber ich kann es mir schon denken, was dich so

beschäftigt! Aber das ist deine Sache, ob und mit wem du darüber reden willst oder nicht! Nur solltest du nicht denken, dass niemand das weiß, was in dir vorgeht! Nicht nur du bist eine Hexe!“

Betroffen senkte Nora ihren Kopf zum Boden.

Ob Gerlinde weiß, was in mir vorgeht, überlegte sie?

Sie hat so ne komische Andeutung gemacht. Himmel, was soll ich nur tun?

Sie wollte in Annas Gesicht blicken, doch diese hatte ihr Gesicht auf den Boden gesenkt, und sie spürte, dass es in Annas Gesichtsmuskeln arbeitete. Sie ist wütend, dachte Nora! Wütend auf mich oder wütend auf sich selbst und ihre blöde Rechthaberei?

Es fiel ich sehr schwer, sich auf den Straßenverkehr zu konzentrieren. Fast hätte sie den roten VW nicht gesehen, der in ihre Fahrbahn einscheren wollte. Sie bremste, und mit einem Ruck flog sie nach vorne, nur gehalten durch den Sicherheitsgurt des Wohnmobils.

„Scheiße“, sagte Anna! „Kannst du nicht vorsichtiger fahren? Ich hab die letzte Rate meiner Lebensversicherung noch nicht bezahlt, und außerdem hänge ich an meinem Alabasterkörper!“

Plötzlich lachte Gerlinde!

„Wohl neidisch, Schwester“, fragte Anna?

„Nee, aber glücklich, das es an mir so viel zum lieb haben gibt“, erwiderte Gerlinde, und stieß Anna leicht in die Seite. „Oder meinst du nicht auch?“

„Naja“, erwiderte Anna. „Wenn mal ne Hungersnot kommen sollte, werde ich bestimmt an dich denken!“

„Pah, was bist du verfressen!“

Nora fing an, sich vor lachen zu kringeln. Sie wusste, dass es für sie unmöglich war, so weiter das Wohnmobil zu steuern. Sie fuhr auf den rechten Seitenstreifen der Landstraße, und sagte: „Ich glaube, eine von euch sollte jetzt weiter fahren. Wenn ihr so weitermacht, sterbe ich noch vor Lachen!“ Ein erneuter Lachanfall sagte Anna und Gerlinde, dass dieses wohl zu befürchten war.

„Okay, dann übernehme ich ab sofort das Ruder, Ladies“, sagte Anna in einem Ton, der ernst klingen sollte, aber dazu führte, das beide Frauen erneut lachten.

„Typisch diese Jugend von heute“, sagte Anna. „Die können einfach nicht ernst sein! Kontenance, meine Damen, Kontenance bitte!“

Sie lachte.

Gerlinde und Nora fielen in ihr Lachen mit ein, und alle merkten, wie die Anspannung in ihnen sich allmählich zu lösen begann.

Anna setzte sich, nachdem Nora ihr Platz gemacht hatte, hinter das Steuer des Wohnmobils, stellte den Motor an, und fuhr los, während Nora und Gerlinde sie ansahen, jede in ihren eigenen Träumen gefangen.

Es dauerte keine Stunde, da hatte Anna Gerlinde und das Buch der Schatten, das Gerlinde in einem Tuch eingeschlagen mit sich trug, abgesetzt. Und während diese den Weg zu ihrer Wohnung hinaufging, setzte Nora sich neben Anna auf den Beifahrerinnensitz. Schweigend saßen beide so da, als Anna den Motor anmachte, und das Wohnmobil langsam in die Ausfahrt fuhr.

Keine wusste, was sie sagen wollten, was sie sagen sollten.

Dann, nach Minuten, die beiden Frauen wie Stunden erschienen; sagte Anna, die ihre Anspannung nicht mehr weiter ertragen konnte: „ Was ist los mit dir, Nora?“

„Was soll schon sein?“

„Veräpple mich nicht, Nora“, sagte Anna wütend. „Ich merke doch, dass mit dir etwas nicht stimmt!“

„Du hast recht“, erwiderte Nora, und vermied es, Anna anzusehen.

„Und was ist es? Göttin, soll ich dir jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen?“

„Kannst du dir das nicht denken?“

Nee, was soll ich mir denken?“

„Das ich nicht weiß, was ich fühlen soll“, erwiderte Nora, und begann zu weinen.

