Sie hatte Durst, und ihr Rucksack aus Jute schmerzte sie, aber sie musste noch etwas warten, bis sie an einem kleinem Bach mit frischem Quellwasser kommen würde, um ihn zu stillen.

Leise pfiff der Wind durch die Wipfel der Bäume, die auf ihrem Weg lagen. Wie eine Melodie aus längst vergangenen Tagen, geheimnisvoll und doch so vertraut.

Ihre braunen Augen wanderten zum Himmel, und sie versuchte, zu hören, was die Göttin des Windes, die Botin der Luft ihr sagen wollte.

Sie hörte nichts, und das beunruhigte sie!

War sie schon so alt, das sie nicht mehr die Stimmen der Elemente hörte?

Hatte Artemis, die Göttin mit den unzähligen Namen, die doch immer nur die Eine war, ihre Gunst ihr entzogen?

Sie allein gelassen?

Sie dachte intensiv über ihr Leben nach, aber sie fand nichts, was Anlass für ihre Vermutung hätte geben können!

Sie erreichte den Bach, und die kleine, aus Ebenholz gezimmerte Bank, die Minda für sie gemacht hatte.

Minda!

Ihre Gedanken wanderten zurück in eine Zeit, als sie noch glücklich war.

Eine Zeit, in der sie jung und schön war, in der die Liebe zu Minda ihr so stark und unveränderlich erschien, wie der stetige Lauf von Raum und Zeit.

Aber sie lernte, das nichts auf der Welt ewig ist!

Minda wollte gehen, ihren eigenen Weg finden, und verließ deshalb den Konvent,...  und sie.

Sie sah sie nie wieder, hatte aber oft an sie gedacht.

Sie sah sie vor sich, wie sie war, als sie ging.

Ihre langen blonden Haare, die sich rhythmisch im Wind wiegten, ihre strahlend blauen Augen, deren Glanz sie so sehr an das Meer ihrer Heimat Cornwall erinnerte.

Und ihre Hände!

Ihre zärtlichen und so segensreichen Hände!

Wie oft hatte sie diese Hände gespürt, wie sie über ihren Rücken fuhren, sanft die Energie der Göttin in ihr weckten, die sie für ein Ritual brauchten.

„Minda, ich vermisse dich“, entfuhr es ihr plötzlich.

Sie ging zum Bach, und nahm den kleinen Kupferkessel und die Schöpfkelle aus ihrem Rucksack. Dieser Kupferkessel war ein Geschenk Mindas, als sie ein Jahr und ein Tag im Konvent die Kunst der Magie gelernt hatte, und das wertvollste, was sie besaß!

Das Wasser war klar und kühl, und löschte ihren Durst.

„Hallo Kira“, hörte sie plötzlich eine Stimme hinter sich.

Sie drehte sich um.

Sie sah nichts, so weit sie auch versuchte zu blicken!

„Hier oben, Schwester“.

Ihre Augen wanderten in den Himmel.

Sie sah die Gestalt einer Frau in den Wolken, die sie anlächelte.

„Woher kennst du mich“, fragte sie die Gestalt?

„Wir sind beide Töchter der Göttin, und ich bin gekommen, dir etwas zu sagen“.

„Und was?“

„Das du, wenn du den Gipfel und den Heiligen Hain erreicht hast, eine Schülerin bekommen wirst, der du alles was du weißt, beibringen sollst!“

Die Stimme aus der Wolke war so, als ob sie es gewohnt war, über andere zu bestimmen!

Eine neue Schülerin?

Sie hatte schon lange keine Schülerin mehr gehabt!

Seit Minda sie verlassen hatte, konnte sie nicht mehr andere Frauen unterrichten. Es war, als ob mit dem Weggang Mindas auch ihre Fähigkeit zu lehren verschwunden war. Sie konnte nur noch den Konvent leiten, konnte sich um all die Dinge sorgen, die für das Wohlwollen aller Frauen notwendig war.

Und nun sollte sie eine neue Schülerin bekommen!

„Ich kann nicht! Hörst du, ich kann nicht! Ich bin zu alt und zu verbraucht, ich werde bald sterben!“

„Kira“, erwiderte die Stimme etwas ungeduldig, „ Sie hat dich erwählt! Meinst du, sie wüsste über dich nicht besser Bescheid als du?“

Was konnte sie darauf noch erwidern!

„Kira, nimm Mindas Kelch und fülle ihn mit Wasser aus dem Bach, und sehe, was die Göttin dir zeigt! Du weißt ja, was du dazu tun musst!“

Sie nickte.

Ihre Hand nahm den Kelch, und ihre Schritte lenkte sie zum Wasser des Baches. Sie kniete sich nieder und schöpfte etwas Wasser hinein.

