Melissa Gold (rechts), in ihrer Hand die Flagge Kanadas,
ihre Einbürgerungsurkunde und ihre Ausgabe von Hesiod und Homer.



Melissa sprach mit “Pagan+politics” des Pagan Newswire Collective über ihre Tat und was es ihr bedeutete:  

PNC: Melissa, zuerst einmal gratulieren wir Dir zu deiner neuen Staatsbürgerschaft. Ich weiß, wie aufregend das für dich und deine Familie war. Aber was macht ein nettes amerikanisches Mädchen wie du in Kanada? 

Melissa: Stimmt, ich bin ein Canuk*! Ich habe eine Anstecknadel mit unserer Flagge und ein Papierfähnchen und einen Staatsbürgerausweis bekommen, zusammen mit einem Begrüßungsschreiben von unserem Premierminister.

Ich komme aus North Carolina und bin 1972 nach meinem Abschluss an der UNC Chapel Hill nach Kanada übergesiedelt. Das war zwar die Zeit, als viele der Einberufung für Vietnam entflohen, aber ich kam wegen eines jungen Kanadiers hierher, den ich während eines Austauschprogramms zwischen meiner Schule und der University of Toronto kennengelernt hatte. Wir haben noch im gleichen Jahr geheiratet.   

Ich lebe jetzt schon 38 Jahre in Kanada, quasi mein ganzes Leben als Erwachsene, daher fühlt es sich hier mehr wie “zuhause” an als dort, wo ich geboren wurde. Außerdem ist mir die kanadische Gesellschaft wesentlich näher als die amerikanische: Kanada ist liberaler und hält mehr von Sozialsystemen. Ich bin mir sicher, ein Leben in den USA könnte ich mir nicht mehr leisten. Kanada hat nicht diese Uneinigkeit schaffenden Parteilichkeiten und auch nicht diese religiösen Extreme wie in den USA.  Kanada war eines der ersten Länder, das die gleichgeschlechtliche Ehe zuließ und eine Kultur der Vielfältigkeit unterhält – sicher nicht perfekt, aber weitaus allumfassender und akzeptierender als die USA oder Europa. Ich habe bereits beschlossen, dass ich meinen Abgeordneten bei den nächsten Wahlen unterstützen werde. Damit kann ich sicherstellen, dass die fortschrittliche Strategie in Sachen Umwelt und Soziales fortgeschrieben und weiterentwickelt wird. Jetzt kann ich mich ganz und gar in jedem Bereich meines Landes einbringen, in dem ich lebe. 

PNC: OK.  Dann lass uns jetzt über Religion reden. Du bist Mitglied von Hellenion, einer anerkannten Kirche von hellenischen Heiden, die Rekonstruktionismus als ein Werkzeug benutzen, um die vor-christlichen religiösen Bräuche des antiken Griechenlands wiederzubeleben. Wie lange bist du schon Heide und wie bist du auf Hellenismus gekommen? 

Melissa: Ich bin seit fast acht Jahren in der Hellenischen Bewegung. Als ich noch in der Schule war, waren Latein und Griechisch meine Lieblingsfächer. Mein Vater aber bestärkte mich darin, an der Uni „etwas vernünftiges“ zu lernen. Ich habe daher Biologie studiert. Als dann aber vor zehn Jahren mein Lehrauftrag für Erlebnispädagogik endete, ging ich wieder zurück an die Uni um Griechisch zu lernen. Ich hatte in jungen Jahren damit aufhören müssen. Ich habe mich dann mit vielen Aspekten der Antike beschäftigt, aber am meisten interessierten mich Philosophie und Religion. Als mein griechischer Friseur mir sagte, es gäbe tatsächlich Leute in Griechenland, die die Götter verehrten, fiel ich fast vom Stuhl vor Aufregung! Ich hatte keine Vorstellung, dass es so etwas geben könnte. Sobald ich nach Hause kam, hab ich mich an den PC gesetzt und YSEE und Hellenion gefunden und mich sofort bei Hellenion angemeldet. Das war im Jahr 2003. Ich hatte ein Zuhause für meine Spiritualität gesucht und wusste, jetzt habe ich es gefunden, obwohl noch viel Arbeit vor mir lag. Hellenismus ist meine einzige Beteiligung an heidnischen Gemeinschaften. 

PNC:
Was halten deine Familie und deine engen Freunde von deiner Religion? 

Melissa: Meine engsten Freunde habe ich in meiner Religion, in meinem hellenischen Proto-Demos. Ich habe mich von den Freunden in meiner ehemaligen Religion, dem Judentum, über die Jahre entfernt und nicht mit ihnen darüber gesprochen. Da meine hellenische Gruppe in letzter Zeit des Öfteren in den Medien zu finden ist, werden sicherlich einige meiner früheren Freunde das mitbekommen und sich vielleicht von mir ganz trennen. Ich hingegen würde niemanden verneinen. Meine direkte Familie weiß um meine neuen spirituellen Aktivitäten und kennt meine Gruppe; es hilft sicherlich, dass meine Familie nicht besonders „religiös“ ist.  Als die Älteste in meiner Familie brauche ich auch keine Anerkennung: ich gebe Anerkennung. Wie gesagt, da Kanada so offen und tolerant ist, mache ich mir keine Sorgen darüber, wie die allgemeine Gesellschaft reagieren könnte. 

