Linda Greenwoman ging in ihrer Gefängniszelle in der JVA ´Tegel auf und ab. Sie war noch jung, zu jung für ein Gefängnis! Die graue Gefängniskluft hing lose an ihrem schlanken, athletischem Körper herab. Sie bemerkte nicht, wie ihre Füße an die Toilette stießen, und dann gegen ihr Bett. Sie spürte gar nichts mehr. Weder Schmerz noch Trauer, weder Wut, noch Enttäuschung.

Sie spürte nichts!

Entfernt hörte sie, wie die Tür ihrer Zelle aufging, und eine Schließerin in ihrer grünen Uniform der Justizangestellten erschien.

„Frau Greenwoman“, sagte sie, und in ihrem Tonfall schwang Mitleid mit. „ Sie haben Besuch bekommen!“

Die weiche, einschmeichelnde Stimme der Schließerin holte sie aus ihrer Welt zurück.

„Wer ist es“, fragte sie in gebrochenem Deutsch?

„Ihre Mutter“, erwiderte die Beamtin.

„Ich will sie nicht sehen!“

„Warum nicht? Sie ist extra aus dem Reservat in Arizona nach Deutschland gekommen, um ihnen beizustehen. Reden sie doch mit ihr!“

„Nein“, sagte die Gefangene.

Die Wärterin drehte sich um, und verließ die Zelle. Linda Greenwoman hörte, wie die Schließerin ihre Zelle abschloss, und sich entfernte.

Hoffnungslosigkeit überkam sie.

Die Wärterin ging durch mehrere verschlossene Tore, die sie öffnete und wieder schloss; und gelangte in den kahlen Besuchsraum, in dem eine korpulente ältere Frau in einem weiten roten Kleid aus Wolle auf einem Stuhl saß. Ihre schwarzen, leicht ergrauten Haare waren eng zu einem Zopf zusammengeschlungen, und mit einem breiten roten Band eng

zusammen gebunden.

„Frau Greenwoman“, begann die Wärterin in einem gepflegten Englisch. „Ihre Tochter will

nicht mit ihnen sprechen.“

Die ältere Frau blickte sie an.

„Warum nicht“, fragte sie in Englisch?

„Ich weiß es nicht“ erwiderte die Wärterin! „Ich habe das Gefühl, das sie unschuldig ist, das sie hereingelegt wurde. Aber um das zu beweisen, brauchen sie jemanden, der ihnen helfen kann. Ich darf es nicht!“

„Kennen sie jemand“, fragte die ältere Frau?

„Ja, eine ehemalige Polizistin und ehemalige Partnerin von mir. Ich schreibe ihnen die Nummer auf. Ich bin sicher, sie wird sie auch bei sich schlafen lassen. Sie heißt Anna!“

Doris Pede, die ehemalige Geliebte von Anna und Wärterin in der JVA Tegel, nahm einen Zettel, auf den sie Annas Adresse und Telefonnummer aufschrieb.

„Ich glaube, es ist besser, wenn ich sie selbst anrufe“, meinte sie, und ging zum Wachhabenden, der in seinem Kastenbüro saß. Sie griff zum Hörer, und wählte Annas Nummer.

Fünf Minuten später ging sie zu der Frau zurück, und sagte: „Anna wird sie in einer Stunde hier abholen. Wenn sie möchten, können sie hier auf sie warten, oder sich auf dem Gartengelände die Beine vertreten!“

Anna sah fern.

Einen langatmigen Krimi, bei dem sie schon nach acht Minuten, kurz, nachdem der Mord geschehen war, wusste, wer der Täter war. Es war die Person, die von dem Drehbuchautor als am Unverdächtigsten beschrieben wurde: der Ehemann!

Sie hatte es sich auf ihrer Couch mit einer Flasche Bier, zwei mit Mett belegten Scheiben Brot, auf dem einige dicke Zwiebelscheiben lagen, und etwas zum Knabbern gemütlich gemacht.

Warum kann niemand heutzutage mehr vernünftig spannende Kriminalfilme machen, dachte sie? Alles nur Schrott, ohne Logik und ohne Spannung! Noch nicht einmal eine lesbische Kommissarin haben die Macher in Petto! Immer nur dieses Heterogebalze! Als wenn es auf der ganzen Welt keine lesbische Kommissarin geben würde, oder einen schwulen Kommissar!

Sie nahm die Flasche, und genehmigte sich einen großen Schluck. Sie spürte, wie der hellbraune Gerstensaft kühl ihre Kehle herunterlief, und ihr das vertraute Gefühl von Ruhe gab, ein Gefühl, das in ihrem Leben so selten war, wie ein Steuergeschenk des Finanzministers, oder das gehaltene Versprechen eines Politikers!

Sie setzte ihre Bierflasche wieder auf den Tisch ab, und blickte weiter in die Mattscheibe, wo gerade ein blonder Inspektor der schwarzhaarigen Kommissarin erklärte, das ihr halbwüchsiger Sohn einen Verkehrsunfall gehabt hatte.

Was für einen Stuss die sich doch ausdenken, überlegte sie. Dabei gibt doch das Leben die besten Geschichten. Wenn ich nur an Doris denke, eine Ex von mir, die im Gefängnis in Tegel Frauen bewacht. Was die da so alles erlebt hat, ist viel spannender als die Fernsehserie auf RTL, auch wenn meine Lieblingsschauspielerin da mitspielt!

Das Telefon klingelte.

Anna stand auf, und ging zum Telefon, das sie aus der Ladestation herausnahm, und zu ihrer Couch mitnahm. Sie drückte einen Knopf, und hörte die vertraute Stimme von Doris Pede, einer ihrer vielen ehemaligen Partnerinnen, mit denen sie immer noch freundschaftlich verbunden war.

„Gerade habe ich an dich gedacht“, sagte Anna, und hörte das herzhafte Lachen von Doris. „Was verschafft mir die Ehre deines Anrufs?“

„Ich habe hier eine Indianerin aus Arizona. Sie ist eine Navajo, und wollte ihre Tochter im

Gefängnis besuchen, die sie aber nicht sehen will. Und da ich glaube, das die Tochter

unschuldig ist, sie aber keine Hilfe annehmen will, dachte ich, das du dich um ihre Mutter kümmern könntest, und die Unschuld ihrer Tochter beweist. Und wenn du als ehemalige Polizistin nichts machen kannst, dann vielleicht die Hexe in dir?“

„Alte Schmeichlerin“, erwiderte Anna. „Also gut, ich werde sehen, was ich tun kann. Du darfst ja wegen des Dienstgeheimnisses nichts über ihren Fall zu mir sagen. Sag der alten Indianerin, das ich sie in einer Stunde am Gefängnistor abholen werde!“

„Kannst du nicht besser in den Besucherraum kommen? Da kann ich euch auch vorstellen. Sie spricht nur Englisch und ihre Indianersprache, Anna. Gut, das du damals in der Schule so fleißig warst, und gut die englische Grammatik beherrscht. Und außerdem haben wir uns so lange nicht mehr gesehen, und vom letzen Mal krieg ich noch einen Kuss von dir, den ich jetzt einfordere!“

„Selfish“, sagte Anna. „Und falls du nicht weißt, was es heißt, es heißt „egoistisch“

„Ich kann halt nichts dafür, Anna! Dafür küsst du zu gut!“

„Also gut, damit du Ruhe gibst, bekommst du deinen Kuss!“

„Mit Zunge“, fragte Doris?

„Meinetwegen mit Zunge! Aber nur ein Kuss, hörst du?“

„Ein Kuss kann sehr lange sein“, erwiderte Doris Pede.

„Oder sehr kurz“, erwiderte Anna!

Sie legte nach einer kurzen, aber sehr herzlichen Verabschiedung den Hörer auf den Tisch, nachdem sie den Knopf wieder ausgestellt hatte.

Sie stand auf, und betrachtete ihr breites Gesicht im Spiegel. Ihre kurzgeschnittenen rot gefärbten Haare saßen eng an, und brauchten keinen Kamm, um wieder in Form zu kommen. Ihre schlanke Figur, dank des Abspeckprogramms in den letzten Wochen, sah wieder ansehnlich aus, und zeichnete sich durch die enge Jeans und das rote Baumwollhemd wohltuend ab. Sie warf sich ihre blaue Jeansjacke um die Schultern, nahm das Schlüsselbund von der Anrichte, und verließ, nachdem sie sich ihre Slipper angezogen hatte, ihre Wohnung.

„Wer ist Hekate, Gerlinde“, fragte Carola?

„Warum fragst du“, erwiderte Gerlinde?

„Ich habe in einem Buch ihren Namen gefunden, aber keine Erklärung, wer sie wirklich ist“.

„Gut, dann setzen wir uns am besten bei einer guten Tasse Tee hin, und ich sage dir alles, was ich über die Göttin der Wegkreuzungen weiß“.

„ Sie soll die Göttin der Wegkreuzungen sein?“

„Ja, aber um das zu verstehen, muss ich dir vorher noch einige andere wichtige Dinge erzählen. Aber lass uns erst einmal den Tee machen.“

Sie ging in ihre Küche, in der Carola ihr folgte. Wenige Minuten später, der Tee war in der Kanne, der Tisch gedeckt, und selbstgebackene Kekse standen auf dem Tisch, saßen beide Frauen, und Gerlinde begann: „ Hekate wird von den Christen auch die Königin der Hexen genannt, und wird meist als die weise Alte der Trinität des Göttinnenpantheons dargestellt. Für die Griechen ist sie die Tochter der Sternengöttin Asteria und des Perses, sowie die Schwester der Leto. Hekate hat ihren Ursprung in Heqit gefunden, der altägyptischen Göttin der Geburtshelferinnen. Heqit wiederum stammt von Heq ab, der Stammesmutter. Heq war eine weise Frau die Hekau beherrschte, die mütterlichen Worte der Kraft.

Heqit ist auch eine Verschmelzung aller sieben Hathors und jeden Morgen befreit sie den Sonnengott in einer himmlischen Geburt. Die Griechen machten aus ihr Hekate.

Als Hekate gehört sie zu mehreren Trinitäten. Die Göttin zeigt sich in drei Gestalten, die Jungfrau, die Mutter und die Alte. Hekate übernahm in verschiedenen Trinitäten meist die Rolle der Alten.“

Gerlinde goss sich etwas Tee in ihre Tasse, tunkte ein wenig von ihrem Keks in den Tee, und

lutschte daran.

„Wir sehen die weise Alte oft als Todesbotin, weswegen Hekate oft als Göttin der Unterwelt beschrieben wurde. Jedoch war Hekate nur diejenige, die Verstorbene ins Reich der Schatten begleitete. Und auch die, die als eine Art Richterin zwischen unseren guten uns schlechten Taten abwägt. So wurde sie die Königin der Unterwelt, was Männer in ihrer Verblendung oft als „Zerstörerin“ betrachteten, wobei sie wie üblich vergaßen, das manchmal, um etwas Neues aufzubauen, das Alte erst zerstört werden muss“.

„Ist sie deshalb die Göttin der Wegkreuzungen, weil sie Menschen in das Reich der Toten geleitet?“

„Nein, aber dazu komme ich noch!“

„Und wann?“

„Immer diese Ungeduld der Jugend“, sagte Gerlinde, und lächelte. Dann sagte sie: „ Hekate teilt sich mit Selene und Artemis den Titel der Mondgöttin. Oft wurden die Attribute der drei Göttinnen vermischt, so das Hekate auch Aspekte von Artemis und Selene übernahm“.

„Und wie sah das aus“, fragte Carola?

„Hekate war die Göttin der Unterwelt, Artemis die Göttin der Erde und die Jägerin, und Selene war für den Himmel zuständig. Und nun kommen wir zu deinen Wegkreuzungen, Carola!“

Lächelnd sah Gerlinde, wie Carolas Kopf sich plötzlich hob, und sie neugierig ihren Worten lauschte.

„ Wo immer sich ein Weg gabelt, wo man zwischen zwei Entscheidungen steht, ist der Ort, wo sich die unterschiedlichen Welten nahe stehen, da ist das Reich der Hekate!“

„ Und warum ist das so?“

„In alter Zeit half Hekate Demeter bei der Suche nach ihrer Tochter Persephone, die; wie du ja weißt, jedes Jahr im späten Herbst ins Reich der Toten zu ihrem Ehemann geht, und im Frühjahr erneut erwacht, um zu ihrer Mutter zu gelangen, und der Erde neue Fruchtbarkeit zu schenken. Hekate war die Einzige, die Rat wusste und Demeter unterstützte. Sie lehrte Medea die Kunst, magische Salben herzustellen, und öffnete für Jason den Heiligen Hain, was Jason die Möglichkeit gab, das goldene Vlies zu stehlen. Auch war Hekate die Göttin der Hebammen und die Königin der Hexen und der Geisterwelt.“

„Und für was wird sie angerufen?“

„Für materiellen und politischen Erfolg, Begegnungen zwischen Menschen, Schutz für Reisen, Entscheidungen zwischen zwei Wegen, Geburtshilfe, um den Tod zu akzeptieren, Unterstützung bei der Magie, und den Kontakt zu Verstorbenen. Sie wurde verehrt, indem man Opfer an Wegkreuzungen oder Speisen vor der Tür legte. Auch bei Zauberei und Wahrsagerei, bei Totenbeschwörungsriten, in denen Hundeopfer dargebracht wurden, wurde ihr gedacht. Und vor und nach einer Reise brachte man ihr oft eine Opfergabe, oder huldigte ihr.“

„Ist ja ekelig, das mit den Hunden“, sagte Carola, und schüttelte sich!