„Was meinst du damit?“

„Anna, ich begehre dich, und irgendwie liebe ich dich auch! Aber ich weiß nicht, ob ich dich so sehr liebe, das ich mit dir zusammen sein will?“

Sprachlos blickte Anna sie an.

Was meint sie damit, fragte sie sich in ihren Gedanken?

Liebt sie mich nicht? War ich nur eine kleine lesbische Zwischenstation auf ihrem Weg zum nächsten Mann?

Wütend blickte sie Nora an.

„War es das, Nora? Meinst du, dass wir nun zum nächsten Tagungsordnungspunkt gehen sollten? Verdammt, warum hast du so große Angst vor deinen Gefühlen? Du liebst mich doch, oder irre ich mich?“

Ja Anna, ich liebe dich irgendwie, dachte Nora. Aber ich habe auch Angst vor dieser Liebe. Du hast immer mit Frauen gelebt, und für mich ist das mit dir meine Premiere. Bitte lass mir Zeit, Anna! Die Zeit, die ich brauche, um mit meinen Gefühlen klar zu kommen!

Anna drückte mechanisch auf die Bremse. Die Ampel, vor der sie standen, zeigte Rot. Ein flüchtiger Blick in den Seitenspiegel zeigte ihr, dass noch zwei weitere Wagen hinter ihnen standen.

„Warum sagst du nichts, Nora“, sagte Anna flehendlich?

Sie blickte Anna an.

Was soll ich ihr sagen, fragte sie sich? Jedes Wort, was ich sage, könnte ihr weh tun. Sage ich ihr, dass sie noch warten sollte, könnte es sie genauso verletzen, wenn ich ihr sagen würde, dass ich nicht mit ihr zusammen sein will. Sie will von mir hören, dass wir ein Paar wären, und ich würde was darum geben, wenn ich das guten Gewissens sagen könnte, aber ich kann es nicht! Ich bin keine Lesbe!

„Jede Frau ist eine Lesbe, sie weiß es nur noch nicht“, hörte sie in ihrem Ohr die vertraute Stimme der Göttin. „Oder kennst du diesen alten Spruch der Frauenbewegung nicht?“

„Nein, ich bin dafür zu jung!“

„Aber nicht zu jung, um eine Frau zu lieben!“

„Anna“, begann Nora, und versuchte, die Gedanken der Göttin aus ihrem Kopf zu bekommen, „Gib mir bitte noch etwas Zeit, bis ich weiß, was ich will!“

„Ach, und jetzt weißt du das nicht?“

Nein, und das liegt an dir, Anna! Du hast mich ganz wuschig gemacht!“

„Ich? Wie kann ich dich wuschig machen“, sagte Anna mit dem Anflug gespielter Überraschung. Sie umfasste Noras rechten Handrücken, und deutete einen perfekt angedeuteten Handkuss an.

„Wenn du Zeit brauchst, dann nimm sie dir“, sagte sie, und merkte, wie Nora erleichtert aufatmete.

„So, und da dieses nun geklärt ist, können wir ja beruhigt weiterfahren!“

Nora lächelte. Sie merkte jedoch nicht die Träne, die an Annas linker Wange herunterlief.

 

 

Sie waren vor Noras Wohnung angekommen.

„Soll ich den Wagen zurückbringen, oder willst du das tun“, fragte sie Nora?

„Ich mach das Morgen, wenn es dir nichts ausmacht, mit den Öffentlichen nach Hause zu fahren.“

„Kein Problem, Nora“, sagte Anna, und nahm Nora in ihre Arme.

„Schlaf gut, Nora“, sagte sie, und versuchte zu lächeln.

„Du auch“, erwiderte Nora, und schloss das Wohnmobil zu.

„Bis dann“, sagte Anna, und drehte sich so schnell um, dass Nora nicht mitbekam, wie sie

weinte. Sie ging.

Nora blickte ihr nach, und auch ihr kamen die Tränen.

Warum ist alles bloß so schwer, fragte sie sich?

Warum kann Anna kein Mann sein?

„Weil sie eine Frau ist, meine Tochter“, sagte die Göttin ihr ins Ohr!

„Aber wenn sie ein Mann wäre, hätte ich nicht diese Probleme mit ihr?“

Und wenn du ein Mann wärst, auch nicht“, erwiderte die Göttin!

Sie drehte sich in der Richtung ihres Wohnhauses, und begann dorthin zu gehen.