Sie zog den heiligen Schutzkreis um sich herum, und versetzte sich in Trance.

Bilder erschienen vor ihren Augen, als sie in das klare Nass des Baches in Mindas Kelch blickte.

Bilder der Vergangenheit, Bilder die Erinnerungen erweckten, die sie längst vergraben hatte!

Bilder von ihr und....Minda!

Bilder einer Zeit, als sie sich nah waren, einer Zeit der Liebe und der Lust. Eine Zeit, in der sie sich mit ihr eins fühlte!

Sie merkte, wie sich Augen mit Tränen füllten.

Ihr fehlte Minda!

Ihr Lächeln am Morgen, wenn sie aufwachte. Die Art, wie sie ihre langen blonden Haare kämmte, und wie sie bei einem Streit süffisant die Augenbraue hochzog, wenn ihr etwas nicht gefiel.

Plötzlich verschwand das Bild, und eine andere Frau erschien im Wasser. Sie sah genauso aus

wie Minda, nur viel jünger.

„Das ist Garina, Mindas Tochter“, hörte sie eine Stimme von einem weit entfernten Ort .

„ Ihre Mutter ist vor kurzem gestorben, und bis zu ihrem Tod hatte sie immer an dich gedacht, und sie wollte, das du dich ihrer annimmst!“

Minda tot?

Die Frau, die sie über alles liebte, war tot?

Ihre Augen füllten sich.

Sie weinte.

„Du brauchst nicht traurig sein, Tochter“, hörte sie die Stimme sagen. „Sie starb ohne Schmerzen und glücklich, denn sie hatte geliebt! Sie liebte ihre Tochter, und....sie liebte dich, meine Tochter!“

„Aber ich kann nicht lehren“, erwiderte sie!

„Sie wollte, das Du und niemand anderes ihre Ausbildung beendet, denn nur dir konnte sie ihre Tochter anvertrauen!“

„Ich habe lange nicht mehr unterrichtet“, warf sie ein.

Sie wusste, wie sehr es sie schmerzen würde, in die Augen der Frau zu blicken, deren Gestalt, deren Augen, ja alles an ihr, sie an Minda erinnern würde!

Nein, sie konnte es nicht!

Plötzlich spürte sie, wie ein sanfter Hauch sie umwehte, sie einhüllte.

Sie spürte die sanfte Berührung eines Kusses, aber niemand war zu sehen.

„Du kannst es,  Kira“, hörte sie eine vertraute Stimme sagen.

Sie drehte sich um.

Eine Frau stand dort. Eine Frau, deren Gesicht sie eben noch im inneren eines kleinen Kupferkelches sah.

Minda!

„Ja Schwester, ich bin es und doch wieder nicht! Was Du siehst, ist meine Aura, die ich aktiviert habe, damit du mich so siehst, wie du mich gekannt hattest, als ich noch lebte!“

„Warum bist du nie zurück gekommen? Warum kann ich dich erst jetzt, wo du gestorben bist sehn? Weißt du den nicht, wie sehr ich dich....?“

Sie war wütend.

Sie hatte sie all die Jahre über geliebt!

Und auch jetzt, obwohl sie wusste, das Minda tot war, fühlte sie ihre Liebe erneut in ihrem Herzen aufsteigen.

„Ja, ich wusste, das du mich liebtest“, begann Minda. „Ich liebte dich ja auch, und auch jetzt liebe ich dich! Aber ich musste gehen!“

„Warum?“

„Weil ich dich liebte, weil ich ein Kind wollte, und es mit dir aufziehen wollte. Und dazu hätte ich mit einem Mann zusammensein müssen! Ich hätte dich betrogen, dich verletzt, und das wollte ich dir nicht antun!“

„Warum hattest du nicht mit mir geredet? Ich hätte es doch verstanden!“

„Hättest du es wirklich, Kira?“

„Ja, weil ich will, das du glücklich bist!“

„Hättest du auch mit mir meine Tochter aufgezogen, wärst in der Nacht aufgestanden, um sie zu füttern , zu wickeln oder in den Schlaf zu wiegen? Du, die doch so schwer aus dem Bett kommt?“

Sie wusste, das Minda recht hatte!

Sie wusste, das sie immer daran gedacht hätte, das Minda sie betrogen hätte, ausgerechnet mit einem Mann! Und sie wusste auch, dass das immer zwischen ihnen damals gestanden hätte!

Und heute?

Hätte sie heute genauso wie früher gehandelt?

Sie wusste es nicht, wollte es auch nicht wissen!

Sie hatte Angst vor der Antwort. Angst, das sie immer noch so dachte, wie vor vielen Jahren.

Ihre Augen wanderten zu Minda, ihrer verstorbenen Geliebten.