„Finde ich auch! Heute wird die Göttin Hekate auf andere Weise gerufen. Soll ich es dir sagen?“

Carola nickte.

„Dann, denke ich, müssten wir vorher erst einmal darüber sprechen, wie wir Hexen den Tod sehen.“

Nora träumte.

Sie träumte, das sie inmitten einer grünen Wiese stand, umgeben von duftenden Blumen und Vogelgezwitscher. Ein kleiner Esel stand neben ihr. Plötzlich verwandelte sich der Esel, und vor ihr stand Doktor Nowak, ihr Doktor Nowak! Der Doktor Nowak, den sie im Supermarkt getroffen hatte, und der in seinem dunklen Smoking so hinreißend gut aussah.

„Ich muss immer an dich denken“, sagte er, und küsste sanft ihre bebenden Lippen.

Dann verschwand er.

Und plötzlich stand Anna vor ihr.

Die Anna, die sie liebte und begehrte, mit der sie im Namen der Göttin die Welt für Frauen ein wenig sicherer machte.

„Ich liebe dich, Nora“, sagte Anna zu ihr. „Ich möchte dich bitten, meine Frau zu werden, und mit mir gemeinsam ein Trying- Ritual, ein magisches Verlobungsritual, zu feiern, um das Band unserer Liebe zu stärken“.

Plötzlich stand Doktor Nowak neben ihr.

„Was will diese Frau von dir, Nora“, fragte er? „Ich liebe dich doch!“ Er klang bestimmt.

Anna und der Doktor kämpften miteinander um ihre Gunst und ihre Liebe. Ein Kampf, den niemand gewann!

Sie wachte auf.

So geht das nicht weiter, dachte sie. Ich muss eine Entscheidung treffen!

Seit sie Doktor Artur Nowak, den Internisten und Liebhaber guten Essens zum ersten Mal in dem Supermarkt getroffen hatte, fühlte sie sich zu ihm hingezogen! Ein Gefühl, das sich bei ihren gemeinsamen Spaziergängen und Ausflügen in seinem silbernen Mercedes noch verstärkt hatte. In dieser Zeit dachte sie kaum an den Morgen, sondern nur an das Heute! Und sie dachte so gut wie nie an Anna, ihre Mithexe und Geliebte!

Nur, wenn sie dann am Abend abgespannt und müde in ihr Bett fiel, die Schuhe von ihren dick gewordenen Füßen streifte, und einfach nur selig lächelte, überkam sie manchmal ein schlechtes Gewissen.

Denn, sie liebte auch Anna!

Wenn ich bei Artur bleibe, werde ich Anna verletzen, und wenn ich bei Anna bleibe, wird Artur böse sein, überlegte sie. Außerdem weiß ich nicht, ob meine Liebe zu Anna so stark ist, das ich diese Diskriminierungen, die uns als Frauenpaar begegnen würden, gegenüber gewachsen bin!

Sie stand auf, und ging, mit einem wallenden rosa Nachthemd bekleidet, in die Küche.

An ihrem Kühlschrank waren zwei Schnappschüsse mit Magneten angepappt, die sie und Anna mit Gerlinde bei einem gemeinsamen Ausflug vor vier Wochen zeigte.

Nora sah dieses Bild an.

Es ist schon erstaunlich, dachte sie, wie wir drei innerhalb kürzester Zeit ein Team wurden, trotz unserer Unterschiedlichkeiten! Drei Frauen, die unterschiedlicher nicht sein können. Jede von uns liebt anders, jede von uns hat einen anderen Charakter und ein anderes Temperament, und jede von uns ergänzt sich mit den anderen Frauen. Die Göttin tat gut daran, uns zusammenzufügen!

„Danke, für dein Kompliment, meine Tochter“, hörte sie in ihrem Innersten die vertraute Stimme der Göttin! „Es tut auch manchmal mir gut, wenn meine Töchter mit mir zufrieden sind!“

„Gern geschehen“, erwiderte Nora, und lächelte.

„Du hast ein Problem, meine Tochter“, sagte die Göttin. „Du liebst zwei Menschen, und kannst dich nicht entscheiden, nicht war!“

Nora nickte.

„Und weil eine davon eine Frau ist, fragst du dich, ob du lesbisch bist, und ob du all den Diskriminierungen gewachsen bist, denen frauenliebende Frauen in einer patriarchalischen Welt ausgeliefert sind! Stimmt doch, oder?“

„Besser hätte ich es auch nicht sagen können“, erwiderte Nora. „Was soll ich also tun?“

„Das, was ich dir immer gesagt habe, nämlich, das du deinem Weg folgen sollst, egal, wohin er dich treibt! Denn jede Form der Liebe, die in Gerechtigkeit, Ehrlichkeit und Wahrheit eingegangen wird, ist von mir gesegnet, unabhängig davon, wie dieses Paar beschaffen ist! Wenn du den Arzt liebst, dann liebe ihn, wenn du deine Mithexe Anna liebst, dann liebe sie!

Sei glücklich, meine Tochter!“

„Aber wie kann ich glücklich sein, wenn ich zwei Menschen mit der selben Intensität, nur anders liebe“, fragte Nora?

„Das, meine Tochter, musst du für dich ganz allein herausfinden! Da darf ich dir nicht helfen!“

„Und warum nicht?“

„Weil es deine und nicht meine Entscheidung ist, die getroffen werden soll!“

„Na toll“, sagte Nora laut. „Und somit bin ich wieder dort, wo ich schon einmal war!“

Schweigend saß Pamela Greenwoman, die Mutter von Linda, im Wagen Annas. Stoisch blickte sie nach vorne, auf den vor ihnen vorbeifließenden Straßenverkehr. Annas Augen wanderten den massigen Körper der Indianerin entlang. Sie hatte ihre schwarzen, leicht ergrauten Haare zu einem Zopf gebunden, der nach hinten fiel, und ihre leicht bronzene Haut glänzte in der späten Nachmittagssonne.

„Wir sind gleich da“, sagte Anna in ihrem besten Englisch, das ihr Mrs. O’Farrell, eine Englischlehrerin aus Irland, indem sie als Schulmädchen verknallt gewesen war, beigebracht hatte.

Die Indianerin nickte.

Seit sie das Gefängnis verlassen hatten, hatte die Indianerin kein Wort gesprochen. Na, von dem Stamm der Plappermäuler scheinst du ja nicht gerade zu kommen, Schwester, dachte sie, als sie in die Einfahrt zu ihrer Wohnanlage hineinfuhr!

Anna hielt den Wagen an, und beide Frauen stiegen aus. Pamelas Kleidung, in einer traditionellen Navajodecke geschlagen, lag im Kofferraum, den Anna öffnete, jedoch, bevor sie die Decke an sich nehmen konnte, hatte sie ihr indianischer Gast schon gegriffen.

„Wo“, fragte die Indianerin, und deutete auf das Hochhaus, vor dem sie standen?

„Follow me, sister“, sagte Anna, und ging, nachdem sie die Wagentüren abgeschlossen hatte, voran, um Pamela Grenwoman den Weg zu ihrer Wohnung zu weisen.

Einige Minuten später waren beide in Annas Wohnung. Anna zeigte ihr, wo die Räumlichkeiten wie Toilette, Küche und Wohnzimmer waren, und dann setzten sich beide im Wohnzimmer auf Annas breite Couch.

Anna machte zur Begrüßung einen Tee, den die Indianerin mit langsamen Schlucken trank.

„So, nun können sie mir erzählen, warum ihre Tochter, anstatt die Sonne in Arizona zu genießen, hier im kalten Berlin unschuldig in einer Gefängniszelle sitzt!“

„Ich weiß selbst nicht viel“, begann Pamela Greenwoman. „Nur, das alles begann, als ein junger Mann von Deutschland unser Reservat besuchte. Er und Linda verliebten sich ineinander, und er bat sie, ihm nach Deutschland zu folgen. Später hat mir die deutsche Polizei erzählt, das sie ihn getötet haben soll, weil er sie entdeckt haben sollte, das er sie mit anderen Frauen betrogen hatte. Allerdings wurde nur das Blut des Deutschen, aber nicht seine Leiche gefunden!“

„Meinst du, das er noch leben könnte?“

Pamela Greenwoman nickte.

„Dann ist die Frage, warum hat er seinen Tod vorgetäuscht, und wo ist er jetzt?“

Anna griff zum Telefonhörer, und wählte die Nummer des Polizeipräsidiums, wo Helga, eine ihrer Freundinnen aus ihrer Zeit bei der Polizei, arbeitete.

„Hallo Helga, hier Anna“, begann sie. „ Ihr habt doch diesen Mordfall mit der Indianerin als Täterin bearbeitet. Kannst du mir die Unterlagen zufaxen?“

„Du weißt doch, das ich das nicht wegen dem Datenschutz darf“, erwiderte Helga. „Aber ich könnte eine Kopie herstellen, die ich dann zufälligerweise auf meinem Schreibtisch liegen lasse. Und, wenn dann jemand in, sagen wir einer Stunde, diese Kopien stielt, dann kann ich doch nichts dafür, oder?“

Anna grinste.

Es geht doch nichts über ein gutes lesbisches Netzwerk von Freundinnen und ehemaligen Geliebten, dachte sie verschmitzt!

„Aber selbstverständlich kannst du dann nichts dafür“, sagte sie. „Und gerade fällt mir ein, das ich in genau einer Stunde das Präsidium besuchen wollte!“

„Dann wünsche ich dir viel Vergnügen“, sagte Helga. „Und ich denke, ich werde meine Gewohnheit beibehalten, alle wichtigen Akten auf die rechte Seite meines Schreibtisches, direkt neben dem Gang, der zur Tür führt, zu legen, damit ich sie auch ja schnell finde!“

„Danke, Helga!“

„Gern geschehen“.

Sie verabschiedeten sich.

Anna drehte sich zu Pamela um, und erklärte ihr in knappen Worten, das sie die Akte über den Fall ihrer Tochter bald in Händen haben würde.

„Und was machen sie dann, wenn sie die Akte haben“, fragte Pamela.

„Ich werde sehen, was für Anhaltspunkte ich finde, und danach handeln“, sagte Anna.

„Gebe ásdaá nadleehé, die Urmutter allen Lebens, dir Erfolg“, sagte Pamela Greenwoman. „Und möge die Kraft, die in dir ist, dir bei deiner Aufgabe helfen!“

Sie nahm ihre rechte Hand, und berührte Annas Stirn. Dabei sagte sie: „ Mutter des Lebens und Mutter des Wissens, segne deine Tochter, damit sie ....“ Sie stockte in ihren Worten.

Durchdringend blickte sie Anna an, prüfend ging ihr Blick, wie Anna spürte, bis in die tiefsten Abgründe ihrer Seele.

„Du kennst sie schon“, sagte Pamela“. „Und du dienst ihr, wie auch ihr diene! Wie wir beide unseren Völkern dienen, um sie zu schützen und um das Wissen aus alter Zeit zu bewahren. Aber wie ich spüre, bist du nicht alleine, meine Schwester! Vielleicht können deine Freundinnen dir dabei helfen?“

Sie ist auch eine Dienerin der Göttin, stellte Anna erfreut fest. Dann könnten wir ja, wenn alles vorbei ist, unser Wissen miteinander austauschen, und voneinander lernen!

„Ja“, sagte Anna. „Aber das möchte ich erst entscheiden, wenn wir mehr aus den Akten wissen. Bis dahin könntest du dich ja ausruhen, und ich gehe die Akte holen.“

Sie umarmte Pamela, lächelte, und sagte: „Und wenn du Hunger hast, du weißt ja, wo der Kühlschrank ist!“

Mit raschen Schritten verließ Anna, nachdem sie sich von Pamela verabschiedet hatte, ihre Wohnung.

Gerlinde saß in ihrer Küche, und weinte.

Vor ihr auf dem Küchentisch lag ein Bild. Ein Bild, das sie von Anna aufgenommen hatte.

Ein Bild, von der Anna nicht wusste, das es existierte, da Gerlinde es heimlich bei einem Ausflug mit Nora und ihr aufgenommen hatte.