PNC: Ich muss dir einfach sagen, euer Proto-Demos und das, was ihr da schon getan habt, das beeindruckt mich sehr. Eure Rituale sind wunderschön und ziehen viele Zuschauer an. Die Feiern zu den Sonnenwenden waren beide wundervoll. Das Ritual in Ehren von Ares und den Helden war früher einmal ein fester Bestandteil unserer Religion, aber viele moderne Hellenisten nehmen es nur langsam wieder an. Deine Religion ist offensichtlich ein wichtiger Bestandteil deines Lebens und es ist spannend, wie du das in die Einbürgerungsfeier hast einbringen können. Wie kam es denn zu der Möglichkeit, dass du dir ein heiliges Buch für deinen Eid hast aussuchen können?  

Melissa: Nun ja, Kanada hat seine Einbürgerungsfeier so umgeschrieben, dass sie für die riesige Menge an verschiedenen Kulturen passt, aus der seine Neubürger kommen. Wir schwören dabei auch keinen Eid sondern bestätigen ihn – eine Wortwahl, die es vielen Leuten leichter macht. Wir haben auch die Möglichkeit, dazu ein heiliges Buch unserer Wahl zu verwenden oder gar keins.  Meine Anwärtergruppe bestand aus 58 Menschen aus 26 Ländern. Wir standen als Gruppe vor dem Einbürgerungsrichter, hoben unsere rechte Hand und wiederholten den Eid. Keiner hat sich dafür interessiert, ob wir in der anderen ein Buch halten oder nicht. Die meisten Leute hatten übrigens gar nichts mitgebracht. 

PNC: OK. Bestätigen, das merk ich mir. Kannst du uns sonst noch etwas über die Zeremonie erzählen und was es für dich bedeutet hat, diese Bestätigung zu geben und gleichzeitig deine Religion zu ehren? 

Melissa: Ich habe ja den Moment des Bestätigens eben schon erklärt, aber ich könnte noch hinzufügen, dass die gesamte Zeremonie noch förmliche und rechtliche Inhalte Verfahren beinhaltete, sowie eine herzliche Begrüßung durch die anwesenden Beamte. Viel Zeit geht dafür hin, dass wir bestätigen, wirklich die zu sein die wir sind, aber der Richter war sehr freundlich und begrüßte jeden von uns einzeln beim Erhalt unserer Einbürgerungsurkunden. Im Hintergrund spielte sanfte Musik und mischte sich mit Tönen aus der kanadischen Natur. Der Richter begrüßte uns als Mitglieder der “Familie Kanadas”, was sich so gefühlt auch durch das ganze Verfahren zog. Ich hatte Glück, dass ich mich nicht trotzig verhalten musste, um meine spirituelle Ausrichtung zu ehren, obwohl ich darauf vorbereitet war. Dass ich es nicht tun musste ist typisch für Kanada und auch ein Grund, warum ich hier leben möchte.  

PNC: Das bringt uns zu etwas, was in dem größeren Umfeld religiöser Gemeinschaft durchaus nicht unstrittig ist, nämlich der Vorstellung, das Heiden ein heiliges Buch haben könnten und warum wir darauf einen Eid schwören oder bestätigen würden. Welches Buch hast du denn gewählt und warum? 

Melissa: Ich wollte damit zeigen, dass hellenische Texte ein logischer Bestandteil einer Einbürgerungszeremonie sein können, statt des traditionell in der Antike verwendeten Berührens eines Altars des Zeus, um einen Eid zu schwören. Ich hatte dazu eine Ausgabe von  Loeb dabei mit Werken von Hesiod, der Theogonie und die Werke und Tage, sowie die Hymnen Homers. Diese Texte stellen einige der frühesten Aufzeichnungen über hellenische spirituelle Praxis und Mythologie dar, und bilden zusammen mit den epischen Gedichten die Grundlage dessen, was in der Antike ausgeübt wurde. Heute schenken sie uns Inspiration und weisen die Richtung. 

PNC: Hast du lange gebraucht, ein Buch auszuwählen, im Bewusstsein, dass du ein Vorbild oder ein Präzedenzfall für Hellenisten sein könntest? 

Melissa: Ja und nein. Mir war natürlich bewusst, dass manche Menschen meine spezielle Auswahl als Präzedenzfall sehen könnten, aber ich würde es jedem in einer ähnlichen Situation anraten, das zu nehmen, was ihm oder ihr wichtig oder bedeutsam ist. Wenn es jemandem hilft, dass die Werke von Hesiod und die Hymnen des Homer als Präzedenzfall bekannt sind, dann ist das schön; aber Polytheismus ist umfassend und daher ist jede andere Wahl genauso gut. Es gibt nicht nur eine richtige Wahl, wie in den monotheistischen Gruppen.