Ja, sie liebte sie noch immer!

Mindas Tod konnte an dieser Liebe nichts ändern, Und auch ihre Tochter änderte nichts an ihren Gefühlen.

„Kira, ich weiß, das du mich liebst. Ich spüre diese Liebe, und auch ich liebe dich immer noch! Und nun braucht meine Tochter Garina deine Liebe, deinen Schutz und dein Wissen, und ich bitte dich, sie ihr zu geben, um unserer Liebe willen!“

Minda hatte eindringlich zu ihr gesprochen. So voller Liebe und Verbundenheit, das sie nicht anders konnte, als wortlos zu nicken.

Sie hatte sie gebeten, als Priesterin und Geliebte gebeten, und sie konnte sich dem nicht entziehen.

„Ja Minda, ich werde es tun. Ich werde deine Tochter so lieben, als wäre sie meine eigene Tochter! Ich werde sie lehren, den Weg der Göttin zu gehen, so wie ich es dich lehrte, und ich werde sie so beschützen, als wäre sie mein Kind!

Ich tue es um unserer Liebe willen, und weil ich glaube, dass ich damals ungerecht zu dir war, als du gegangen warst!“

„Geliebte Kira, aber du warst nicht ungerecht! Du warst so, wie du warst! Und ich bin gegangen, nicht du!“

Mindas Augen füllten sich mit Tränen.

„Wein doch nicht Liebste“, sagte Kira, und wollte auf sie zugehen, um sie zu umarmen, als ihr einfiel, das Minda nur als Geist, als Atem des Windes ihr erschienen war.

„Ich weine um unsere Liebe, und um unser Glück! Ich weine um die Jahre, die wir nicht beieinander waren, weil ich zu stolz war, zu dir und den anderen Frauen zurückzukommen, weil ich glaubte, ihr würdet mich verstoßen haben, wenn ich mit meiner Tochter gekommen wäre!“

Kira fühlte sich traurig und hilflos, und begann ebenfalls zu weinen.

„Und warum weinst du, Geliebte“, fragte Minda?

„Ich weine auch um unsere Liebe und die Zeit die wir verloren hatten! Meine Tränen drücken nur unzureichend das aus, was ich fühle. Wie musst du gelitten haben, und wie wenig habe ich dich ermutigt, wie intolerant und in meiner kleinen Welt gefangen war ich doch, das ich nicht sah, wie sehr du gelitten hattest, und wie sehr du dir ein Kind wünschtest! Ich glaube, ich war damals keine gute Hohepriesterin, kein gutes Vorbild für euch alle!“

„Schwester“, erwiderte Minda, „Wir haben beide Fehler gemacht, aber lange nicht verstanden, warum! Und nun, da wir es wissen, können wir beide das Band unserer Liebe erneuern, wenn du willst?!“

„Wenn ich will? Aber das weißt du doch, Liebste!“

Sie hob ihren Rucksack auf, und holte eine kleine Flasche hervor, öffnete sie, und bildete mit dem Inhalt, einer milchigen Flüssigkeit, einen Kreis.

„Komm hinein Schwester“, begann sie „Und empfange die fünf heiligen Küsse der Gemeinschaft und der Freundschaft, der Liebe zueinander und zur Göttin, und der Liebe zu allen Frauen, die unseren Weg kreuzen. Rufe mit mir die Göttin an, Geliebte, und lass uns vereinigen.......“

 

Einige Stunden später machte sich Kira auf den Weg zum Heiligen Hain.

Sie hatte sich mit Minda vereinigt, und ihre Liebe zueinander erneuert.

Wenn wir beide wiedergeboren werden, werden unsere Seelen einander erkennen, und wir werden uns finden! Ja, wir werden uns finden!

Sie war fröhlich, und ihre Schritte hatten den Elan junger Jahre.

Mit schnellen Schritten gelangte sie vor dem geheimen Tor, der zum Hain führte.

Die Dichte der Büsche schützen den Hain vor den Blicken der Menschen, die nichts weiter als einige Bäume sahen. Und der Nebel tat sein übriges, um alles zu verbergen, was niemand ungebetenes sehen durfte.

Sie hob ihre Hände, und sagte: „ Diana, Göttin des Waldes und der Tiere, öffne das Tor, ich trete ein mit vollkommener Liebe und vollkommenem Vertrauen!“

Wie oft hatte sie dies Worte gesagt ?

Wie oft ging sie durch das geöffnete Tor, ohne je darüber nachzudenken, ob sie es auch fühlte, was sie sagte.

Aber sie spürte auch, das es heute anders war!

Diesmal fühlte sie die Liebe zur Göttin, und wusste, das ihr nicht geschehen würde!