Auf dem Bild wehten Annas kurzgeschnittenen Haare, durch den Wind etwas zerzaust, hin und her. Sie lächelte Nora an, die ihrerseits wieder zurück lächelte.

Gerlinde spürte, wie Trauer und Eifersucht in ihr hoch stieg.

„Warum kannst du mich nicht lieben, Anna? So lieben, wie ich dich liebe! So begehren, wie ich dich begehre! So sich nach dir sehnen, wie ich mich nach dir sehne!“

Sie nahm eine Tasse Tee, die auf dem Tisch stand, und blickte hinein. Tränen flossen aus ihren Augen. Tränen, die sich ihre Bahn in die Tasse suchten, und im Meer des Tees verschwanden.

Carola war nach Hause gegangen, nachdem sie über Hekate gesprochen hatten.

Sie ist sehr neugierig, meine kleine Schülerin, dachte Gerlinde, und trank einen Schluck des kalten Tees, der auf dem Küchentisch stand. Ich liebe diese vorwitzige, ungeduldige junge Frau! Ob sie als ehemalige Mormonin wohl etwas über meine Tochter weiß?

Sie spürte, das Angst in ihr hochstieg. Angst, sich gegenüber Carola zu outen! Angst, ihre

Liebe und ihren Respekt zu verlieren! Und Angst, mehr von sich preiszugeben, als sie preisgeben wollte.

Sie drehte sich um, und ging ins Wohnzimmer, wo sie vor einen kleinen Schrank aus Mahagoni kniete, und deren beiden Seitentüren öffnete. Ihr Hausaltar wurde sichtbar. In der Mitte eine Statue der Göttin von Willendorf aus Gips, deren ausladende Brüste sie daran erinnerten, wie ihre Mutter aussah, bevor sie starb. Rechts und links weiße Kerzen in einem silbern leuchtenden Kerzenständer, vor denen Schalen mit Räucherwerk standen. In dem Fach unter dem Altar war eine Althalme, das Ritualmesser der Hexen und der Druiden, ein kleiner Kessel aus Kupfer, sowie ein mit Bändern geschmückter Haselnussstrauch. Ihr Zauberstab, den sie oft benutzte, um Reisen außerhalb ihres Körpers zu beginnen.

Sie nahm die Althalme, und zog einen magischen Schutzkreis. Ihr Atem wurde langsamer, und sie spürte, wie sie sich mit dem Boden ihres Zimmers verband. Ein Baum mit vielen unterschiedlichen Ästen erschien vor ihrem Auge, deren Zweige sich um sie schlangen.

Wärme umgab sie.

„Herrin der Dunkelheit, Königin des Lichts“, sagte sie. „Helf mir, mit meinen Gefühlen für Anna zurande zu kommen, und das ich diese Liebe verliere, eine Liebe, die mir so sehr weh tut!“

„Schämst du dich deiner Liebe, meine Tochter“, hörte Gerlinde in sich die vertraute Stimme der Göttin fragen?

„Nein Mutter“, erwiderte Gerlinde. „Ich will nur nicht mehr weiter leiden!“

„Liebe, meine Tochter, bedeutet immer auch ein Stück, das man darunter leidet! Und unerfüllte Liebe, erst recht. Aber manchmal, kann aus einer unerfüllten Liebe eine erfüllte Liebe kommen, besonders, wenn die andere Frau erkennt, was sie an dir hat!“

„Aber eher wird der Papst die Homo- Ehe erlauben, oder alle Probleme im Nahen Osten gelöst sein, als das Anna, die stolze Butch Anna, sich dazu herablassen würde, eine Frau wie mich zu lieben!“

„Meine Tochter“, hörte Gerlinde eindringlich die Stimme der Göttin in sich sprechen. „Warum hasst du dich so sehr? Warum meinst du, das niemand dich wirklich lieben kann? Warum meinst du, das Anna dich nicht lieben kann? Hab Geduld und Vertrauen, meine Tochter, und alles wird sich zu deinem Besten lösen!“

Nein, dachte Gerlinde! Eher wird die Hölle einfrieren, als das mich Anna lieben würde!

„Manchmal hören meine Töchter nicht das, was sie hören sollen, sondern das, was sie hören wollen!“

Die Stimme der Göttin verschwand so plötzlich, wie sie gekommen war.

Gerlinde hockte vor ihrem Altar, und meditierte.

Aber sie konnte keinen Frieden in sich finden, sosehr sie es auch versuchte!

Anna hatte vor einer halben Stunde die Akte von Linda Greenwomans Fall durchgelesen. Sie wusste nun, wessen man sie anklagte. Und sie wusste auch, das die Beweiskette auf sehr dünnen Boden stand.

Sie blickte Lindas Mutter an, die gerade aus der Küche kam, und sie fragend anblickte, während sie ein Glas Cola in ihrer rechten Hand hielt, und auf sie zukam. Sie stellte das Glas auf den Tisch, und setzte sich auf die Couch, die etwas nachgab.

„Ich weiß jetzt, warum ihre Tochter angeklagt wird, und ich weiß auch, das da was faul sein muss!“

„Was ist geschehen? Was wirft man ihr vor?“

„Sie soll einen Mann geheiratet und dann umgebracht haben, um seine Lebensversicherung zu kassieren! Die Leiche ist verschwunden, und ein übereifriger ehemaliger Kollege meint, das sie das aus Eifersucht getan hätte, weil er andauend fremd gegangen sein soll! Es gibt jede

Menge Blut, das angeblich vom Opfer stammen sollte, aber keine Leiche, und so was stinkt

zum Himmel!“

„Und was würdest du jetzt tun“, fragte sie Pamela?

„Zuerst einmal versuchen, die Leiche zu finden“, sagte Anna. „Aber das kann ich nicht alleine tun! Ich werde meine beiden Mitschwestern um Hilfe bitten.“

Pamela Grenwoman nickte.

„Und wenn du etwas dazu beitragen könntest“, sagte Anna, „dann nur zu! Wir können jede Hilfe gebrauchen!“

„Ich denke, das ich euch helfen kann“, sagte Pamela, und blickte stoisch.

Wie eine Königin, entfuhr Anna ein Gedanke! Wie eine Königin, diese stolze Haltung!

Sie griff zum Hörer ihres Telefons, und rief Nora und Gerlinde an. Eine Stunde später waren alle in Annas Wohnzimmer versammelt, und planten ihre weiteren Schritte.

Linda Greenwoman saß auf ihrem Bett.

Ihre Finger schmerzten sie, als sie mit kunstvollen Verknüpfungen versuchte, einen Traumfänger für sich herzustellen; indem sie um einen Kreis aus biegsamem Birkenholz ein dünnes Seil legte, und dabei etwas in einer Sprache flüsterte, die niemand in Deutschland zu kennen schien.

Dann war sie fertig, und hängte das Gebilde über ihr Bett, so das keine schlechten Träume von ihr Besitz nehmen könnten.

Sie legte sich auf das Bett, und schloss die Augen.

Längst verdrängte Bilder kamen zu ihr zurück. Bilder von anderen Frauen, die ihr Mann schlug und vergewaltigte, und dazu zwang, sich zu verkaufen. Und eines Tages kam er zu ihr, schlug sie, und vergewaltigte sie.

„Das wird dir von nun an jeden Tag passieren“, sagte er, „wenn du nicht bald anschaffen gehst!“

Sie weigerte sich, und er schlug sie.

Dann kamen seine Freunde, Zuhälter wie er, und vergewaltigten sie. Sie wurde gefesselt und in ein dunkles, übel riechendes Zimmer eingesperrt.

Dann, ihr Mann kam erneut zurück, schlug und vergewaltigte er sie erneut. Dann schlief er betrunken neben ihr ein. Sie sah das Messer, das aus seinem Stiefelschaft hervorlugte, und stahl es heimlich. Sie befreite sie sich von den Fesseln, und dann wachte er auf, als sie gerade den letzten Strick durchtrennt hatte.

Sie stach zu!

Sie wusste nicht, wohin sie stach, aber sie spürte das Blut, das auf ihre Hände und ihr Gesicht spritzte. Dann traf sie ein schwerer Schlag ins Gesicht! Ein Schlag, den sie nicht kommen sah, und der nicht von ihrem Mann kommen konnte! Sie fiel wie ein nasser Sack zu Boden, wo sie später von der Polizei verhaftet wurde.

Also, muss da noch jemand gewesen sein, überlegte sie! Jemand, der sah, wie ich meinen Mann tötete! Und nun werde ich für meine Tat bezahlen! Gut, das meine Mutter das nicht weiß. Wie sehr ich sie als ihre Tochter enttäuscht habe, weil ich das Wissen unserer Ahninnen nicht beachtet habe! Ich wollte unbedingt eine junge, moderne Frau sein, und die Traditionen meines Volkes, der Navajo, verleugnen und vergessen! Wäre ich doch nur zu Hause geblieben!

Anna hatte eine Karte von Berlin auf dem Teppichboden ihrer Wohnung ausgebreitet. Gerlinde hatte ein Bild des angeblich Verstorbenen, das bei der Akte lag, genommen, und ihr Pendel darrübergehalten, damit das Pendel die Schwingungen des Mannes aufnehmen konnte. Sie ging über die Karte Berlins, und sah, wie das Pendel sich kreisförmig bewegte. Die Kreise

zogen sich immer enger und enger, bis sie sich auf einen Punkt konzentrierten.

„Hier ist es“, sagte Anna, und deutete auf einen Punkt auf der Karte.

„Ich kenne den Ort“, sagte Nora. „ Das ist das Hotel Estrel. Da waren meine Mutter und ich oft gewesen, wenn wir einmal ein wenig Zeit ganz für uns brauchten!“

„Aber bevor wir losgehen, sollten wir uns vielleicht überlegen, was wir tun, wenn wir das Opfer quicklebendig und vergnügt vor uns sehen, oder, was die Göttin verhüten möge, seinem Mörder“, schlug Gerlinde vor.

„Und was meinst du“, fragte Nora?

„Ich denke, in diesem Fall sollten wir eine Art „interkontinentale Bewaffnung“ herstellen, um jemanden zu fesseln oder zu stoppen“. Gerlinde blickte Pamela Greenwoman an. „Hast du da was in deiner Trickkiste?“

Pamela nickte.

„Gut“, erwiderte Anna. „Dann zeig uns, wie wir das herstellen und benutzen können, und dann fahren wir zum Hotel Estrel. Es wäre für mich wirklich eine Überraschung, wenn der Mann von Linda wirklich tot wäre!“

Das Lokal war brechend voll.

Frauen standen an der Theke, und tranken Cola oder Bier. Es waren meist Butch- Frauen, wie die maskulinen Lesben genannt werden, die dort wie breitschultrige Holzfäller auf ihren Hockern saßen, und miteinander redeten.

Andere Frauen saßen an den Tischen, tranken, redeten oder spielten Karten. Eine einsame Barpianistin in einem eleganten schwarzen Abendkleid spielte auf einem Klavier, das schon lange keinen Klavierstimmer mehr gesehen hatte. Sie blickte auf die Poster spärlich bekleideter Frauen an den in Pastellfarben gestrichenen Wänden, und spielte „ I kissed a Girl“.

Eine Frau mit hochtoupierten roten Haaren und ovalem Gesicht betrat das Lokal, und wurde von allen begrüßt. Ihre rot lackierten Fingernägel glänzten im fahlen Licht der Lampen, die auf den Tischen standen. Sie war dezent geschminkt, und trug einen Kunstpelz, der sie kleiner erschienen ließ, als sie wirklich war.

Sie ging auf eine Gruppe Frauen zu, die sie mit einem Lächeln begrüßte. Manche umarmte oder drückte sie, und einer gab sie ein angedeutetes Küsschen auf deren Wange.

„Na, wie geht es euch, Mädels“, fragte sie?

„Gut, Vivien, und selbst“, erwiderte eine der angesprochenen Frauen in einem tiefen Bass und erzählte: „Heute vor einem Jahr habe ich zum ersten Mal meine Hormone bekommen, und in zwei Wochen wird mein erstes Gutachten fertig sein“.

„Es geht so“, erwiderte Vivien! „Immer das selbe Problem!“

Die anderen Frauen in der Gruppe nickten zustimmend. Sie alle wussten, was Vivien meinte! Denn sie selbst machten und machen es seit Jahren durch, egal, ob sie Frauen, Männer, oder beide liebten.

Sie waren Frauen, die als Männer geboren wurden. Eine Laune der Natur, eine der vielen Späße, die sich die Natur erlaubte, um den Menschen ihre Vielfalt zu präsentieren. Und sie alle erlebten, das sie abgelehnt wurden für etwas, für das sie nichts konnten, das sie erwählte!

Vivien blickte auf Gaby, mit der sie eben gesprochen hatte.

Gaby war über 50 Jahre alt, und ihre männliche Vergangenheit noch stark sichtbar. Ich stark geschminktes Gesicht verdeckte nur unzureichend den starken Bartschatten, und auch ihr Rollkragenpullover aus Mohaire verdeckte nur unzureichend ihren Adamsapfel und ihre manikürten großen Hände von der Größe eines Bauarbeiters, die sie früher war.