„Aber du musst doch sehen, dass es einfacher wäre, wenn wir ein heterosexuelles Paar wären, egal, wer Frau oder Mann wäre!“

„Und es wäre genauso, wie die meisten heterosexuellen Beziehungen, wo Frauen von Männern unterdrückt werden, und wo Frauen frustriert zurückbleiben, bis sie es nicht mehr aushalten, und die Beziehung verlassen! Du liebst sie, Nora! Mehr, als du dir selbst eingestehen willst! Und du willst sie! Und nur, weil es Menschen gibt, die so dumm und verbohrt sind, das sie die Vielfalt menschlicher Existenz und Sexualität nicht sehen können, willst du auf dein Glück verzichten?“

„Aber ich weiß noch nicht einmal, ob diese Liebe für eine Beziehung stark genug ist! Ob ich stark genug bin, in einer Frauenbeziehung zu leben?“

„Dann finde es heraus, meine Tochter! Horche tief in dich hinein, und finde es heraus!“

Die Stimme der Göttin in ihr verschwand.

„Nora“, hörte sie die Stimme Nicks hinter ihr rufen. „Warte doch mal!“

„Warum sollte ich warten, Nick? Wir haben nichts mehr miteinander zu reden!“

„Belästigt sie der junge Mann“, hörte sie eine Stimme, die aus weiter Ferne zu kommen schien?

„Nein“, erwiderte sie. „Alles in Ordnung!“

„Dann ist ja gut“, sagte ein älterer Mann mit weißen, kurz geschnittenen Haaren, und in einem gepflegtem Anzug aus englischem Tweedgekleidet. „Aber wenn er frech werden sollte, sagen sie mir ruhig Bescheid. Ich werde mich dann um ihn kümmern!“

Der ältere Mann verschwand.

„Was willst du, Nick?“

„Nur mit dir reden“, erwiderte er.

„So wie damals, als du mich fast tot geprügelt hast? Oder damals, als du den Dämon auf uns gehetzt hast? Nein Nick, ich will mit dir nichts mehr zu tun haben! Absolut nichts mehr!“

Sie ging weiter auf ihre Wohnung zu.

Plötzlich überkam sie ein dunkles Gefühl der Ahnung, das sie zuerst nicht verstand.

Dunkle Bilder von Trauer und Tod, von Leid und Angst, traten vor ihren Augen. Ihr Herz verengte sich, und sie spürte eine Angst, deren Ursache sie nicht erklären konnte.

Plötzlich sah sie ihre beste Freundin Barbara vor ihrem geistigen Auge. Barbara, die sie flehendlich anblickte. Barbara, deren Gesichtszüge voller Angst gezeichnet war.

„Barbara“, entfuhr ihr ein Schrei, der aus der tiefsten Tiefe ihrer Seele kam!

Ihre Schritte wurden schneller, und sie stolperte über ihre Füße und fiel hin.

Mit einer raschen Bewegung sprang sie auf, und lief weiter. Keuchend erreichte sie den Fahrstuhl, und stellte wenige Augenblicke später fest, dass er wieder einmal kaputt war.

Sie lief so schnell sie konnte, die vielen Treppen hinauf, und machte, wenn sie nicht mehr konnte, eine kurze Pause, um etwas Luft zu schnappen.

Es erschien ihr wie eine Ewigkeit, als sie in ihrer Etage angekommen war, und mit einer hastigen Bewegung die Türe ihrer Wohnung öffnete.

Es war dunkel.

Von Ferne hörte sie den Lärm der Straße, der, wie aus einer anderen Welt kommend, an ihre Ohren drang.

Sie blickte sich um.

Die Wohnung sah wie immer aus. Sauber und alles an seinem Platz, so, wie sie es immer gewohnt war.

„Barbara“, rief sie fragend in die Wohnung hinein?

Nichts rührte sich.

„Bist du da, Barbara“, rief sie erneut, diesmal etwas lauter?

Sie hörte ein leises Stöhnen. Ein Stöhnen, das aus der Küche zu kommen schien.

Mit schnellen Schritten lief sie in die Küche, und warf ihren Mantel auf den Boden im Flur. Das Stöhnen wurde lauter und intensiver.

Sie riss die Tür der Küche auf.

Der Boden der Küche war voller Blut und Schleim, gemischt mit Mehl und Zucker, das überall auf dem Boden verteilt lag.

Nora versuchte, ihre Freundin hochzuheben.