PNC: Jetzt bin ich neugierig: wie haben die Beamten auf deine Buchwahl reagiert?

Melissa: Die Beamten haben weder gefragt noch versucht, festzustellen, wer von uns was mitgebracht hat zu der Feier, und ob überhaupt. Irgendwie war das fast zu leicht. Auf der anderen Seite ist das typisch für dem Umgang mit den vielfältigen religiösen Praktiken in diesem Land; keiner muss sich wegen seiner Wahl ausgeschlossen oder unangenehm berührt fühlen. Das ist ein weiterer Grund warum ich meine Wahlheimat Kanada liebe. 

PNC: OK, ja, das war einfach.  Kanadier sind dafür bekannt, wie die Leute aus Minnesota auch, dass sie nett sind. Ich glaube dieses Interview wird viele amerikanische Heiden jetzt wünschen lassen, sie könnten wie du die Grenze überqueren. Das ist wahrscheinlich das erste Mal gewesen, dass in Nordamerika ein Heide einen Bürgereid auf ein heidnisches Buch abgelegt hat – kannst du mir sagen, wie du darüber denkst?

Melissa: Ich kann mir nicht vorstellen, dass es so viele Fälle gibt, in denen Heiden einen Treueid auf ihr Land ablegen, vor allem nicht in den USA. In Kanada ist es wie gesagt kein Thema. Ich weiß nicht, wie das Verfahren in den USA ist, aber wenn es jemanden hilft zu wissen, dass zumindest eine Person sicherlich schon einmal den Bürgereid geschworen hat und dabei ein Buch mit hellenischen Texten in den Händen hatte, dann bin ich gerne die erste gewesen! Die ganze Feier war einfach wunderbar und wird mir immer in ganz besonderer Erinnerung bleiben.   

PNC:
Melissa, noch mal vielen Dank, dass du dir die Zeit genommen hast, mit mir zu reden. Und noch mal herzlichen Glückwunsch zu deiner kanadischen Staatsbürgerschaft. 

PNC kontaktierte Hellenion, die Religionsgemeinschaft der Melissa angehört, um deren Reaktion auf Mellisa’s Treueid, den sie auf hellenischen Texten bestätigte, zu erhalten. Hier ist deren Aussage:



“Hellenion freut sich sehr für Melissa Gold, die vor kurzem ihre kanadische Einbürgerungszeremonie mit einer Ausgabe von Hesiod und Homer’s Hymnen in den Händen feierte. Wir gedenken dieses Moments mit ihr, an dem sie uneingeschränkt  an der Demokratie ihres Landes teilnehmen konnte und gleichzeitig ihren hellenischen Prinzipien treu blieb. Es sind diese Momente, die uns immer wieder daran erinnern, wie wertvoll die Rechte rund um Religionsfreiheit und Toleranz doch sind. Wir rechnen es der Regierung Kanadas hoch an, dass sie diesen Prinzipien nachhaltig verpflichtet ist. Wir hoffen, dass noch mehr Staaten Gesetze erlassen werden, die all ihren Bürgern religiöse Freiheit zugestehen. Unsere besten Wünsche für Melissa und ihre Familie.“



Addendum:
YSEE, der OBERSTE RAT DER ETHNISCHEN HELLENEN, möchte Frau Gold auch gratulieren. YSEE ist ein Dachverband für ethnisch hellenisch religiöse Gruppierungen in Griechenland. Sein Ziel ist die Verteidigung und Wiederherstellung der heidnischen, polytheistischen hellenischen Tradition, Religion und Lebensweise in der gegenwärtigen griechischen Gesellschaft.



"YSEE gratuliert Melissa Gold anlässlich ihres Eids als kanadische Bürgerin im Namen der hellenischen Götter. Dies ist ein ausgezeichneter Beleg für unsere bekannte These, dass Hellenismus eine Frage von Herz und Geist ist und das die ethnisch hellenische Religion die Religion aller humanistischen und logischen Männer und Frauen auf Erden ist; die Religion derer, die die Schönheit sowohl des Universums als auch der menschlichen Natur kennen. "



Robert Clark, Moderator von „Hellenic Recons“ und bekannt als einer der führenden Vertreter eines eher traditionell geprägten hellenischen Heidentums, bemerkt dazu, dass das Leisten eines Eids in der antiken Welt sehr ernst genommen wurde und Melissa in dieser Tradition steht.



" Wir gratulieren Melissa für diesen Eid auf die Theogonie des Hesiod und die Hymnen des Homer und dafür, dass sie den Weg mit richtigen Taten, Überzeugung und ihrem Glauben angeführt hat! Mögen deine Wege gesegnet sein und mögen die Götter wohlwollend über dich wachen und dich mit gutem Glück umgeben. "



*Canuk: umgangssprachlicher Ausdruck in den USA für Kanadier

Sternenkreis bedankt sich bei Cara Schulz vom PNC für die Erlaubnis zur Übersetzung und Veröffentlichung auf Sternenkreis.de inklusive der Bilder.

Ein großes Dankeschön geht auch an Serpentia für die Übersetzung!






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