Sie leiden alle darunter, dachte Vivien, und blickte weiter in die Runde der Frauen!

Und auch ich hatte jahrelang darunter gelitten, bis ich den Weg zur Göttin fand, und begriff, das sie mich so liebte, wie ich bin, wo ich mich damals so sehr selbst hasste! Erst durch die Göttin begriff ich, das ich eine Frau war, egal, wie ich aussah, egal, wie tief meine Stimme damals auch war, und egal, wen ich liebte! Nur haben die Frauen, in die ich mich verliebte,

und die mich liebten, das nie verstanden, und sich von mir getrennt, wenn ich ihnen das von mir erzählte. Und bei Anna würde es genauso ablaufen, selbst, wenn ich keinen Auftrag hätte!

Plötzlich merkte sie, wie eine Träne aus ihren Augen sich verstohlen ihre Bahn suchten. Und sie wusste, das sie anfing, sich in Anna zu verlieben, etwas, was ihren Auftrag gefährdete.

Mist, dachte sie! Ich bin doch hier, um Anna und Gerlinde zusammen zu bringen, und nicht mich in meinen Auftrag zu verlieben!

„Wenn die Liebe kommt, meine Tochter“, hörte Vivien die Stimme der Göttin, „dann ist die Vernunft ausgeschaltet!“

„Wem sagst du das“, erwiderte Vivien gedanklich. „Aber wie soll ich meinen Auftrag erfüllen, wenn ich mich in den Auftrag verliebt habe?“

„Indem du daran denkst, wer du bist, und zu wem du gehst, wenn du alles erledigt hast“.

Vivien spürte, wie ein sanfter Hauch ihre Wange berührte.

Sie hat mich geküsst, dachte sie, und erneut flossen Tränen aus ihren Augen!

„Wie weit bist du“, fragte Nora die Indianerin?

„Bald fertig“, erwiderte diese. „Es muss nur noch ein wenig vor sich hin kochen, und dann können wir es abfüllen.“

„Gut“ sagte Anna“, dann werde ich alles für die Abfüllung vorbereiten“.

Anna blickte Gerlinde an. „Hast du einen Spruch im Buch der Schatten gefunden, der uns helfen könnte?“

„Mehr als einen“, erwiderte die Angesprochene. „Ich habe sie auf einen Zettel aufgeschrieben, und ich denke, das wir schon das Passende dabei haben werden!“

Gerlinde schloss das Buch der Schatten, das sie in Annas Wohnung mitgebracht hatte, und gab Anna einen Zettel. Für einen Augenblick berührten sich ihre Hände, und Gerlinde verspürte erneut diese tiefe Sehnsucht nach Anna. Schnell drehte sie sich um, so, das niemand ihre Tränen sehen konnte.

„Ich ruf mal kurz meinen AB an, um zu erfahren, ob mich jemand angerufen hat“, sagte Nora, und begann, in die Tasten von Annas Telefon einzudrücken. Sie hörte zu, und dann legte sie auf.

„Ist was“, fragte Anna?

„Ja! Jens war am Hörer, und bat mich, ihn sofort anzurufen. Darf ich dein Telefon noch einmal benutzen?“

„Mi casa e su casa“, erwiderte Anna, und lächelte Nora an. „Mein Haus ist auch dein Haus“.

Anna bemerkte, wie Noras Augen ihr plötzlich auswichen.

Was hat sie, überlegte sie sich? Hat sie Geheimnisse vor mir?

Sie sah, wie Nora erneut den Hörer des Telefons abnahm, und eine Nummer wählte. Nora drückte einen Knopf, und alle Frauen hörten, was sie besprachen.

„Was ist, Jens“, fragte Nora?

„Nadines Mutter war heute plötzlich vor der Tür erschienen, und wollte ihre Tochter sehen. Wir haben es dummerweise erlaubt, und sie hatte versucht, Nadine zu entführen!“

Nadine! Noras Gedanken wanderten zu ihrem letzten Abenteuer zurück, wo sie Nadine aus den Fängen ihres Vaters befreit hatte; der sie vergewaltigte, und an andere Kinderschänder auslieh, und gleichzeitig ihrer Mutter half, sich von ihrem Mann zu befreien.

„Und, hat sie es geschafft?“

„Glücklicherweise nicht“, erwiderte Jens, einer der beiden schwulen Pflegeväter Nadines. „Sie hat so laut geschrieen, das wir ihr helfen konnten, und unsere Katze Minka hat sie so angefaucht, das die Mutter angst bekam. Wir haben sie erst einmal in der Küche eingeschlossen, und wollten mit dir besprechen, was wir tun sollten!“

„Rechtlich gesehen...“

„Ich weiß“, sagte Jens. „Rein rechtlich gesehen hat sie sich strafbar gemacht und muss

angezeigt und der Polizei übergeben werden. Aber sie ist Nadines Mutter, Nora! Wenn die beiden eines Tages wieder eine Einheit bilden sollen, dann wäre eine Gefängnisstrafe das denkbar Schlechteste, was getan werden könnte!“

„Und was schlägst du vor?“

„Weiß nicht, deshalb hab ich dich ja gefragt!“

„Schick die Mutter doch nach Hause“, warf Anna ein. „ Und schärf ihr ein, das ihr sie das nächste Mal anzeigen werdet, wenn sie sich Nadine auch nur auf einhundert Meter nähern sollte.“

„Wer war das“, fragte Jens?

„Eine Freundin“, erwiderte Nora, und vermied es erneut, Anna anzusehen.

Verdammt, Nora! Warum sagst du nicht, das du meine Geliebte bist, dachte Anna empört? Jens ist doch schwul, soviel ich weiß! Ihm gegenüber hättest du dich doch ruhig outen können! Oder hast du schon dich entschieden? Wenn ja, dann sag es, verdammt noch mal! Ich bin doch kein Monster oder so krank, das frau mich schonen müsste?

„Weiß sie Bescheid“, fragte Jens?

„Ja“, erwiderte Nora, und legte, nach einer kurzen Verabschiedung den Hörer in die Gabel des Telefons.

„Alles ist fertig“, sagte Pamela Greenwoman, „und muss nur noch eingefüllt werden!“

Eine Stunde später, nachdem die Frauen alles vorbereitet, und die Utensilien in eine Umhängetasche gesteckt hatten; fuhren sie ins Hotel Estrel, in der Hoffnung, dort die Wahrheit zu finden, und eine Unschuldige aus dem Gefängnis zu holen.

Es war ein emsiges Treiben, als sie die breite Eingangshalle des Hotels Estrel betraten. Der burgunderfarbene Teppich sah aus, als ob jeder Fussel mit der Hand gesäubert wurde, und die Pagen in ihrer Livree sahen wie aus einem Hollywood- Film entsprungen, aus. Zwei große Palmen, die in riesigen Töpfen mit alten griechischen Mustern steckten, säumten den Eingangsbereich, der zur Rezeption führte. Mehrere Ledersessel und drei Ledercouchs aus imitiertem Rindsleder waren ebenfalls im Raum verteilt.

Ein elegant aussehender Portier mit grauen Haaren und einem Schnurrbart, der ihm etwas Gelehrtenhaftes verlieh, blätterte gerade in einem Buch, und sprach in die Muschel eines Telefons.

„Aber gewiss, Gnädige Frau“, sagte er. „Das Flugzeug fliegt morgen um vier Uhr am Nachmittag über Genf nach New York. Soll ich für sie und ihren Mann gleich zwei Tickets bestellen?“

Anna ging mit Nora zur Rezeption, während sich Pamela und Gerlinde im Hintergrund hielten. Pamela lächelte Gerlinde an, und sagte: „In meinem Volk wärst du heilig, meine Tochter“.

Fragend blickte sie Gerlinde an.

„Ich sage es dir später, wenn wir meiner Tochter geholfen haben. Dann ist genug Zeit, es dir zu erklären.“

Mittlerweile waren Anna und Nora an der Rezeption angelangt, die aus massivem Eichenholz gebaut zu sein schien. „Entschuldigen sie bitte, können sie mir sagen, wo Herr König residiert?“

„Wir haben zwei Herr König“, erwiderte der Portier in einem nasalen Tonfall, der Nora stark an den verstorbenen Schauspieler Theo Lingen erinnerte, den ihre Mutter so sehr liebte. „Welchen von beiden meinen Sie?“

„Er ist jung, etwa 30 Jahre alt, sehr muskulös und er hat blonde Haare, blaue Augen und eine kleine Narbe über dem rechten Auge.“

„Ach, sie meinen Herrn Stefan König! Zimmer 418 in der vierten Etage. Soll ich ihn vorher anrufen?“

„Nein“, erwiderte Anna. „Wir wollen ihn nur einmal kurz überraschen, denn er hat heute

Geburtstag, der Gute. Und wir haben auch ein paar wunderschöne Geschenke für ihn

mitgebracht“. Die Finger ihrer rechten Hand deutete auf die Umhängetasche, die sie an ihre linke Schulter gehängt hatte.

„Na, dann viel Vergnügen, meine Damen“, sagte der Portier. „Ich wünsche ihnen einen angenehmen Aufenthalt im Hotel Estrel“.

„Werden wir bestimmt haben! Danke“, sagten Anna und Nora fast gleichzeitig. Beide drehten sich um, und durch einen verstohlenen Wink signalisierten sie Pamela und Gerlinde, ihnen zum Fahrstuhl zu folgen.

Zwei livrierte Kellner kamen ihnen entgegen, wobei sie ihre Tabletts wie Balletttänzer elegant hin und her bewegten. Der dezente Duft von gefüllten Tauben in Rotweinsoße drang in ihre Nasen, und Anna sah, wie Gerlindes Zunge sachte über ihre Lippen ging.

Kleines Schleckermäulchen, was Gerlinde, dachte sie? Na ja, von irgendwoher musste ja dein Gewicht kommen!

Ihre Erinnerungen wanderten zu dem Tag zurück, als alle drei Frauen sich in einem Wald, in dem es gerade geregnet hatte, trafen. Wie die Göttin sie als Team zusammengestellt hatte, und Gerlinde ihr und Nora später sagte, das sie transsexuell gewesen war.

Ich schäme mich heute für die Vorurteile, die ich damals hatte, dachte sie. Ich habe sie mittlerweile richtig lieb gewonnen, und ich würde ihr ohne weiteres mein Leben anvertrauen!

„Und sonst“, hörte sie fragend die Stimme der Göttin in sich? „Ist das alles, was du für sie empfindest?“

„Was meinst du damit“, fragte Anna gedanklich die Göttin?“

„Na, wie siehst du sie denn, meine Tochter?“

„Meinst du, als Frau?“

„Zum Beispiel“, erwiderte die Göttin.

„Ja, ich sehe sie mittlerweile als Frau, und sogar als Freundin, denn sie hat kaum etwas männliches an sich! Ich denke, da hab ich sogar noch mehr männliche Anteile als sie!“

„Gut, das du das mittlerweile erkannt hast, meine Tochter“, sagte die Göttin, und Anna hatte das Gefühl, das sich die Göttin über sie lustig machte.

Sie waren an dem Fahrstuhl angelangt.

„Welche Etage“, fragte Gerlinde?

„Die Vierte, Zimmer 418“, sagte Nora, und drückte auf den Knopf.

Wenige Augenblicke später öffnete sich die Tür des Fahrstuhls, und ein Mann in der Uniform eines Luftwaffenoffiziers, ein weiterer Mann im Geschäftsanzug, sowie eine elegant angezogene rothaarige Frau mit ovalem Gesicht traten; nachdem eine Frau in Pagenuniform zur Seite ging, heraus. Anna blieb fast das Herz stehen!

Vor ihr stand Vivien.

„Was machst du hier“, stotterte sie?

„Ich wohne hier“, erwiderte die Angesprochene, und zog ihren roten Mantel noch enger an sich.

„Ich muss dich sprechen“, sagte Anna, und Vivien nickte.

„Komm heute Abend in meine Suite“, sagte Vivien, und fügte „Präsidentensuite“ hinzu. Dann verschwand sie aus Annas Blicken.

Sie stiegen in den Fahrstuhl ein, und sagten einer jungen Frau in einer sehr eng sitzenden Pagenuniform, in welche Etage sie wollten. Die Tür schloss sich geräuschlos.

„Wer war das“, fragte Nora, und sie merkte, wie ein leiser Anflug von Eifersucht in ihr hochstieg?

Was soll ich sagen, dachte Anna? Das sie eine „Freundin“ ist? Aber ist sie das? Oder ist sie mehr? Ich fühle mich zu ihr genauso wie zu Nora hingezogen, und ich weiß irgendwie, das ich auch sie liebe. Aber kann ich das Nora sagen? Nora, die mich auch liebt, und so große Angst davor hat, eine Frau zu lieben?