„Lass das, Nora“, sagte Barbara, und eine Schwall einer roten Flüssigkeit, kam aus Barbaras Mund! „Ich werde bald sterben, und nichts wird mir helfen können. Auch nicht du, Nora!“

Noras Augen füllten sich mit Tränen, die in Strömen an ihren Wangen entlangflossen.

Barbara stotterte, als sie sagte: „ Ich bedaure nur, das ich dir nie gesagt habe, wie viel du mir bedeutest, und wie sehr ich dich liebe, Nora!“

„Aber ich weiß doch, dass du mich liebst! Ich liebe dich doch auch!“

„Aber ich liebe dich mehr als es nur eine Freundin tun würde! Ich wollte dich immer küssen! Schon, als wir Schulmädchen waren, wollte ich dich immer küssen, aber ich habe mich nie getraut“

Sie hustete, und ein erneuter Schwall roten Schleims sprudelte aus ihrem Mund, und hinderte sie am weiterreden.

Nora nahm sie in ihre Arme, und weinte.

Dann starb ihre Freundin Barbara.

Geliebt von der Frau, die sie liebte, aber der sie nie wagte, nah zu sein.

 

 

Anna lag in ihrem Bett, und weinte.

Ich habe sie verloren, schluchzte sie! Für immer und ewig verloren!

Sie wird nicht zu mir kommen, weil sie Angst hat, als Lesbe diskriminiert zu werden.

Sie sah aus dem Fenster.

Der kühle Abendhauch umwehte die Gardinen des leicht geöffneten Fensters. Sie spürte einen kühlen Luftzug, der den Weg zu ihrem Bett schaffte, kurz dort verweilte, und weiterzog. Sie hörte das leise zirpen eines Vogels, den sie nicht kannte. Sein monotoner Singsang kam ihr jedoch irgendwie bekannt und vertraut vor. So vertraut, wie es die Kinderlieder aus ihrer Kindheit waren.

„Alles hat seine Zeit,

drum gehe nicht voran,

wenn die Zeit

noch nicht gekommen ist“.

Sie meinte, immer und immer wieder diese Worte im Gesang des Vogels zu hören, so, als ob der Vogel ihr damit etwas Wichtiges sagen wollte.

Sollte ich wirklich warten, überlegte sie?

Gibt es vielleicht doch noch eine Chance, das wir ein Paar werden? Das ihre Liebe stark genug ist, auch diesen Druck der Gesellschaft auszuhalten?

Das Telefon klingelte erbarmungslos.

Sie wische ihre Tränen mit einem schon leicht verschmutztem Taschentuch fort, und griff zum Telefon, das sie sich als Zweitanschluss ins Schlafzimmer gelegt hatte.

„Ja, wer ist da“, fragte sie?

„Ich bin es, Nora“, hörte sie am anderen Ende die vertraute Stimme der Frau, die sie liebte.

„Was ist“, sagte sie knapp?

„Meine Freundin Barbara ist soeben in meinen Armen gestorben. Bitte komm, Anna! Ich kann jetzt nicht alleine sein!“

„Okay, ich komme“, sagte Anna. „In etwa einer halben Stunde bin ich bei dir!“

Plötzlich fühlte Anna, wie eine unerklärliche Trauer sie umschloss.

Dabei kenne ich ihre Freundin doch kaum, und doch geht mir ihr Tod so nahe, überlegte sie, während sie begann, ihre Jeans anzuziehen. Anna, du wirst auf deine alten Tage noch mitfühlend! Und das mir, einer hartgesottenen Polizistin!

„Soll ich Gerlinde auch anrufen, damit wir alle beide bei dir sein können?“

„Nein, komm nur du!“

„Also kein Trauerritual der Göttin“, sagte Anna. „Nur du und ich, und Barbara“.

„Sie haben vor wenigen Minuten Barbara abgeholt, Anna. Das Haus ist leer, und ich spüre den Hauch des Todes in dieser Wohnung“.

„Und das macht dir Angst, Nora? Du bist doch eine Hexe wie ich, und weißt, dass wir alle mehrmals widergeboren werden. Warum also Angst?“

„Es ist aber so“, sagte Nora trotzig!

Anna zog sich ein rotes T- Shirt an, und schlüpfte in ihre Schuhe, die sie ohne Socken trug.

„Ich fahr jetzt los“, sagte sie zu Nora, und legte auf.

Eine Woge unterschiedlichster Gefühle durchflutete durch Annas Körper und Seele.

Liebe, Mitleid, Angst und Trauer hielten sich die Waage, beschäftigten sie gleichermaßen.