Das Tor öffnete sich wie von Geisterhand, und der Nebel verschwand.

Ihre Schritte führten sie direkt zu dem Ort, an der Minda und sie immer waren.

Die Sehnsucht nach dem Vertrauten trieb sie, und sie ging schneller, so schnell, bis ihr Schritte zu einem Stakkato anstiegen.

Sie hörte, wie eine Frau mit heller Sopranstimme eine alte Weise sang.

Sie kam näher, und schob die Zweige eines alten Lindenbaumes beiseite, um besser sehen zu können.

Die Frau war jung, und ihre langen blonden Haare hingen gebunden bis zu ihrer Schulter herunter. Sie hatte blaue Augen, und lächelte.

Ihr langes hellblaues  Gewand ging zu den Knöcheln ihrer Füße, an denen ein kleines Fußkettchen baumelte.

Sie sah sie gerne an, erinnerte ihre Gestalt und ihr Gesang sie doch sehr an  Minda, ihre Mutter.

Plötzlich hielt sie mit ihrem Gesang inne, und sah zu ihr hinüber.

Kiras Herz blieb stehen, und sie fühlte sich plötzlich wie ein Eindringling in Garinas Welt.

„Ama Kira?“, hörte sie, die melodische Stimme Garinas fragen.

„Ama“, Mutter, hatte sie zu ihr gesagt!

„ Ja, ich bin es, Tochter“, erwiderte sie mit einem Lächeln.

Sie blickte Garina an, deren Hände sich ihr entgegenstreckten, um sie zu begrüßen.

Sie war das getreue Ebenbild ihrer Mutter, nur das sie um Jahre jünger und am Leben war.

Sie hatte die langen blonden Haare ihrer Mutter zu einem Pferdeschwanz gebunden, der durch ein breites rotes Band gehalten wurde. Ihre graublauen Augen hatten den selben Glanz wie der ihrer Mutter, und die hohen Wangenknochen waren ein reizvoller Kontrast zu ihren dünnen ungeschminkten Lippen.

Sie war in einer weiten Toga gehüllt, das ein geflochtenes rotes Seil zusammenhielt.

Sie war barfuss, und ihre kleinen Füße bewegten sich mit schnellen Schritten auf sie zu, um sie zu umarmen.

„Mutter hat mir viel von dir erzählt“, sagte sie.

Sie umarmten sich, und Kira spürte den warmen Duft Garinas Haut. Plötzlich kamen Erinnerungen an Minda hoch, an ihre Liebe und die Trennung.

Sie weinte.

„Warum weinst du“, fragte Garina?

„Ich dachte an deine Mutter, und an unsere Liebe, und wie sehr ich diese Liebe verraten hatte“.

„Sie liebte dich, und wollte mich! Und sie wollte immer zu dir zurück, aber sie hatte immer Angst davor, weil sie dachte, das du sie zurückweisen würdest“.

„Aber ich hätte sie doch in den Konvent und in unsere Beziehung wieder aufgenommen, wäre sie nur gekommen!“

„Das wusste sie nicht“, erwiderte Garina.

„Weil ich ihr nie das Gefühl gegeben hatte, wie sehr ich sie liebte. Weißt du, unsere Seelen haben sich vor wenigen Augenblicken vereint, so wie unsere Körper. Und sie bat mich, deine Lehrerin, deine Mutter und deine Schwester zu sein. Willst du es auch, Tochter?“

„ Auch mir war meine Mutter letzte Nacht erschienen“, begann sie.

„Sie erzählte mir von ihrer Liebe zu Frauen, von denen ich nichts wusste, davon, wie sehr sie dich geliebt und bewundert hatte, und dann bat sie mich, hierhin zu kommen, und auf dich zu warten. Meinst du, ich hätte auf dich gewartet, wenn ich es nicht auch wollte?!“

Kira legte ihre rechte Hand auf Garinas Kopf und sagte:“ Im Namen der Göttin, von diesem Tage an bin ich deine zweite Mutter, deine Freundin und deine Lehrerin, so wie du meine Tochter, meine Freundin und meine Lehrerin sein wirst!“

Sie küsste sie, und beide umarmten sich.

„Lass uns der Göttin unsere Referenz erweisen, und ihr danken, das sie uns zusammen geführt hat!“

„Ja, Ama Kira, lass uns ihr danken!“

Gemeinsam zogen sie den heiligen Kreis und gemeinsam dankten sie der Göttin.

Kira spürte seit langer Zeit wieder das, was sie verloren hatte: Vollkommene Liebe, und vollkommenes Vertrauen! 

 

ENDE

 

 

Alle Rechte bleiben der Autorin Gerlinde Kenkel (kenkel 2000  2000   Ä t  yahoo   Punkt  d  E) vorbehalten
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