„Sie ist eine Bekannte, die ich in einem Restaurant getroffen habe“, erwiderte Anna zu Nora,

und spürte, wie das Blut in ihr hochschoss. Sie hatte nicht die volle Wahrheit gesagt, das wusste sie, und sie schämte sich dafür. Aber sie meinte, das es zu spät wäre, den Fehler zu korrigieren.

„Vierte Etage“, sagte die freundliche Stimme der jungen Pagin, und sie stiegen aus. Zweifelnd blickte Nora Anna an. Anna wich ihrem Blick aus.

Na, da ist doch mehr zwischen den beiden, dachte Nora! Warum sollte ich also wegen Artur ein schlechtes Gewissen haben?

Stefan König saß auf seinem Bett.

Er war müde, und sein linker Oberarm schmerzte ihn. Diese verfluchte Hexe, dachte er! Was muss sie auch wie eine Irre auf mich einstechen? Wäre sie doch einfach nur auf den Strich gegangen, wie ich es von ihr erwartet hatte, wäre alles nicht passiert! Dann hätten die Jungs sie auch nicht zureiten müssen, um sie kirre zu machen. Und nun hat sie mich am Oberarm und an der Schulter erwicht! Gut, das Doc Michaelsen, unser Kiezdoc, mich gleich verarztet hatte.

Langsam drehte er sich zum Nachtisch, auf dem eine Flasche Scotch und ein Glas standen, und goss sich etwas ein.

Ich musste wegen der Arabergang untertauchen, die ich um ne Menge Kohle gebracht habe, dachte er. Und wenn Elvira mich nicht vor dieser indianischen Furie gerettet hätte, und ihr ein Ding verpasst hätte, wäre ich entweder abgestochen, oder wie ein Sieb von den Arabern durchlöchert worden!

Er trank einen Schluck.

Das ölige Lebenselixier des schottischen Hochlands rann durch seine Kehle, kratzte seinen Hals, und umgab seinen Körper mit einer wohligen Wärme.

Wo Elvira mit dem falschen Pass und der Kohle nur bleibt, fragte er sich?

Der Boden wird mir mittlerweile zu heiß hier! Ich weiß doch, wie brutal die Gang von Ahmed sein kann! Gut, das alle mich für tot halten, und diese Indianerschlampe im Knast versauern wird!

Plötzlich verspürte er Appetit auf Eis.

Er nahm den Hörer des Telefons ab, das auf seinem Nachtisch lag, und wählte eine Nummer.

„Guten Tag“, sagte er. „Ich möchte gerne eine große Portion Erdbeereis mit Sahne und ein Stück ihrer fabelhaften Schokoladentorte auf mein Zimmer haben. Ja genau, Zimmer 418“.

Er legte den Hörer auf, und lächelte.

Linda Greenwoman lag in ihrer Gefängniszelle auf der harten Pritsche. Das fahle Licht des Vollmonds schien in ihre Zelle, und in ihrem Innersten hörte sie entfernt den Gesang der alten Frauen ihres Stammes, die ásdzaá nadleehé, die Urmutter um eine reiche Maisernte baten.

Tränen flossen aus ihren Augen, und sie spürte eine Sehnsucht nach ihrer Heimat, und den Ebenen in der Nähe von Mesa, im Bundesstaat Arizona, die sie so gerne durchritt.

Plötzlich spürte sie, wie etwas sie berührte. Sie blickte sich um, sah aber niemand. Ein leises frösteln zog sich über ihre Haut, die sich aufrichtete.

Ob das jaku lazeé, der Geistkrieger ist, der mich in das Reich der Toten führen wird, überlegte sie? Oder einer meiner gestorbenen Vorfahrinnen, die gekommen ist, um mit mir den Totengesang anzustimmen?

„Nein, meine Tochter“, hörte sie die Stimme einer Frau, die ihr fremd war. „Nichts von alledem! Ich bin gekommen, um dir zu sagen, das du unschuldig im Gefängnis bist, und dein Mann lebt. Du hast ihn verletzt, aber nicht getötet. Deine Mutter und einige andere Frauen sind im Moment dabei, das zu beweisen, und dann wirst du frei sein!“

„Wer bist du, und wo bist du“, fragte Linda Greenwoman die Stimme.

„Ich bin eine mit den Tausend Namen, die Frauen unter so vielen Namen kennen. Du kennst mich unter dem Namen ásdaá nadleehé, der großen Urmutter der Navajos, oder, wie ein Navajo sagen würde, der „diné“, so wie ihr euch selbst bezeichnet!“

„Gibt es dich wirklich, Mutter allen Lebens?“

„Ja, meine Tochter! Mich gibt es, mich gab es, und es wird mich immer geben!“

„Dann bin ich wirklich unschuldig?“

„Ja“.

„Danke für diese Nachricht“, erwiderte Linda Greenwoman, und stimmte einen alten Kriegsgesang an:

Meine Pferde sind viel

wie die Wolken am Himmel.

Ihre Hufe stampfen

Sie wollen den Sieg

Mit dem Gesang auf ihren Lippen schlief sie beruhigt ein.

Annas Hand umklammerte die Umhängetasche. Sie standen vor der Tür des Zimmers 418.

Pamela Greenwomans Faust ballte sie zusammen, so stark, das durch ihre faltige Haut die Muskeln hervortrat.

„Wie geht es jetzt weiter“, flüsterte Gerlinde, und sah Anna fragend an?

„Plan A sieht vor, das wir den Bewohner dieses Zimmers überraschen. Wenn es der Gesuchte ist, und er noch lebt, werden wir ihn festsetzen, und im Falle seines Widerstands ihn etwas magisch bearbeiten, so das er frommer als der frommste Katholik ist.“

„Und wenn Plan A nicht funktioniert, und er nicht drin ist, oder tot? Was, wenn er ein Dämon ist? Ich hab das Buch der Schatten nicht hier, weil du meintest, das wir es nicht brauchen würden. Was ist dein Plan B?“

So eine Angsthäsin, dachte Anna, und lächelte Gerlinde an, um ihr Mut zu machen. Sie geht ungern ein Risiko ein, meine kleine „fürchte mich so sehr“. Und dann wieder ist sie die mutigste Frau, die ich außer mir noch kenne, und riskiert ihr eigenes Leben für andere Frauen. Gerlinde, du wirst mir immer ein Rätsel bleiben!

„Wenn es dich beruhigt, kann ich ja mal vorher kurz reinschauen“, sagte sie. „Allerdings, wenn er mich sieht, ist der Überraschungsmoment am Arsch!“

„Dann lass es uns lieber so machen, wie wir es besprochen haben“, warf Nora ein, und Gerlinde sah, wie Pamela Greenwoman nickte. Annas Hand wanderte zur Tür. Sie klopfte.

„Das wurde aber auch Zeit“, hörten sie eine männliche Stimme hinter der Tür sagen. „Ich verhungere hier ja fast“.

Die Tür wurde geöffnet, und erstaunt blickte sie ein Mann an.

„Was wollen sie“, fragte er mit einem Ton, der gleichzeitig seine Neugier und seine Ungeduld verriet?

„Sie“, erwiderte Anna! „Sie suchen wir! Denn wie wir sehen können, sind sie gar nicht tot! Und wegen ihnen sitzt eine Frau unschuldig im Gefängnis!“

Stefan Königs Faustschlag traf sie unerwartet auf ihr Kinn. Gerlindes Fuß verhinderte, das er die Tür schließen konnte, und die Macht der Frauen drückte ihn in sein Hotelzimmer zurück. Rückwärts stolperte er gegen einen kleinen Schrank im Flur, und schrie schmerzerfüllt auf.

„Das kommt davon, wenn man Frauen benutzen will“, sagte Anna. „Irgendwann rächt es sich immer!“

„Was wollt ihr von mir“, sagte Stefan König?

„Dich dahin bringen, wohin du gehörst“, erwiderte Gerlinde. „Nämlich in den Knast!“

Seine Augen trafen auf Pamela Greenwoman, die er schon aus Arizona kannte. Jetzt ist alles aus, dachte er! Entweder ich komme in den Knast, oder die Araber killen mich! Am besten ist, ich versuch meine Haut so teuer wie möglich zu verkaufen!

„Und was habt ihr vor? Ruft ihr jetzt die Bullen?“

„Aber natürlich rufen wir die freundlichen Helfer in Grün“, sagte Gerlinde, und beobachtete, wie die Hand von Stefan König langsam nach hinten ging.

Scheiße, er hat eine Waffe, dachte sie blitzschnell. Und Anna steht am nächsten zu ihm. Er wird sie als Geisel nehmen wollen. Das muss ich verhindern!

„Er hat eine Waffe“, schrie sie, und warf sich gleichzeitig auf den muskulösen Mann. Ihr Fuß schnellte vor, und traf die Hand des Zuhälters, der gerade ein Messer gezogen hatte. Klirrend fiel das Messer zu Boden. Pamela Greenwoman stieß es mit einem weiten Schwung fort, und Anna packte den Arm des Mannes, und drehte ihn auf seinen Rücken. Schmerzhaft schrie er auf. Blut sickerte aus seinem Hemd. Eine der Wunden, die ihm Linda Greenwoman zugefügt hatte, war wieder aufgebrochen.

Sie bugsierten Stefan König ins Schlafzimmer, und warfen ihn, nachdem sie das Bett untersucht und nichts gefunden hatten, darauf.

Anna holte ein Paar Handschellen aus ihrer Umhängetasche hervor, ein Geschmeide, das sie sonst nur für angenehmere Spiele mit ihren Partnerinnen benutzte, und band die Hände von Stefan König auf dem Rücken zusammen.

„Bleib schön da liegen“, drohte sie. „Sonst wirst du uns wirklich kennen lernen!

Lieber nicht, dachte er! Mit vier Furien will ich mich lieber nicht anlegen, vor allem, wenn wenigstens zwei von ihnen Karate können!

Nora ging zum Telefon, und rief die Polizei an.

„Während wir hier auf die netten Damen und Herren in Grün warten“, sagte Nora“, „könnten wir vielleicht erfahren, was wirklich geschehen ist.“

Zustimmend nickten alle Frauen.

„Aber lass mich das Verhör führen, Nora“, sagte Anna. „Denn schließlich hab ich die meiste Erfahrung von uns!“

Nora nickte.

Anna blickte sich um, und fand einen gepolsterten Stuhl im Stil von Ludwig dem Fünfzehnten nachgemacht, der vor einem altmodisch aussehenden Sekretär stand. Sie nahm ihn, und setzte sich direkt vor dem Bett, auf dem Stefan König immer noch saß.

„Also, was war damals wirklich geschehen?“

„Ohne meinen Anwalt sag ich gar nichts“, erwiderte der Zuhälter, und grinste breit!

„Mein Lieber, ich denke, du verkennst die Situation! Wir müssen uns hier an keine Regeln halten. Wir können mit dir machen, was wir wollen!“

„Aber ihr habt doch die Bullen angerufen!“

„Haben wir das“, warf Nora ein? „Oder nicht vielleicht doch die Wettervorhersage? Übrigens, wenn du nicht bald redest, wird es für dich sehr stürmisch werden!“

Drohend postierte sie sich vor ihm auf. Pamela Greenwoman und Gerlinde stellten sich, ebenfalls mit drohender Gebärde, neben ihr auf.

„Also gut“, sagte er. „Ich werde reden!“

„Ist er nicht brav“, sagte Anna, und bemerkte aus ihren Augenwinkeln, wie Pamela Greenwoman für einen Augenblick den Raum verließ, und mit dem Messer zurückkam, das er fallen lassen musste. Sie spielte mit dem Messer, und blickte Stefan König an, der plötzlich Angst bekam. Er wusste, was Indianer alles mit einem Messer an ihm anstellen könnten!

„Ich red ja schon. Also, ich wollte, das ihre Tochter in meinem Geschäft arbeitet.“

„Der Prostitution“, sagte Anna, und er nickte.

„Und sie wollte nicht, oder?“

Pamelas Hände bewegten das Messer immer schneller zwischen ihren Händen. Wie ein Kaninchen, das von einer Schlange hypnotisiert wird, konnte Stefan König seine Augen nicht von dem Messer in ihrer Hand abwenden.

„Was geschah dann“, fragte Anna?

„Da sie nicht spuren wollte, habe ich sie eingesperrt und geschlagen. Meine Kollegen haben sie dann zugeritten, und dann ich. Ich war ziemlich besoffen gewesen, und sie muss mein Messer geklaut haben, bevor ich aufgewacht bin. Sie muss sich befreit haben, und als ich wieder wach wurde, hat sie auf mich eingestochen. Wenn eine Freundin nicht ihr ein Ding verpasst hätte, wäre ich jetzt tot. Es ist nur gerecht, das sie in der Zelle schmort!“

Plötzlich stürzte Pamela Greenwoman auf ihn zu, und hielt ihm das Messer unter seine Kehle.