Ratlosigkeit umgab sie!

Was soll ich tun, dachte sie?

Ich liebe sie, und doch hab ich Angst, etwas Falsches zu tun, etwas, was sie verletzen könnte. Und ich traure mit ihr, denn ihre Freundin Barbara hat ihr viel bedeutet. Ich weiß, was es heißt, eine Freundin oder einen geliebten Menschen zu verlieren!

Und ich bin so traurig, weil ich nicht weiß, wie es mit Nora und mir weiter gehen wird!

Sie ging zu ihrer Tür, die sie öffnete. Ein letzter Blick über ihre Wohnung, ob auch alles ausgeschaltet war, und kurze Zeit später schloss sie ihre Wohnungstür hinter sich zu.

 

 

Gerlindes Augen waren müde.

Sie saß in ihrem Schlafanzug an ihrem Wohnzimmertisch, die Stehlampe glimmte leicht.

Seit sie zu Hause war, hatte sie im Buch der Schatten gelesen. Gelesen über Liebestränke und Zauberrituale, die ihre Vorfahrinnen zubereitet und gefeiert hatten.

Ihre Gedanken kreisten um Anna.

Anna, die sie so sehr liebte!

Anna, an die sie mit jeder Faser ihres Herzens dachte.

Anna, die nichts von ihr wissen wollte.

Anna, die sie mit einer inneren Verzweiflung begehrte, aus der sie sich keinen anderen Rat mehr wusste, als mit einem Liebestrank.

Sie las, was dazu gebraucht wurde:

Zitronenmelisse, Frauenmantel, Minze und Rosmarin. Diese soll in einem Säckchen aus Leinen bei sich getragen werden, bis die Liebe erhört wird.

Na, da kann ich ja lange warten, dachte sie!

Eher werden alle Politiker plötzlich ehrlich, oder der Papst frauenfreundlich und homophil, als das Anna, diese wundervolle Butch, sich in mich verlieben könnte!

Sie blickte auf das Buch der Schatten.

Soll ich es versuchen, überlegte sie?

Auch, wenn es schwarze Magie wäre?

Einen kurzen Augenblick überlegte sie, welche Folgen das für sie und ihre Mithexen hätte, und da wusste sie, dass sie es nicht tun könnte!

Wenn Anna mit Magie zu mir kommen würde, wäre ihr freier Wille ausgeschaltet, überlegte sie. Und ich hätte schwarze Magie betrieben! Und dann wären alle Folgen auf mich dreifach zurückgekommen. Und, was für einen Sinn hätte es, wenn sie nicht freiwillig zu mir gekommen wäre?

Könnte sie glücklich werden?

Könnte ich damit glücklich werden?

Könnte überhaupt jemand, der wahrhaft liebt, damit glücklich werden?

Sie merkte nicht, wie die Göttin sie schweigend beobachtete.

Meine Tochter, dachte sie, wann wirst du dich endlich aus deinem selbstgewählten Gefängnis befreien? Wann wirst du endlich verstehen, das der Schlüssel zu Annas Herz im Herz und in der Seele einer jeden Frau liegt? Und wann wirst du endlich beginnen, dich selbst zu lieben? Denn nur, wen du verstehst, dass du liebenswert bist, werden andere das sehen, und sich in dich verlieben. Und dann wird es ihnen egal sein, was du einmal warst, meine Tochter!

Verstohlen bahnte sich eine Träne ihren Weg aus dem Auge der Göttin.

Gerlinde bemerkte von alledem nichts, auch nicht, als sie sich weinend in ihr Bett legte, und ihren Kopf zur Decke drehte.

„Ich liebe dich, Anna“, sagte sie, und schloss ihre Augen.

„Und ich dich auch, meine Tochter“, flüsterte die Göttin leise, während die ersten Regentropfen gegen die Fensterscheiben prasselten.

 

 

 

 

 

ENDE

 

 

 

Werden Anna und Nora doch noch ein Paar?

Wird Gerlinde Anna ihre Liebe gestehen?

Wie wird Anna reagieren?

Wie geht Nora mit dem Tod ihrer besten Freundin um?

Was wollte Nick, Noras Exverlobter und Diener eines Dämons?

Verbirgt Carola, Gerlindes Schülerin, ein Geheimnis?

Wer auf diese und andere Fragen eine Antwort wissen will, der darf unter keinen Umständen die nächste Folge verpassen! Die nächste Folge von „DIE MACHT DER DREI HEXEN“!

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