„Ich werde dich töten, schön langsam, nach Apatschenart“, sagte sie in Englisch. Jeder in diesem Raum verstand sie, auch Stefan König! Ihre Augen funkelten.

Ich kann sie verdammt gut verstehen, dachte Anna! So einen würde ich am liebsten kastrieren, und sein Teil dem räudigsten Köter zum Fraß hinwerfen! Aber das kann ich nicht tun!

Es klopfte an der Tür.

Nora öffnete, und vor ihr standen zwei uniformierte Beamte.

„Wir haben da was für sie zur Abholung bereitgestellt“, sagte sie. „Es ist ein angeblicher Toter, der von Linda Greenwoman getötet worden sein sollte.“

Nora war wieder zu Hause angekommen.

Nachdem sie den Zuhälter Stefan König der Polizei übergeben, und Anna, Pamela und Gerlinde sich von ihr verabschiedet hatten, fuhr sie in ihre heimatlichen vier Wände. Sie blickte auf den Anrufbeantworter. Sie sah, das sie zwei Nachrichten erhalten hatte, und drückte auf den Wiedergabeknopf.

Die erste Nachricht war von Doktor Novak, der ihr sagte, das er sie in der nächsten Woche zu einem Picknick in der Nähe des Tegeler Sees einladen wollte.

„Und ob ich komme“, sagte sie, und lächelte!

Die zweite Nachricht war von Jens, der sie mit lauter Stimme eindringlich bat, sie anzurufen.

Sie wählte seine Nummer, und als sie sich meldete, hörte sie ein „Na endlich“ von Jens ausrufen.

„Was ist denn passiert“, fragte Nora?

„Nadines Mutter hat sich umgebracht“, sagte Jens, und fing an zu weinen. „Und ich habe sie so schofelig behandelt! Gott, ich schäm mich so!“

„Weiß Nadine es schon“, fragte Nora?

„Ja, aber sie hat nicht geweint! Ich glaube, sie kann jetzt noch nicht weinen, Nora!“

„Das glaube ich auch, nach allem, was sie erleben musste!“

„Kannst du zu uns kommen“, fragte Jens? „Ich glaube, sie wird dich bald brauchen!“

„Natürlich komme ich“, erwiderte Nora. „In etwa einer Stunde werde ich bei euch sein!“

Gerlinde war mit Pamela zu einem Taxistand gegangen.

Anna hatte sie gebeten, Pamela nach ihrer Wohnung zu begleiten. Gerlinde willigte ein, war sie doch neugierig zu erfahren, was Pamela meinte, als sie sagte, das „Menschen wie sie“, in ihrem Volk heilig wären!

„Was wird jetzt mit meiner Tochter geschehen“, fragte Pamela Greenwoman?

„Ich glaube, sie werden erst einmal nachprüfen, ob Stefan König wirklich lebt. Und wenn das feststeht, werden sie nachprüfen, ob deine Tochter in Notwehr gehandelt hat. Und wenn das bewiesen ist, dann wird sie freigelassen werden. Ich denke, einige Tage wird das noch dauern, bis du sie wieder in Freiheit in die Arme nehmen kannst!“

Gerlinde sah, wie Pamela Greenwoman erleichtert aufatmete.

„Ich bin froh, das wir all die Waffen nicht gebraucht haben“, sagte Gerlinde. „Wer weiß, was sonst noch alles geschehen wäre?“

„Er wäre tot gewesen“, sagte die Indianerin.

„Hättest du ihn in dem Zimmer wirklich...?“

„Ihn getötet? Aber ja, natürlich! Aber erst, nachdem meine Tochter frei gekommen wäre!“

Ein leichtes Lächeln umspielte Pamelas Mundwinkeln.

Sie verarscht mich, dachte Gerlinde! Sie hat mir nur die blutrünstige Indianerin vorgespielt, um mich zu foppen!

Sie waren am Taxistand angekommen.

Gerlinde deutete Pamela mit einer Handbewegung, auf dem Rücksitz einzusteigen, was diese sofort tat. Dann setzte sich Gerlinde neben sie, und auf den fragenden Blick des Chauffeurs, gab sie ihm Annas Adresse.

„Sind sie schon lange hier, meine Damen“, begann der Taxifahrer in seinem breiten Berliner Akzent ein Gespräch? „Oder von wo kommen sie her?“

„Vom Mond“, sagte Gerlinde zu ihm, und der Fahrer wusste, das beide Frauen nicht gestört werden wollten.

„Ich mein ja bloß“, sagte er beleidigt!

Wie kann ich die Frage, die mir so am Herzen liegt, ihr stellen, ohne das es in ihren Augen unhöflich ist, überlegte Gerlinde, und vermied es, Pamela Greenwoman anzusehen?

Sie bemerkte durch das Fensterglas, das Pamela sie unentwegt ansah.

„Ich habe auch eine Tochter, die so wie du ist“, begann sie. „In meinem Volk nennen wir sie „Nadleehè“, was in deiner Sprache „gewandelt“ bedeutet. Wir nennen sie auch „Two- Spirit- People“, weil die Urmutter allen Lebens ihnen die Seelen einer Frau und eines Mannes gab. Für uns Navajo sind sie heilig!“

Pamela Greenwoman nahm Gerlindes Hand, und streichelte sie. Dann sagte sie, während sie Gerlinde fest in die Augen sah: „ Schäm dich nie für das, was du bist! Die Urmutter hat dich so gemacht, damit du den Menschen helfen kannst! Sei gesegnet, Schwester!“

Sie umarmte Gerlinde.

Tränen flossen aus deren Augen, und sie flüsterte kaum hörbar: „Blessed be, Sister!“

Schweigend saßen sie nebeneinander, bis sie an ihrem Ziel angekommen waren, und ausstiegen.

Einige Minuten später waren beide Frauen in Annas Wohnung angekommen.

Anna hatte sich von Pamela und Gerlinde verabschiedet. Sie beobachtete, wie beide Frauen die Lobby des Hotels verließen, dreht sich um, und ging auf den Portier zu.

„Wo bitte finde ich die Präsidentensuite“, fragte sie?

„Sind sie angemeldet“, erwiderte der Portier fragend?

„Ich werde schon erwartet, und wenn sie keinen Ärger haben wollen, dann sagen sie mir, wo die verdammte Suite ist?“

Die leicht heraufgezogene Augenbraue des Portiers deutete ihr an, das sie sich wohl etwas im Ton vergriffen hatte. Aber das war ihr egal!

„In der vierten Etage gibt es einen separaten Fahrstuhl, der sie direkt in die Präsidentensuite bringen wird“, sagte der Portier in einem Tonfall, der seine Missbilligung überdeutlich ausdrückte. „Sie können ihn nur benutzen, wenn sie den dazugehörigen Code eingeben. Der Code wird aber nur von mir persönlich oder den Gästen der Präsidentensuite eingegeben.“

Anna spürte, wie langsam die Wut in ihr hoch kroch.

Was denkt dieser Schnösel sich eigentlich, dachte sie? Ich will nicht in Fort Knox einbrechen, sondern nur Vivien besuchen!

„Wissen sie was“, sagte Anna entnervt. „Geben sie mir Viviens Nummer, und ich ruf sie an.

 Dann kann sie mich selbst am Fahrstuhl abholen!“

„Eine ausgezeichnete Idee“, erwiderte der Portier, und versuchte, die nasale Stimmlage eines snobistischen Briten zu treffen.

Du solltest noch viel üben, mein Kleiner, dachte sie, und wartete darauf, das der Portier ihr Viviens Nummer gab.

Einen Augenblick später wählte sie in der Lobby in einer kleinen Telefonzelle, die Nummer Viviens.

„Hallo, wer spricht da“, hörte sie die sanft rauchig erotische Stimme Viviens, die sie seit ihrem ersten Zusammentreffen in einem jugoslawischen Restaurant so sehr anzog.

„Hier ist Anna“, erwiderte sie. „Ich habe meine Arbeit schon getan, und würde jetzt gerne mit dir sprechen.“

„Dann hole ich dich am Fahrstuhl am besten ab“, sagte Vivien!

„Ist okay, ich werde gleich da sein!“

Noras Wagen hatte vor dem Haus von Jens und seinem Mann Lothar angehalten.

Durch die zugezogenen Gardinen schien das Licht, und Nora hörte einen Fernseher, der irgendwo in einem anderen Haus lief.

Zögernd ging sie auf das Haus von Jens und seinem Partner zu, der sie bereits an der halb geöffneten Tür erwartete. Ihr geöffneter schwarzer Wollmantel wehte leise im Takt des Windes.

„Gut, das du da bist“, sagte Lothar, und unterdrückte nur mühsam eine Träne, die sich verstohlen aus seinem linken Auge ihre Bahn über die Wange suchte. Er umarmte sie kurz, und bat sie herein.

Nora zog ihren Mantel aus, und gab sie ihm. Lothars Hand ging zu einem Bügel, der an einem Kleiderständer in der Eingangshalle hing, und hängte Noras schwarzen Wollmantel auf.

„Wo ist sie“, fragte sie Lothar?

„Im Wohnzimmer bei Jens“, sagte er. „Jens ist total fertig und Nadine redet kein einziges Wort!“

Gemessenen Schrittes ging sie, begleitet von Lothar, in das Wohnzimmer. Sie blickte sich um. Es hatte sich seit ihrem letzten Besuch nichts geändert. Der schwere rustikale Eichenschrank, nussbraun lasiert, stand immer noch in der linken Ecke, genauso wie der große Wohnzimmertisch, die beiden mit rotem Samt überzogenen Sessel, in der Mitte des Raumes, oder die Kopien alter Meister, die an den Wänden in vergoldeten Rahmen hingen,

Nadine saß auf einem roten, mit goldenen Bordüren umrandetem Samtsofa, und blickte auf den Boden. Jens saß neben ihr, und blickte sie wortlos an.

Er weiß nicht, was er sagen soll, dachte Nora, und blickte ihn voller Mitleid an.

Sie setzte sich auf den freien Platz neben Nadine, während sich Lothar in einen der freien Sessel setzte, und alle ansah.

Nora ergriff Nadines Hand, und drückte sie sanft.

„Nadine, wie geht es dir“, fragte sie, und bemerkte, wie Nadines Augen sich mit Tränen füllten.

Wein nur, kleine Nadine! Wein nur, dachte sie. Wenn du weinst, lässt du deinen Kummer heraus, und erstickst nicht daran.

„Warum“, fragte Nadine? „Warum hat sie das getan?“

„Weil sie mit ihrer Schuld nicht mehr leben konnte, Nadine! Sie wusste, das sie weggesehen hatte, wenn dein Vater wieder einmal zu dir kam. Sie wusste, das sie dich nicht beschützt hatte, und als sie sich von deinem Vater befreit hatte, wurde ihr das bewusst, und sie wollte alles wieder gut machen. Und dann sah sie, das sie das nicht konnte, sah, wie Jens und Lothar nicht wollten, das sie zu dir kommt, bevor es dir nicht besser geht, und das empfand sie als Strafe.“

„Warum durfte Mama nicht zu mir kommen“, fragte Nadine?

„Weil es dir noch nicht so gut geht, und wir wollten, das es dir gut geht. Du brauchst viel Kraft in der Zukunft, und wir wollten nur, das du dich erholst.“

„Und dazu durfte niemand von deiner Familie hier sein“, warf Jens ein.

„Aber Papa war doch der Böse, und nicht Mama“, sagte Nadine, und fing an zu weinen.

Nora legte tröstend ihren linken Arm um Nadines Schulter. Sie spürte ihre Nähe, und ihre Traurigkeit, und zum ersten Mal in ihrem langen Leben fühlte sie sich hilflos.

Nadine drehte sich zu ihr um. Ihre Augen blickten sie durchdringend an. Es schien Nora, als ob Nadine in die Tiefe ihrer Seele blicken würde.

Das machte ihr Angst!

Hör auf damit, Nadine, dachte sie. Ich ertrage das nicht!

Sie wendete ihren Blick von Nadine ab, blickte Lothar an, und sagte zu ihm: „ Hast du etwas vom Gericht wegen ihrem Vater gehört?“

„Nur, das seine Verhandlung im nächsten Monat beginnen sollte. Also, nicht sehr viel Zeit sie zu stabilisieren und vorzubereiten.“

Nora spürte, wie Nadines Hand am Ärmel ihrer Bluse zupfte.

Sie drehte sich zu ihr um. „Ja, was ist, Nadine“, fragte sie?

„Kann ich bei dir bleiben, Tante Nora?“

Nora war überrascht!

Was soll ich darauf antworten, überlegte sie?

Ich mag sie, aber als Dienerin der Göttin habe ich kaum Zeit, mich um ein kleines Kind zu kümmern. Und außerdem bin ich nicht der „Mutti- Typ“, sondern brauche meine Freiräume!

„Bist du dir sicher“, hörte sie die Stimme der Göttin in ihren Ohren?

„Mit Kindern kann ich nichts anfangen“, erwiderte Nora! „Darum habe ich ja auch nie geheiratet!“

„Ja, und alle Politiker sind ehrlich“, erwiderte die Göttin. „ Und natürlich hat das überhaupt nichts damit zu tun, das du ohne Vater aufgewachsen bist, und das dein Vater ein Dämon war, wenn auch ausnahmsweise mal ein Guter!“

„Nein, überhaupt nicht! Meine Mutter hat mich alleine großgezogen, und...“

„War selten zu Hause“, vollendete die Göttin den Satz Noras. „ Und deswegen meinst du, keine gute „Mutter“ für Nadine zu sein. Hast du mal darüber nachgedacht, das du sie genauso brauchen könntest, wie sie dich?“

„Wieso sollte ich sie brauchen“, fragte Nora?

„Weil sie dich einiges lehren kann, Dinge, die du längst vergessen hattest!“

Die Stimme der Göttin verschwand, und Nora blickte Nadine an.

Was sage ich ihr nur, um ihr nicht weh zu tun, überlegte sie?

Nadines Hand ergriff Noras Arm, und drückte fest zu.

„Bitte Tante Nora“, sagte sie, wobei sie Nora flehendlich ansah. „Darf ich bei dir bleiben?“

„Das geht nicht, Nadine! Ich bin oft unterwegs, und wenig zu Hause, und könnte nicht so für dich sorgen, wie es Jens und Lothar tun!“

Sie legte ihre Arme um Nadine, und sagte: „Aber trotzdem werde ich dich so oft besuchen, wie ich kann! Versprochen, Nadine!“

Nadine lächelte, aber es war ein trauriges Lächeln, das Nora im Halse stecken blieb.

Gerlinde und Pamela Greenwoman hatten es sich in Annas Wohnzimmer gemütlich gemacht.

Beide saßen auf Annas breiten Ledercouch, Pamela mit einem Glas Cola, und Gerlinde mit einem Becher Saft in der Hand, während der Fernseher die Wiederholung einer Fernsehshow brachte.

Beide hatten ihre Füße auf den Tisch gelegt, nachdem sie alte Zeitungen auf den Tisch gelegt hatten, und Gerlindes Fuß stieß leicht an die verschlossene Colaflasche, die dicht neben ihr

stand.

„Uups! Das wäre beinahe schiefgegangen“, sagte Gerlinde, und Pamela antwortete: „ Gut, das die Flasche verschlossen war!“

Schweigend saßen beide Frauen so eine Weile nebeneinander, und blickten auf den Bildschirm, wo gerade ein Ballett nach einem alten Song der Beatles tanzte. Jede der Frauen hing ihren eigenen Gedanken nach. Gerlinde dachte an ihre unerfüllte Liebe zu Anna, und Pamela Greenwoman an ihre Tochter im Gefängnis.

„Was geschieht jetzt mit meiner Tochter“, unterbrach plötzlich Pamela das Schweigen? „Wann werde ich sie wieder nach Hause mitnehmen können?“

„Ich denke, so ein oder zwei Tage wird es noch dauern“, erwiderte Gerlinde. „Weißt du, hier in Deutschland ist alles sehr bürokratisch, und es müssen viele Papiere und Untersuchungen geschehen. Aber es kann auch länger dauern, wenn der Staatsanwalt ihre Notwehrsituation nicht erkennen will, oder er sie trotzdem wegen Totschlag oder Körperverletzung anklagen will!“

Gerlinde sah, wie das Gesicht Pamelas erbleichte.

„Aber so, wie es aussieht, rechne ich nicht mit Komplikationen!“

Sie lächelte Lindas Mutter an. „Kopf hoch! Das, was wir tun konnten, haben wir getan, nun liegt alles in ihrer Hand!“

Vivien wartete schon am Fahrstuhl, als Anna die wenigen Stufen, die zum Fahrstuhl führten, erreicht hatte. Ihre roten Haare trug sie offen, und ihr schwarzer Hosenanzug wirkte an ihr so elegant, als ob sie ein Modell wäre, das gerade über einen Laufstieg lief.

Sie sieht hinreißend aus, dachte Anna, und umarmte Vivien, deren Körper steif wirkte. Was ist los mit ihr?

Ein unangenehmer Verdacht kam in ihr hoch.

Sie will mich jetzt abservieren, und weiß nicht, wie sie es anfangen soll, überlegte sie messerscharf!

„Dann lass uns mal nach oben gehen“, sagte Vivien, und holte eine Scheckkarte aus ihrer rechten Jackentasche, die sie in einen Schlitz steckte. Fast geräuschlos öffnete sich die Fahrstuhltür.

Vivien ging als Erste hinein, und Anna folgte ihr.

In der Enge des Raumes spürte Anna, wie der Duft von Bergamotte und Vanille sie leicht umnebelte. Sie spürte, wie ihr plötzlich heiß wurde.

Hoffentlich sind wir bald da, dachte sie. Lange halte ich das nicht mehr aus, sonst garantiere ich für nichts!

Vivien drückte auf einen Knopf, und die Tür des Fahrstuhls schloss sich. Langsam setzte sich der Fahrstuhl in Bewegung.

„Wir werden bald da sein, und dann können wir in Ruhe reden“, sagte sie zu Anna, ohne Anna anzusehen.

Wie ich schon dachte, sie wird mich abservieren, kaum, das wir uns kennen gelernt haben! Und das, wo ich noch nicht einmal weiß, was mit Nora und mir sein wird, überlegte sie!

Wenige Augenblicke später hielt der Fahrstuhl an, die Tür öffnete sich, und Anna sah den Raum, in dem Vivien lebte.

Der Raum war riesig, in hellen Pastellfarben gestrichen, und mit edlen Möbeln ausstaffiert. Annas Blick wandte sich nach links, wo ein Chippendale- Sekretär nebst passendem Stuhl stand. Daneben ein breiter Tisch, auf dem ein TV- Gerät, ein Videorecorder und ein DVD- Player standen. Auf dem Boden einige Hüllen von Videos und DVDs, sowie eine Fernsehzeitung.

In der Mitte des Raumes ein ledernes Ecksofa, und ein Tisch aus Holz aus dem Regenwald.

Na, überlegte Anna, sehr umweltbewusst scheint das Hotel ja nicht zu sein!

Ganz rechts war eine Tür, die, wie Anna richtig vermutete, zum Schlafzimmer und zum Bad führte.

„Setz dich doch“, sagte Vivien. „Kann ich dir was bringen?“

„Wenn du ein Bier hast?“

„Ich wusste ja, das du kommst, also habe ich welches besorgt“, erwiderte Vivien, und lächelte Anna an.

Dieser Blick voller Zärtlichkeit verwirrte Anna.

Ich denke, sie will mich abservieren, dachte sie? Und jetzt sieht sie mich an, als ob sie mich am liebsten verschlingen könnte? Weißt du den nicht, was du willst, Vivien?

Vivien kam mit einer Flasche Original Pilsener Bier, einem Glas und einer kleinen Schüssel, in denen Kartoffelchips lagen, zurück. Sie stellte alles auf den Tisch, und setzte sich auf die Couch so, das ein wenig Platz zwischen beiden war.

„Und, trinkst du nichts“, fragte sie Vivien?

„Nein, ich muss jetzt einen klaren Kopf behalten, sonst passiert ein Unglück“, erwiderte diese!

„Welches Unglück“, fragte Anna?

„Das ich mich in dich unsterblich verlieben würde, und das darf nicht sein!“

„Warum nicht?“

„Weil es dafür mehrere Gründe gibt!“

„Und welche? Göttin, lass dir doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen!“

Anna spürte, wie sie wütend wurde.

Seit ihrer Kindheit hasste sie es, wenn jemand um den berühmten „heißen Brei“ herumredete, und nicht zur Sache kam.

„Ich kann und darf dir nicht alle Gründe nennen, aber ein Grund kann ich dir nennen!“ Sie machte eine Pause, und Anna sah, wie sie mit sich kämpfte, ihr etwas zu sagen, was ihr unangenehm war.

Aber was konnte das schon sein, überlegte sie? Sie wird wohl kaum jemand getötet oder betrogen haben, und eine schreckliche Krankheit hat sie wohl auch nicht. Also, was kann denn so schlimm sein, das sie es mir beichten muss?

„Also, um es kurz zu machen, ich war früher einmal transsexuell!“

Anna hatte plötzlich das Gefühl, als ob sich der Boden unter ihren Füßen drehen würde.

Was hatte sie gesagt? Das sie transsexuell war? Transsexuell wie Gerlinde meine Mithexe?

Aber das kann doch nicht sein, überlegte sie! Sie sieht so weiblich aus, spricht und denkt weiblich, nein, sie muss eine Frau sein!

Fragend und zweifelnd blickte sie Vivien an, und sie sah die Tränen, die an ihrer Wange herunterflossen. Sie wusste nicht, was sie fühlen, was sie denken, was sie sagen sollte. Sie stand auf.

Was soll das alles, dachte sie? Warum will sie mich verspotten? Sie blickte zu Vivien hinüber, die weinend auf der Couch saß, und den Kopf gesenkt hielt, wie jemand, der sich schämte.

Plötzlich begriff sie, das Vivien sie nicht angelogen hatte, und das es stimmte! Sie war transsexuell gewesen!

„Warum hast du mir das nicht eher gesagt, Vivien“, platzte es aus ihr heraus? „Hätte ich das gewusst...“

„Hättest du dich nie auf mich einlassen können, ich weiß!“

„Und das mit recht“, sagte Anna bestimmt! „Ich will mit einer Frau zusammen sein, die als Frau geboren wurde, die sich anfühlt, wie eine Frau, die riecht und schmeckt wie eine Frau! Die als Frau sozialisiert ist, die denkt und fühlt, wie eine Frau, die...“

„Wie fühlt und denkt eine Frau, Anna“, unterbrach sie Vivien? „Ist das, wie du aussiehst, wie du denkst und handelst, nicht eher so, wie sich Männer verhalten?“

Anna ging mit schnellen Schritten auf Vivien zu, und noch ehe diese es realisiert hatte, spürte Vivien zwei heftige Ohrfeigen in ihrem Gesicht.

„Ich bin eine Frau, Vivien! Eine Frau, hörst du! Kein Mann oder eine nachgebaute Frau wie

du!“

Sie ging zum Fahrstuhl, der immer noch geöffnet da stand, sprang herein, und drückte auf den Knopf, der sie wieder nach unten bringen sollte.

„Du hättest es mir sagen sollen, Vivien“, sagte sie, als sich die Tür des Fahrstuhls schloss.

Wütend verließ sie das Hotel.

 

 

„Meine Damen und Herren, der Flug nach Tucson, Arizona, über Seattle, Washington und San Francisco in Kalifornien wird etwa dreißig Minuten Verspätung haben. Wir bitten sie um etwas Geduld!“

Die melodiöse Stimme der Ansagerin wurde durch die blechern klingenden Lautsprecher verunstaltet, klangen aber immer noch schön.

„Wir müssen noch etwas warten“, sagte Anna zu Pamela Greenwoman und ihrer Tochter Linda, die sie vor zwei Tagen am Gefängnistor abgeholt hatten; , nachdem der Staatsanwalt auf „Notwehr“ von seiner Einschätzung gegangen, und dem Steuerzahler einen nutzlosen, teuren Prozess ersparen wollte.

Beide Frauen lächelten.

„Schade, ich hätte mit euch allen gerne eine Berliner Sause gemacht“, warf Nora ein. „Aber was nicht ist, kann vielleicht noch werden!“

„Was haltet ihr davon, das wir unsere Gäste zu einem zünftigen Berliner Essen einladen“, fragte Gerlinde? „Immerhin ist noch genug Zeit für eine Berliner Currywurst!“

„Aber nicht genug Zeit, um zum Prenzlauer Berg zu Konopke zu fahren, denn das Beste ist gerade gut genug, für unsere Gästinnen aus den USA“, sagte Anna, und sah, wie Linda Greenwoman auf sie zukam.

„Danke, das du mir geholfen hast, die Wahrheit zu finden“, sagte diese. „Und Danke auch an alle deine Freundinnen!“ Sie nickte Nora und Gerlinde zu, die verlegen lächelten.

„Ach, das war doch selbstverständlich“, sagte Nora, und Gerlinde warf ein: „ Dafür sind wir ja da!“

„ Wenn niemand Hunger hat, dann lass uns doch schon einmal zur Fluggesellschaft gehen, damit Pamela und Linda in Ruhe einchecken können“, schlug Gerlinde vor. Alle Frauen nickten.

Pamela Greenwoman nahm ihr kleines Reisebündel, indem außer einigen Pflegemitteln für ihre Zähne und ihre Haare, etwas Unterwäsche und ein Kleid zum wechseln drin war. Es war so leicht, das sie es nach Indianerinnenart über die linke Schulter warf, ein Ende festzurrte, und einen von Lindas Koffern in ihre rechte Hand nahm.

Ihre Tochter nahm einen grauen Schalenkoffer, und eine große Reisetasche, und Gerlinde und Anna trugen je ein Paket; das sie beiden Frauen zum Abschied geschenkt hatten, aber das sie erst aufmachen sollten, wenn sie in den USA glücklich angekommen waren.

Nora, Anna und Gerlinde hatten zusammengelegt, und für Pamela einen silbernen Kelch mit dem Symbol der Göttin, und für Linda ein Buch in Englisch über die Geschichte der Navajo.

„Vielleicht wird sie dann ihr Erbe mehr zu schätzen wissen“, sagte Nora?

„Ja, und auch das Wissen ihrer Mutter“, sagte Gerlinde, als sie begannen, die Geschenke einzupacken.

Wenige Minuten später waren sie vor dem Schalter der Delta Airlines angekommen.

Eine Menschentraube stand vor den beiden Stewardessen, die freundlich lächelnd die Passagiere des Fluges 218 nach den USA eincheckten.

„Es ist Zeit, Abschied zu nehmen“, sagte Anna, und ging auf Pamela Grennwoman zu. Sie umarmte sie, und drückte sie fest an sich.

„Danke, das ich dich kennen lernen durfte“, sagte sie, und ging zu Linda, die sie ebenfalls umarmte. „Pass gut auf dich auf, Linda“, sagte sie. „Und wenn ein Mann zu frech werden

sollte, dann weißt du ja, was du tun musst, oder?“

Sie lächelte, als sie das sagte.

Nora war die Nächste, die sich verabschiedete, danach Gerlinde.

Als Linda und Pamela Grennwoman die Gangway entlang gingen, bemerkte Nora, das Anna Tränen herab liefen, während Gerlinde ein Taschentuch in ihre Hand nahm, und beiden Frauen zum Abschied noch einmal zuwinkte.

„Du weinst ja! Vermisst du sie?“

„Ja! Zur Hölle, ja noch mal! In den vergangenen zwei Tagen habe ich, haben wir, viel über den magischen Weg der Navajos gelernt. Pamela ist eine gute Lehrmeisterin! Und ja, ich vermisse sie! Vielleicht werden sich unsere Wege eines Tages wieder kreuzen?“

„Das hoffe ich auch“, sagten Gerlinde und Nora gleichzeitig.

„Na, jetzt seid ihr zwei es aber einmal, die hier auftreten wollen“, sagte Anna, und lächelte.

Dabei war ihr nicht zum Lachen zu Mute! Sie wusste immer noch nicht, wie Nora zu ihr stand, und die Beichte Viviens hatte sie vollends aus der Bahn geworfen.

Anscheinend bin ich in Liebesdingen ne totale Niete, und kann noch nicht einmal richtig gucken, sinnierte sie mit ihren kleinen grauen Zellen! Ich hab nicht gemerkt, wer Vivien wirklich war, und was Nora denkt und fühlt, kann ich auch nicht erraten! Anna, du musst wohl erneut auf die lesbische Schule gehen, und alles wieder von vorne lernen! Wie frau eine Frau anmacht, mit ihr flirtet, sie ins Bett bringt, mit ihr ohne großen Stress lebt, und wie sie eine geborene Frau von einer transsexuellen Frau unterscheidet. Letzteres wohl am meisten!

Eine Stunde später.

Nora war nach Hause gekommen. Müde, als sie sich auf ihrer Couch lang streckte, die flachen Schuhe von ihren Füßen streifte, das kleine Kopfkissen zurechtrückte, die Zudecke nahm, um sich zuzudecken, und dann einschlief.

Sie schlief unruhig, hatte einen Traum.

Sie sah Nadine und ihre Mutter, sah, wie Nadines Mutter sie in einen reißenden Strudel ziehen wollte. Jens und Lothar, die beiden schwulen Pflegeväter standen am Ufer, und blickten tatenlos zu. Die Wellen des Meeres schlugen immer höher und bedrohlicher. Nadine schrie vor angst, als sie aus der Tiefe des Meeres ihren Vater kommen sah, der, der sie all die Jahre vergewaltigt hatte.

Nora hörte, wie Nadines Vater nach ihr rief, und sie sah, wie Nadine sich gegen die Wellen und ihren Vater sträubte, und ihre Mutter versuchte, Nadine zu ihrem Vater zu ziehen.

„Komm, Nadine“, hörte sie die Stimme von Nadines Mutter. „ Es wird Zeit, das du wieder zu uns kommst.“

Ihre Beine bewegten sich, und sie sprang ins Wasser, und kräftige Stöße brachten sie zu Nadine.

„Nadine geht nicht mehr zu euch“, sagte Nora. „Sie bliebt ab jetzt bei mir!“

Die Hand von Nadines Vater schnellte vor.

Er wollte nach Nadine greifen, doch Nora war schneller....

Da klingelte das Telefon.

Schlaftrunken griff Nora zum Hörer.

„Ja, wer ist da“, fragte sie, und blickte auf die Uhr? Es war kurz nach Mitternacht!

„Hier ist Lothar, und Nadine ist abgehauen. Wir machen uns Sorgen um sie. Vielleicht kommt sie noch zu dir, weil sie das ja auch wollte?“

„Wenn sie kommen sollte, rufe ich euch sofort an“, sagte sie, und legte auf.

Sie stand auf und ging in ihre Küche, wo sie sich eine Tasse starken Kaffee und ein kräftigendes Sandwich machte.

Dann ging sie ins Wohnzimmer, und setzte sich auf ihre Couch. Sie wusste, das sie nicht mehr einschlafen konnte. Zu sehr dachte sie über den Traum und Nadine nach.

Was bedeutet dieser Traum, fragte sie sich? Soll ich wirklich die Verantwortung für Nadine übernehmen, wo ich doch ein so gefährliches Leben führe? Was ist, wenn Hanim oder ein anderer Dämon sich Nadine schnappt, um mich zu erpressen? Ich würde es mir nie verzeihen, wenn ihr etwas zustoßen würde!

Sie schaltete den Fernseher an, aber auch der brachte keine Abwechslung. Sie stand auf, und blickte aus dem Fenster in die klare Nacht.

„Wo bist du nur, Nadine? Wir machen uns alle Sorgen um dich!“

Das Telefon klingelte erneut.

Sie sprang wie eine Tigerin, die ihr Junges vor einer tödlichen Gefahr beschützen wollte, zum Telefon, und riss den Hörer hoch.

„Ja, ist sie wieder bei euch?“

„Wovon redest du, Nora“, hörte sie die vertraute Stimme Annas fragend?

„Nadine ist verschwunden, Anna! Sie ist ausgebüxt, und Jens und Lothar meinen, das sie vielleicht zu mir will“.

Schlechtes Timing, dachte Anna!

Ich habe echt eine Riesenbegabung für schlechtes Timing und Fettnäpfchen! Ich wollte mit ihr wegen uns reden, ihr sagen, das ich nicht mehr allzu lange auf sie warten will, und sie hat die Ohren mit anderen, wichtigeren Dingen voll.

Ich muss wirklich noch mehr an meinem Timing arbeiten!

„Kann ich dir irgendwie helfen“, bot sie Nora an?

Vielleicht machen wir mit Nora das gleiche, was wir mit dem Exmann von Linda gemacht haben, um sie zu finden?“

„Aber dazu müssten wir etwas haben, was ihr gehört, oder das sie benutzt hat“, warf Nora ein. „Und außerdem, vielleicht haben Jens und Lothar recht, und Nadine kommt zu mir?“

„Wollen wir hoffen, aber wenn du mich brauchst, ruf einfach an, ich bin immer für dich da!“

„Danke für dein Angebot, Anna. Aber ich glaube nicht, das es nötig sein wird!“

„War ja nur ein Vorschlag!“

„Trotzdem danke dafür, Anna!“

„Gern geschehen!“

Sie legten auf.

Warum wolltest du meine Hilfe nicht, Nora? Annas Gedanken begannen zu kreisen. Eifersucht stieg in ihr hoch. Warum kannst du nicht sagen, das du jemand anders hast? Dann könnte ich wenigstens versuchen, um dich zu kämpfen!

Nora hatte den Hörer aufgelegt.

Anna!

Ich muss unbedingt mit ihr sprechen, überlegte sie! Am besten, wenn Nadine in Sicherheit ist!

Aber was soll ich ihr sagen? Das ich sie nicht mehr liebe, obwohl das nicht stimmt? Das ich auch einen Mann liebe, etwas, was ihr das Herz brechen würde? Und das ich nicht weiß, für wen ich mich entscheiden soll?

Für das aufregende Leben mit einer Frau die mich liebt, und ich sie? Oder das gesellschaftlich anerkannte Leben mit einem Mann, ohne Diskriminierung und ohne Gewalterfahrung? Was soll ich ihr sagen? Was kann ich ihr sagen? Was und wie ihr sagen, ohne ihr weh zu tun?

„Da hast du aber ein Riesenproblem, meine Tochter“, hörte sie die vertaute Stimme der Göttin in ihrem Ohr!

„Und was für eines“, erwiderte Nora! „Warum muss Liebe nur so kompliziert sein? Warum kann ich nicht Anna und Artur zur selben Zeit lieben?“

„Weil weder Anna noch Doktor Nowak das mitmachen würden!“

„Und dann auch noch Nadine! Sie ist weggelaufen, und ...“

„Wird in etwa fünf Minuten an deiner Tür stehen“, vollendete die Göttin ihren Satz!

„Soll ich sie wirklich zu mir nehmen“, fragte Nora? „Bei all den Gefahren, denen wir drei ausgesetzt sind?“

„Lass dein Herz sprechen, meine Tochter, und es wird die richtige Entscheidung sein!“

Nora spürte, wie die Göttin verschwand.

Ich hasse es, wenn sie mich zurück lässt, ohne mir etwas Konkreteres zu sagen, als das ich auf mein Herz hören soll, dachte sie! Das ist, als ob sie die Hälfte der Backzutaten verschweigt, und mir dann die Schuld gibt, wenn der Kuchen misslingt!

„Alles, was du brauchst, um eine Entscheidung treffen zu können, hast du in dir, genauso, wie die Fähigkeit, eine gute Adoptivmutter, Lehrerin oder Hexe zu sein“, hörte sie die Stimme der Göttin! „Es liegt bei dir, wie du damit umgehst!“

Sie hörte, wie jemand an der Türklingel schellte.

Das ist sie, durchzuckte sie ein Gedanke, und ihr Herz machte einen Sprung!

Sie ging zur Tür, und blickte durch den Spion. Nadine stand da, zitternd und nur mit einem dünnen roten Kleid und weißen Lackschuhen bekleidet.

Nora öffnete die Tür, und Nadine sprang ihr entgegen, und hielt sie fest! So fest, als ob sie Nora niemals wieder los lassen würde! Nora umarmte sie, und Tränen flossen über ihre durch Sorge gekennzeichneten bleichen Wangen.

„Da bist du ja“, sagte sie! „Wir haben uns alle schreckliche Sorgen um dich gemacht!“

„Kann ich bei dir bleiben, Tante Nora“, fragte Nadine, und blickte sie mit ihren großen Kinderaugen an?

Und da begriff sie, das sie dieses kleine Wesen Mensch liebte, und für sie sorgen wollte!

Ihr Herz hatte zu ihr gesprochen!

„Natürlich kannst du das, Nadine“, sagte sie. „Aber erst rufen wir Jens und Lothar an, damit sie sich keine Sorgen mehr machen brauchen, und morgen fahre ich mit dir zum Jugendamt, damit du für immer bei mir bleiben kannst!“

Zwei Stunden später schliefen Nora und Nadine in Noras breiten Bett eng aneinandergekuschelt ein.

Durch das offene Fenster schien ein leuchtender Stern. Und eine Stimme, die aus der Ferne des Universums zu kommen schien, sagte: „ Nora, sie wird deine Schülerin und deine Lehrerin sein. Ich habe sie dir gegeben, damit du weißt, wer du bist, und dir zu helfen, deinen Weg zu finden, und eine Entscheidung für dich zu treffen. Sei gesegnet, meine Töchter!“

Und der Stern verschwand in der Dunkelheit der Nacht.

 

 

 

 

 

ENDE

 

 

Wer gab Vivien den Auftrag, sich um Anna zu kümmern?

Wer ist daran interessiert, das Anna und Gerlinde ein Paar werden?

Wie reagiert Anna auf das Bekenntnis von Vivien, transsexuell zu sein?

Wird Nora sich für Anna oder Dr. Nowak entscheiden?

Was wird mit der kleinen Nadine geschehen?

Wenn Ihr auf diese und weitere Fragen eine Antwort sucht, dann versäumt nicht die nächste Folge der „Macht der drei Hexen“!

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